Disclaimer: Tolkiens Werke gehören ihm bzw. seinen Erben. Charaktere etc. sind nur geliehen.

1. Kapitel

„Es kommen neue Langhaare an." Ein mächtiger Schatten fiel über den Zeichentisch. „Enuidil selber hat sich auf den Weg in den Hafen gemacht."

Nur die letzten Worte reichten aus, damit die Hand, die zuvor zauberhaft verschlungene Muster auf die Vorlage gezeichnet hatte, einen Moment in ihrer Tätigkeit stockte. Dem Boten war das kurze Verharren nicht entgangen und er stützte sich mit seinen großen, kräftigen Fäuste achtlos auf das großteils noch blütenweiße, sorgfältig geschöpfte Papier.

 „Er und eine ganze Horde seiner langhaarigen  Tunichtgute marschieren gerade wie die Könige den Langen Weg hinunter. Rausgeputzt wie unsere Kinder bei der ersten Traumwanderung."

„Du ruinierst das Papier." Mit einem Seufzer legte die Zeichnerin den feinen Pinsel in seine Schale und stand auf, um an eines der bogenförmigen Fenster zu treten, von wo aus sie einen Ausblick auf den seewärtigen Teil Arengards, der einzigen wirklichen Stadt Arenors hatte – wenn man die seltsamen Ansammlungen der Elben im Binnenland nicht mitzählte. Etwas, das ein Arenai sowieso nie tun würde.

Ihre Augen suchten und fanden sehr schnell das dünne Band des Langen Weges, der an Arengard vorbei aus den ersten Hügeln des Binnenlandes kam und in einem Bogen vorbei an allen Gebäuden der Arenai zur weiß leuchtenden Hafenanlage führte. Wie Boyar berichtet hatte, bewegte sich eine Gruppe Elben mit der ihnen angeborenen Feierlichkeit Richtung Kai. An ihrer Spitze war deutlich die hochgewachsene Gestalt Enuidils zu erkennen. Keiner der Elben war bewaffnet, das waren sie eigentlich selten, während ein Arenai niemals ohne sein Schwert oder seinen Bogen, am besten jedoch mit beiden gerüstet aus dem Haus ging. Aylas Blick wanderte auf die offene See hinaus, die zwischen den Welten vermittelte. Es zog Nebel auf, immer ein sicheres Zeichen dafür, dass ein Schiff aus Mittelerde nahte.

„Dann kommen also wichtige Gäste an", murmelte sie mehr zu sich selbst. „In letzter Zeit mehren sie sich. Es scheint wieder einen großen Krieg in Mittelerde zu geben. Es beunruhigt mich, dass die Valar so viele von ihnen zu uns nach Arenor schicken."

„Enuidil wird noch unruhiger sein", spottete Boyar mitleidlos. „Schade, dass noch niemand von uns dabei war, wenn er ihnen erklärt, dass das hier nicht Valinor ist und die Valar sie betrogen haben."

Ayla fuhr herum und zischte leise. „Die Valar haben sie nicht betrogen und das weißt du ganz genau. Sie haben sie sogar ausgezeichnet, aber wir haben uns zwischen ihre Bestimmung und Valinor gestellt. Ein Wunder, dass wir noch nicht unsere Strafe dafür erhalten haben."

Boyar war von solchen Überlegungen noch nie sehr beeindruckt gewesen. Auch diesmal machte er eine sorglose Geste. „Du grämst dich einfach zu sehr, Ayla. Die Beobachter sagen, dass auch dies zu unser aller Bestimmung gehört."

Ayla beruhigte sich wieder. Natürlich glaubte sie den Beobachtern, aber es betrübte sie seit Jahrtausenden, das Geheimnis um Arenor vor den Elben hüten zu müssen. Sie fragte sich, was wohl geschah, wenn sie es Enuidil eines Tages würde anvertrauen müssen. Auch wenn sie nur selten Kontakt miteinander hatten, so blieb es in all der langen Zeit nicht aus, dass man einander kannte. Sie schätzte den Elbenherrscher, auch wenn ihr seine Art zu leben, zu denken und zu fühlen wohl für immer fremd bleiben würde.

„Und?" Boyar wedelte ungeduldig mit ihrem Mantel und dem Schwertgürtel. „Wir gehen doch zum Hafen, oder?"

Mit einem letzten bedauernden Blick auf ihre Zeichnung nahm sie ihm den Schwertgürtel ab, schnallte dieses prachtvolle Erzeugnis arenorischer Handwerkskunst um und ließ sich von Boyar in den fast knöchellangen Wildledermantel aus dunkelbraunem Petai-Leder helfen. Erst als ihr Vertrauter den mit Schwingen verzierten Silberhelm von einem der Wandtische nahm, winkte sie ab. „Wir gehen nur als Beobachter, Boyar, dies ist keine offizielle Begrüßung. Enuidil wird ohnehin nicht beglückt sein, uns beide dort zu sehen."

„Ist er das jemals?"

„Deswegen bin ich ja auch so selten am Hafen, wenn eines der Elbenschiffe anlegt." Sie runzelte die Stirn. „Das letzte Mal ist bereits zweihundert Jahre her. Damals legte ein Schiff mit  Waldelben an."

„Gute Jäger", bekannte Boyar, der normalerweise nie auch nur ein gutes Haar an irgendetwas Elbischem ließ. „Vor kurzem traf ich einen von ihnen bei der Petai-Jagd im Flusswald. Wir wechselten zwar kein Wort, aber die Jagd mit ihm zusammen war recht erfolgreich."

Ayla sah ihn neugierig an. „Wer war der Elb, der vor deinen Augen Gnade gefunden hat?"

„Keine Ahnung, ich sagte doch, wir redeten nicht."

Das war wohl das Problem zwischen Elben und Arenai ganz allgemein. Ayla verließ ihre Zeichenwerkstatt und stieg die vielen Stufen des Großen Turms hinunter, die von kunstvoll geschmiedeten Laternen erleuchtet waren. Die Zeichenwerkstatt war der zweithöchste Raum, über ihr gab es nur noch die Kammer, in der sie zu den Traumwanderungen aufbrach. Es war lange her, seit sie die letzte Wanderung unternommen hatte und auch jetzt verspürte sie keinen Drang, sich auf die weiche Liege in der Mitte der Kammer sinken zu lassen, sich in den Anblick der Sterne auf dem Baldachin zu verlieren und eine Wanderung in Welten voller Qual und Gefahren zu begeben. Sie gehörte zwar nicht zu den ältesten Arenai, doch gab es nur wenige, die zu so vielen Wanderungen gerufen worden waren und sie auch überlebt hatten. Vielleicht hatten die Valar endlich ein Einsehen und ersparten ihr noch mehr davon.

Sie musste viele Stufen zurücklegen, bis sie auf dem Erdboden inmitten ihrer großen Werkstatt ankam. Hier war Aylas eigentlicher Mittelpunkt. Dieser große hohe Raum, in dem sie die Formen aus dem Winterstein schnitt, wie sonst niemand in Arengard.

Der Turm war der höchste und größte Arengards, denn Ayla bewohnte als Schildmeisterin Arenors das einzige Gebäude der Arenai, das entfernt mit einem kleinen Palast gleichzusetzen war. Es war kein prächtiges Bauwerk sondern einfach ein mächtiges Gebäude mit einigen Nebenbauten aus schmucklosem grauen Stein, das den größten Turm Arengards umgab. Nur fünf Dutzend Arenai lebten und arbeiteten hier, sei es in den Werkstätten sei es in den Schreibstuben, in denen das Leben der Arenais verwaltet wurde. Viel gab es allerdings nicht zu verwalten, denn in den langen Jahrtausenden war jeder Fehler schon einmal gemacht, jedes Ereignis schon einmal erlebt worden. Auch standen viele Räume leer und warteten auf Bewohner, die es hoffentlich nie geben würde.

Sie verließen das Große Haus durch das immer offene Tor der Werkstatt und traten auf die Hauptstraße hinaus, die in direkter Linie von hier zum Hafen führte. Arengard war dicht bevölkert, aber die Häuser standen niemals wirklich eng. Zwischen ihnen war immer genug Platz für einige Bäume oder auch Blumen, die den ansonsten schmucklosen Häusern der Arenai Leben gaben. Jedes Haus verfügte über einen Turm, manche höher, manche nur gerade bis über das Dach reichend, aber immer mit der Kammer im obersten Geschoss, die sie zum Träumen brauchten. In der nahenden Dämmerung konnte man in einigen von ihnen flackernde Laternen hinter den bunten Fenstern erkennen.

Traumwanderer, dachte Ayla, hoffentlich gehen sie einen sicheren Weg.

Ein sicherer Weg, das war die Grußformel der Arenai, die ihr jedes Mal entgegenklang, wenn sie einen der ihren nun traf. Je näher sie jedoch dem Hafen kam, desto seltener ertönten die Worte. Die Arenai hatten den Nebel längst bemerkt und zogen sich bereits zurück. Wer in der Nähe des Hafens wohnte, suchte sein Haus auf. Niemand wollte den Elben begegnen, so war es schon immer gewesen und so würde es hoffentlich auch noch eine lange Zeit bleiben.

Die Hafenanlage war elbisch, daran konnte auch der dümmste Arenai nicht zweifeln. Weißer Stein, geschwungene Formen, verspielt, verzaubert und entsetzlich unpraktisch. Kein Arenai würde die sichtbare Seite eines Gebäudes so gestalten.

Ayla und Boyar suchten den Randweg auf, der von den Arenai errichtet worden war und aus vertrautem grauen Stein bestand. Eine Mauer gab es nicht, nur eine dicke schwarze Kette zwischen niedrigen Steinpfählen. Der einzige Zugang von der Stadt aus war eine Treppe, die auf halbem Weg hinunter zur Anlagestelle von eckigen, aber nützlichen Stufen in die geschwungene weiße Form des Elbenhafens wechselte.

Aus dem Westen näherte sich nun die Prozession der Elben. Es war ein wirklich prächtiges Schauspiel, wie diese hochgewachsenen, kostbar gekleideten Geschöpfe auf den Kai hinausschritten. Auch ohne die Lampen in ihren Händen hätte die ganze Gesellschaft wohl von innen heraus hell genug geleuchtet.

„Männer und Frauen in Kleidern", schnaubte Boyar. „Damit kann man nicht mal zur Jagd gehen."

„Das machen sie auch nicht", tadelte sie ihn sehr leise. Sie hatte nicht vor, Enuidil unnötig zu beleidigen. „In diesem Hafen sind wir die Gäste, Boyar. Vielleicht solltest du dich besser mit deinem elbischen Jägerfreund über die Kleiderfrage unterhalten."

Enuidil wandte den Kopf in ihre Richtung und nickte leicht. Sie erwiderte dieses Nicken, zog sich dann aber vor weiteren Blicken in die Tiefe ihrer hochgeschlagenen Mantelkapuze zurück. Es war mittlerweile dunkel in Arengard, aber der Hafen leuchtete. Ebenso geheimnisvoll glühte der Nebel, der sich bis auf eine Bogenschußweite an die Anlage herangeschoben hatte.

Der Ablauf war immer der gleiche und doch zog er Ayla jedes Mal in seinen Bann. Die Elben stellten sich entlang der unteren Kaimauer auf, Enuidil schritt auf die Pier hinaus bis er ungefähr die Mitte des Weges zurückgelegt hatte. Dann begann der Gesang der Elben, der von einem langen Leben, der Zeit der Ruhe und des Friedens erzählte. Wenn sie verstummten, schien einen Moment die Zeit selber stillzustehen und dann...Ayla atmete tief ein, als sich das große Schwanenschiff aus dem Nebel löste und völlig geräuschlos auf den Anleger zuglitt. Ohne eine helfende Hand legte das Schiff an und über ein breite, vom Schiff kommende Rampe schritt ein einzelner Mann zunächst auf den Anleger. Er ging auf Enuidil zu und grüßte ihn würdevoll.

Die Erkenntnis traf sie nicht wie ein Schlag, sondern sie war einfach da. Dies war nicht nur die übliche Ankunft einer wenn auch recht großen Schar neuer Elben, dies war ein Abschied. Es widerstrebte ihr, doch schließlich siegte ihre Ergebenheit in ihre Bestimmung. Als sie sich in Bewegung setzte, gab Boyar einen überraschten Laut von sich.

„Du bleibst hier", befahl sie knapp und stieg dann mit energischen Bewegungen die Treppe hinunter. Sie hatte den neuen Elbenlord Arenors zu begrüßen und den alten zu verabschieden.

***

So war denn Valinor noch nicht ihre Bestimmung. Ein wenig Bitterkeit trübte seine Gedanken, seit er dies wusste. Er hatte gehofft, nun endlich die Ruhe zu finden, die ihnen seit Beginn des Zeitalters verheißen war. Alte Freunde wiederzutreffen und neuen zu begegnen. Zunächst war es ein Schock gewesen, als sich die Gedanken während der  Reise enthüllten und ihn forttrugen von seinen Begleitern. Ein anderes Schiff war ihm bestimmt, mit einem anderen Ziel und anderen Begleitern. Valinor lag noch nicht vor ihnen, ihr Ziel sollte Arenor sein, eine Insel im Meer zwischen den Welten, bewohnt von Elben, denen die Valar noch eine Bestimmung zugedacht hatte.

Elrond lebte zu lange, um sich davon noch aus der Fassung bringen zu lassen. Wenn ihm die Valar Arenor zudachten, so konnte er auch noch damit leben. Nach allem, was ihm in seinen Gedanken darüber erschienen war, fragte er sich allerdings, was diese Bestimmung sein sollte. Hier gab es nur Elben und Arenai, ein Volk dem ihren sehr ähnlich, das wohl schon immer hier gelebt hatte. Krieg konnte nicht ihre Aufgabe sein, denn offenbar herrschte von Anbeginn der Zeit Frieden auf dieser Insel.

„Elrond, mein Freund", wurde er von Enuidil begrüßt, der schon vor langer Zeit nach Westen aufgebrochen war und dem die Schrecknisse der Dunklen Herrschaft nie nahe gekommen waren. „So habt also auch Ihr den Weg nach Westen eingeschlagen."

„Meine Zeit in Mittelerde ist vorbei", erklärte Elrond ohne Bedauern. „Ein neues Zeitalter beginnt, in das ich nicht mehr gehöre."

„Nun, gleiches gilt hier für mich." Auch Enuidil schien über sein Scheiden keine Trauer zu fühlen. „Ih werdet alles wohlgeordnet finden. Gildanna, Euer neues Heim erwartet Euch bereits. Vielleicht gelingt es Euch besser als mir, in unserem Wirken hier den Willen der Valar zu ergründen." Der alte Herrscher lächelte auf einmal und drehte sich leicht um. „Ich wusste, dass sie die Zeichen erkennen würde."

Elrond richtete seine Aufmerksamkeit auf eine überhaupt nicht feierlich gekleidete Gestalt, die mit entschlossenen Schritten den Anleger betrat. Trotz des langen Mantels, des Schwertes und der hochgezogenen Kapuze konnte er erkennen, dass es sich um eine Frau handelte. Wenn auch um eine, die ihm auf Mittelerde nie begegnet wäre. Sie war groß und bewegte sich wie ein Krieger, der einen Kampf jederzeit erwartete. Ihr Gesicht – soweit er es unter der Kapuze sah – hatte eine herbe Strenge, die durch den ernsten Gesichtsausdruck noch verstärkt wurde.

„Ayla, die Schildmeisterin der Arenai", raunte Enuidil mit seltsamer Zuneigung in der Stimme. „Ich kenne sie sehr lange und weiß so gut wie nichts über sie. Erwartet niemals etwas von ihr und ihrem Volk."

Zwei Schritte vor ihnen blieb sie stehen und schlug die Kapuze zurück. Ihr dunkles Haar war kurz und lockig, ein unglaublich schöner Stirnreif hielt es über den blattförmigen Ohren zurück. Also doch eine Erstgeborene, wenn auch völlig fremd in ihrer Art. „Enuidil."

„Schildmeisterin."

„So verlasst Ihr Arenor also." Sie sprach leise, ohne ein Gefühl in der leicht rauen Stimme.

Enuidil nickte nur.

„Wen nehmt Ihr mit?"

„Die Ältesten, sie haben ihre Zeit erfüllt."

„Wofür immer sie auch gut war", knurrte sie so brüsk, dass Elrond scharf einatmete, was ihn sofort in ihr Interesse rückte. „Und Ihr seid also der neue Elbenlord auf Arenor."

„Elrond", erklärte Enuidil mit einer zuvorkommenden Verbeugung. „Auf Mittelerde geht ein Zeitalter zu Ende. Das Böse wurde besiegt und die Bestimmung der Elben hat sich erfüllt."

„Ah", machte sie mit mäßigem Interesse. Elrond fragte sich langsam, ob es vielleicht seine neue Bestimmung sein würde, den Arenai Benehmen beizubringen. „Ich schätze, Ihr werdet hier alte Bekannte wiedertreffen. Es sind in letzter Zeit mehr als üblich von Eurer Art eingetroffen."

„Von unserer Art.." wiederholte Elrond langsam. „Von Eurer nicht?"

„Das lasst unsere Sorge sein." Sie stemmte die Hände in die Hüften und musterte ihn grimmig. „Es gibt keine Verbindung zwischen Elben und Arenai und so wird es auch bleiben. Das Binnenland mit Gildanna und Ithuris gehören den Elben, wir respektieren das. Die Wälder entlang der Hügel werden von beiden durchstreift, sie gehören niemandem. Das Randland ist Arenai. Es gibt Tausch zwischen uns, mehr nicht. Wir stellen Euch keine Fragen über Euer Leben, Ihr uns nicht über unseres."

„Würdet Ihr mir denn auf Fragen antworten?"

„Das Problem stellt sich nicht", meinte sie mit einem freudlosen Lächeln. „Lebt so wie Ihr es wünscht, niemand wird euch hier stören. Fragt Enuidil, wenn Ihr mir nicht glauben wollt. Die Kriege von Mittelerde gibt es hier nicht. Zwischen Elben und Arenai wurde noch nie die Hand im Zorn erhoben."

„Aber auch nicht in Freundschaft", bemerkte Enuidil mit leisem Bedauern.

Sie hob spöttisch die Brauen. Elrond fiel auf, dass ihre Augen die gleiche graue Farbe hatten wie der Stein, aus dem die gesamte Stadt hinter ihr zu bestehen schien. Hart und wehrhaft, so kam ihm diese Frau vor. Selbst die Menschen Mittelerdes waren umgänglicher gewesen.

Enuidil schien an ihre schroffe Art gewöhnt, denn unbeeindruckt streckte er ihr die Hand entgegen. Einen Moment zögerte sie, doch dann griff sie mit der behandschuhten Rechten zu und diese so unterschiedlichen Wesen tauschten einen kurzen, festen Händedruck.

„Einen sicheren Weg", sagte sie und wandte sich noch einmal Elrond zu. „Einen sicheren Weg auch Euch, Elbenlord." Dann drehte sie sich um und schritt auf ihre energische Art davon.

„Dreitausend Jahre", murmelte Enuidil lächelnd. „So lange hat es gedauert, bis sie mir diesen Händedruck gewährt hat. Nun, während all der Zeit spürte ich immer, dass unser Schicksal mit dem der Arenai verbunden ist. Es ist mir nur nie gelungen, diese Verbindung zur Gänze herauszufinden oder herzustellen. Jetzt wünsche ich Euch Glück, Elrond von Arenor. Ihr seid einer der Großen unter uns, vielleicht gelingt es Euch, das steinerne Herz der Arenai zu erreichen."

Die Elben aus Elronds Begleitung hatten das Schiff bereits verlassen. Nun zogen die Arenor-Elben an Elrond vorbei, um ihren verdienten Platz einzunehmen. Zuletzt ging der alte Herrscher an Bord. Kaum hatte sein Fuß das Deck berührt, verschwand die breite Planke und das Schiff legte ab. Elrond sah ihm einen Moment nach, dann sammelte er sich und verließ den Anleger. Nur wenige der Arenor-Elben waren noch da, aber einer war unter ihnen, dessen Anblick sein Herz erfreute.

„Haldir", lächelte Elrond. „Also habe ich ein vertrautes Gesicht um mich. Es schmerzte mich sehr, als die Kunde um deinen Verlust mich erreichte. Celeborn war in Trauer versunken und berichtete über deine Tapferkeit."

Haldir aus Lothlorien neigte dankend den Kopf. „So haben wir am Ende doch gesiegt. Das allein zählt."

Die Elben setzten sich in Bewegung und Elrond wusste instinktiv, dass der Weg nicht durch Arengard führen würde. Die Elben aus Mittelerde stimmten einen nun doch recht heiteren Gesang an, in den die Arenor-Elben bald einfielen. Elrond und sein Begleiter hingegen schwiegen sehr lange. In der Dunkelheit lag der Weg hell vor ihnen. Er führte an Arengard, das sich nur von wenigen Lichter beleuchtet an das aufsteigende Gelände schmiegte, vorbei. Es ging zwischen sanften Hügel hindurch, die Anzeichen von Ackerbau zeigten. Kleine Flüsse kreuzten ihren Weg. Zunächst waren sie von einfachen Brücken überbaut, doch je weiter sie sich von Arengard entfernten und sich dem Binnenland näherten, desto kunstvoller wurden diese. Schließlich gelangten sie auf eine Lichtung inmitten niedriger Bäume mit einem leise im Wind raschelnden Blattwerk aus durchscheinenden, kleinen Blättern. Dort warteten andere Elben mit Pferden.

„Es ist weit bis ins Binnenland", erklärte Haldir. „Wir müssen zwei Tage durch die Hügel und die Wälder reiten, bis wir es erreichen. Es wird dir gefallen dort, denn wir haben alles, was wir auf Mittelerde auch hatten. Gildanna gleicht Imladris in manchen Dingen, in anderen übertrifft es deine alte Heimat. Es liegt vor den Sternenbergen und inmitten von Ithuris, dem großen hellen Wald. Die Winter hier sollen kalt, aber niemals bitter, die Sommer warm, doch niemals sengend sein. Zur Zeit ist es Herbst und ganz Ithuris leuchtet in allen Farben der Sonne."

„Das klingt schön." Elrond streifte den Waldelben mit einem wissenden Blick. „Doch es ist nicht Valinor, nicht wahr? Du fragst dich, was du hier sollst. Nun, mein Freund, diese Frage stelle ich mir auch. Besonders beschäftigt sie mich, seit ich die Schildmeisterin Arengards kennen gelernt habe."

„Ayla..." Es klang wie eine Mischung zwischen Fluch und Seufzer.

„Erzähle mir von den Arenai."

„Viel weiß niemand über sie."

„Dann muss das wenige genügen."

„Sie waren bereits hier, als die ersten von uns vor langer Zeit eintrafen. Der damalige Schildmeister, ein Arenai namens Agir, begrüßte uns am Hafen mit fast den gleichen Worten wie sie es heute getan hat. Sie geben nichts von sich preis, begegnet man einem ihrer Jäger in den Wäldern, weichen sie einem fast immer aus. Sie reden so gut wie nie freiwillig mit uns. Vielleicht sind wir einfach zu anders als sie."

„Sind wir das?"

„Sie sind hart und verschlossen. Ihre Schildmeisterin ist fast ein Ausbund an Höflichkeit, so wie du sie heute Abend erlebtest und im Vergleich zu den anderen sogar sehr beredt. Sie singen nicht, sie kennen überhaupt keine Musik, Gedichte sind ihnen fremd."

„Hm", machte Elrond. „Warum war sie bewaffnet? Ich dachte, hier gibt es keine Feinde."

„Anerai sind immer bewaffnet und sie üben sich dauernd im Kampf. Sie scheinen davon besessen zu sein. Selbst ihre Kinder, von denen es nur wenige gibt, beginnen schon damit." Haldir verzog kaum merklich das Gesicht. „Sie strahlen immer Düsterkeit aus, kaum zu verstehen zu welchen Kunstwerken sie fähig sind."

„Kunstwerke?" echote Elrond interessiert.

„Hast du nicht ihren Stirnreif gesehen?" Als er nickte, lächelte der andere etwas. „Das ist das Werk arenorischer Silberformer. Dann beherrschen sie die Bildhauerei mit wahrer Vollendung. In deinem Haus in Gildanna findest du tief im Garten neben einem der Wasserfälle die Statue eines schlafenden Pferdes. Der Anblick ist so schön, dass er zu Tränen rührt. Kein Elbe hätte ähnliches erschaffen können, aber es ist von Ayla selbst. Enuidil pflegte viele Stunden dort zu verbringen und über die Natur der Arenai zu sinnen."

„Ohne sie zu ergründen", erriet Elrond wohl zutreffend.

„Da ist noch etwas", meinte Haldir zögernd. „Als ich hier eintraf, warnte man mich, niemals einen Arenai zu berühren. Offenbar stellt dies für sie eine sehr schlimme Beleidigung dar."

„Enuidil hat ihre Hand geschüttelt."

„Ich denke nicht, dass es jemals zuvor geschehen ist. Ohne Handschuhe hätte sie sich wohl kaum darauf eingelassen."

Wieder versank Elrond für lange Zeit ins Grübeln. Arenor war ihm ein Rätsel. Was mochten die Valar sich dabei wohl gedacht haben? Sollten die Elben etwas von den Arenai annehmen und die Arenai von den Elben? Doch es machte keinen Sinn. Die Elben hier waren auf ihrem Weg nach Valinor, ein Leben voller Bestimmung lag bereits hinter ihnen, sie suchten den Frieden des Westens. Andererseits schienen die Arenai schon immer hier gewesen zu sein. Vielleicht waren sie noch auf dem Weg in ihre eigentliche Bestimmung und die Gegenwart der Elben sollte dazu beitragen. Dann aber konnte es nicht sein, dass sich beide so bemüht aus dem Weg gingen.

Enuidil, schickte er einen stummen Seufzer gen Westen, wenn du in deiner Verbindung zu den Arenai so lange gefehlt hast, was hast du mir dann für ein schweren Erbe hinterlassen.

Doch noch war die Last dieses Erbes kaum gegenwärtig. Elrond konnte sich dem Zauber Arenors nicht verschließen. Ithuris war wirklich ein heller Wald, voller Licht und Leben. Kein Fleck des Bodens, auf dem keine Blumen wuchsen. Auch wenn es Herbst war, so schwebte doch über den dicken Moospolstern entlang der kristallklaren Bäche eine Wolke winziger weißer Blüten auf langen, sich wiegenden Stängeln. Die Luft war erfüllt von den Düften der Pflanzen und Tiere, von denen es zahlreiche gab. Manche kannte Elrond aus Mittelerde, andere waren ihm gänzlich fremd.

Die Waldelben schienen sich seit jeher hier anzusiedeln, denn Elrond bemerkte an fast jedem der nicht sehr zahlreichen Großbäume die gewundenen Treppenaufgänge zu den Fletts in den Kronen, auf denen ihre Häuser errichtet waren. Die meisten Bäume jedoch waren zwar hoch, aber ihre Stämme nicht sehr dick. Den Kronen fehlte die Dichte der Bäume Lothloriens, doch dafür war alles vom Sonnenlicht durchflutet. In den Strahlen der Herbstsonne segelten wie winzige bunte Schiffe das sterbende Laub herab und sank zu einem weichen Teppich auf den Boden. Kein Laut kam von den Hufen der Pferde, als sie auf breiten Wegen einherschritten.

In dieser Nacht waren sie Gast in Haldirs Haus, hoch oben in der Krone eines wahrlich mächtigen, alten Mallorn. Als die Dunkelheit kam, füllten auf einmal Schwärme winziger Insekten die Luft, die alle ein sanftes goldenes Glühen ausstrahlten. Sie bewegten sich zwischen den Plattformen einher, durchquerten gelegentlich die offenen Hallen und gewährten den Zuschauern ein immer wechselndes Lichtspiel.

„Demothian", erklärte Haldir seinem Gast. „Wegwächter, so nennen die Arenai sie und es liegt sehr viel Wahrheit darin. Du wirst hier in den Wäldern des Nachts keine Lampe brauchen, denn es wird immer ein Schwarm der Demothian in deiner Nähe sein und dir genug Licht geben, dass dein Fuß einen sicheren Grund findet."

Elrond trank einen Schluck des milden Honigweins, den man zusammen mit schmackhaften Früchten und Gebäck aufgetragen hatte. Nachdenklich drehte er den kostbaren Silberkelch in seiner Hand. Jagdszenen waren in so wunderbarer Eleganz darauf dargestellt, dass man vermeinte, gleich würden sich die Figuren darauf in Bewegung setzen.

„Arenai", bestätigte Haldir auf seinen fragenden Blick hin. „Sie geben uns dies und dafür erhalten sie den Wein, Honig und andere Lebensmittel. Sie sind nicht sehr gut darin, Nahrung zu erschaffen. Nach allem, was man so hört, würden sie ohne uns von einen tristen Wurzelgemüse, ihren kleinen Viehherden und erlegtem Wild leben. Es reicht zum Überleben, Genuss würden sie nicht darin finden."

„Und doch sind sie zu solcher Schönheit fähig." Elrond schüttelte in leichter Verwirrung den Kopf. „Woher haben sie das Silber?"

„Minen gibt es nicht, wenn du das meinst. Silber und Gold waschen sie aus den Flüssen und Bächen, wo es aus einem unerschöpflichen Quell immer wieder zu finden ist. Sie schmelzen ihre Werke auch öfter wieder ein. Manchmal tritt auch nach einem Regen in den Hügeln eine Ader zu tage, die sie dann vorsichtig abtragen. Sie verletzten Arenor niemals." Überraschend erhob sich Haldir und trat an den Rand des Balkons hinaus. Mit vor der Brust verschränkten Armen blickte er in den Wald hinein. „Da ist so vieles an ihnen, das sie zu unseren Freunden machen könnte, aber noch mehr, dass sie von uns fernhält. Ich bin noch nicht sehr lange hier, Elrond, deswegen fällt es mir nicht so leicht wie den anderen, sich damit zu begnügen."

Elrond schwieg lange und beobachtete Haldir, wie er nachdenklich seinen Blick über Ithuris schweifen ließ. Ein junger Herr des Waldelbenvolkes, ging ihm durch den Kopf, denn das war Haldir hier. Er hatte ebenso wenig eine Wahl gehabt, diese Position einzunehmen wie Elrond. So hatte es ihn aus seinem geliebten Lothlorien aus der Entscheidungsschlacht um Mittelerde gegen seinen Willen hierher verschlagen. Eine schwere Bürde, die ihm die Valar aufgebürdet hatten, nachdem er so lange unter Celeborn und der wunderbaren Galadriel gedient hatte.

„Soll ich nun Enuidils Weg weiter folgen oder versuchen, das Geheimnis um unser Wirken hier zu erkunden?"

Elrond trat neben ihn und legte ihm leicht die Hand auf die Schulter. „Ich glaube, Enuidil ist zu lange nur den Weg gegangen und hat vergessen, dass dieser zu einem Ziel führen muss."

„So ist uns keine Ruhe vergönnt", meinte Haldir mit einem leichten Lächeln.

„Immerhin sind die Arenai keine Orks", schmunzelte Elrond. „Und ihre Schildmeisterin hat wenig von einem Uruk'hai."

„Aber viel von dessen Manieren."

Lachend gesellten sie sich wieder zu den anderen in der großen Halle. Nichts in Ithuris brauchte den Vergleich mit Lothlorien zu scheuen. Vielleicht war sogar noch größere Freude hier in diesen Hallen, denn die allgegenwärtige Gefahr des Dunklen Herrschers gab es hier nicht. Elrond war seit vielen Menschenleben nicht mehr von so viel Freude und Frieden umgeben gewesen. Die Lieder, die man sang, waren frohgestimmt und sanft. Es war ein reger Austausch zwischen den Elben aus Mittelerde und denen aus Arenor im Gange. Sie hörten neue Lieder und gaben alte weiter. Elrond musste die Geschichte des Ringträgers, den Gefährten des Ringes und des Endes Saurons erzählen. So verging die Nacht, ein neuer Tag und eine weitere Nacht. Niemand drängte zur Eile. Wie Enuidil gesagt hatte, hier war alles gutgeordnet, wie ein breiter Fluss strömte die Gemeinschaft der Elben in ihrem Jahrtausende alten Bett dahin.

Am Ende der zweiten Nacht erklang von einem der niedrigeren Balkone ein wahrhaft trauriges Lied. Elrond trat schweigend von der Halle hinaus auf den Balkon und lauschte ergriffen. Es war die Geschichte von Sirgal, der Arenai und Tochter Agirs und Theriador, dem Waldelben. Sirgal, die noch sehr jung war, doch eine große Jägerin, hatte ein Petai über die Hügelwälder hinweg bis nach Ithuris verfolgt. Dies war kein großes Unglück, denn die Grenzen zwischen Arenai und Elben waren ungeschrieben und wer sie überschritt, hatte nichts zu befürchten. Dann verlor sie sich jedoch in der friedlichen Schönheit des Elbenwaldes und streifte umher, bis sie auf Theriador traf, einen der edelsten und wohlgeratensten seines Volkes. Sie sprachen nur wenig, doch fanden sie Gefallen aneinander, denn Sirgal war eine Arenai von seltener Anmut und sanftem Gemüt.

Sie konnten nicht mehr getrennte Wege gehen und Sirgal folgte Theriador zu seinem Volk, hier im Herzen von Ithuris. Sie war kaum eingetroffen und die Liebenden hatten nicht einmal Zeit gefunden, eine Berührung zu wechseln, als ein Bote Agirs erschien. Theriador erfuhr niemals, was ihr Vater ihr mitteilen ließ. Aber nachdem der Bote wieder gegangen war, schenkte sie ihm einen letzten Blick voller Liebe und Tränen, trat auf einen der Balkone hinaus und stürzte sich vor den entsetzten Augen des Elben in die Tiefe.

„Es muss hier an dieser Stelle gewesen sein, dass sie ihrem Leben ein Ende setzte", erklang Haldirs Stimme hinter ihm. „Theriador brach das Herz. Er verließ Ithuris und wurde niemals wieder gesehen. Es heißt, er durchstreift ohne jemals Ruhe zu finden Arenor, immer noch auf der Suche nach einer Erklärung, warum er seine Geliebte verlor."

„Sie fürchten uns", erkannte Elrond mit einem Mal. Er fuhr herum und begann eine Wanderung auf dem Balkon. „Es liegt so klar vor uns und doch kann ich den Sinn noch nicht ergründen, Haldir. Aber ich weiß, dass sie uns fürchten."

„Sie halten uns eher für eine ansteckende Krankheit", murmelte der andere zweifelnd.

„Auch die kann man fürchten", beharrte Elrond.

Haldir seufzte. „Nun, dann solltest du nun bald nach Gildanna aufbrechen. Ich weiß, dass Enuidil alles, was auch nur entfernt mit den Arenai zu tun hat, aufschrieb. Es muss eine ganz beachtliche Sammlung sein, die er im Laufe der Jahrtausende zusammengetragen hat. Vielleicht findest du in seinen Aufzeichnungen etwas, das ihm entgangen ist."