Der kleine Fremde


Sirius empfand den Grimmauldplatz Nummer 12 als einen außerordentlich trostlosen Ort. Und das nur umso mehr an Sonntagabenden, wenn das dunkle Haus fast schmerzhaft leer war und Sirius sich nichts sehnlicher wünschte als jemanden, irgend jemanden zum reden, jemanden, der diese großen, leeren Hallen, die so viele unerwünschte, lang vergangene Details aus einem lang vergangenen Leben für ihn aufbewahrten, mit Stimmen und vielleicht Gelächter füllte. Mit dem Gefühl von Anwesenheit. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, Sirius war einer dieser Menschen, die nicht lange ohne Gesellschaft auskamen, für die ein paar Stunden in kompletter Einsamkeit schon genug waren, um halb wahnsinnig, ruhelos durch die Gänge zu tapern, Verfolgungswahn und die seltsamsten Ängste zu entwickeln.

Die großen Treppen, Räume, Hallen, Salons, Balkone… Nach zwölf Jahren Leben in einer Zelle, die kaum größer sein sollte als drei mal drei Meter, die Decke gerade so hoch, um gebückt darin zu stehen, erzeugten die hohen Decken und die fernen Wände eine Art Anti-Klaustrophobie in ihm, eine klamme Angst, im Raum einfach verloren zu gehen, nicht mehr gefunden zu werden.

Wenn er dann schlief, dann schlief er im Sitzen, im Wohnzimmer in einen der großen, modrig riechenden Ohrensessel versunken, die Beine auf dass Polster gezogen und fest zusammengekuschelt, als wäre der Kamin dort vor ihm überhaupt nicht da, als müsse er sich gegen die Kälte schützen, indem er ihr so wenig Angriffsfläche wie irgend möglich gab. Wer glaubte, er spüre eine gewisse Nostalgie in Bezug auf die Zeit, die langen Jahre in der kalten Kerkerzelle irgendwo dort oben über dem Meer auf einer Insel mitten im Nirgendwo, der hat wohl nicht begriffen, wie es dort ist und was dort mit den Menschen geschieht.

Nein, Nostalgie ließ ihn nicht an diesen Angewohnheiten festhalten, aber vielleicht waren einige davon, einmal angenommen, nur sehr schwer wieder loszuwerden, und einige davon, einmal verinnerlicht, zu sehr mit dem tiefsten ureigensten Wesen verschmolzen, als dass man sie wieder davon losmachen könnte.

Sirius schlief also im Wohnzimmer, vor dem knisternden Kamin in einem Wachschlaf, immer wieder bei einem besonders lauten Knacken des Feuers aufwachend. Er konnte mit der Stille nicht mehr leben, also nahm er lieber in Kauf, ein paar Mal aufzuwachen, als zu lange der vollkommenen Lautlosigkeit seines Hauses ausgesetzt zu sein.

Diesmal jedoch war es kein Knacken, das ihn weckte, sondern etwas sehr viel Energischeres, Nervigeres. Als Sirius die Augen aufschlug, war die Welt noch genauso, wie er sie einige Zeit zuvor verlassen hatte. Dämmrig und mit einem warmen Knistern gefüllt, das in der Luft um ihn her waberte.

Doch als er sich seufzend regte und sich nach der Ursache seines erneuten Erwachens umsah, wünschte er sich jäh, diesmal doch oben in seinem alten Schlafzimmer zu Bett gegangen zu sein.

„Kreacher!", entfuhr ihm, halb ein Krächzen, halb ein anklagendes Fauchen.

Der hässliche Hauself zupfte an seinem Hosensaum und sah ihn aus seinen abscheulichen Telleraugen an, und selbst jetzt konnte Sirius die Abneigung in seinem Blick sehen, den Unmut, dass ausgerechnet der verstoßene Sohn, der Verräter, sein letzter verbliebener Herr sein sollte.

„Der Meister sollte die Tür öffnen, es klingelt seit Minuten!", begrüßte ihn Kreacher und entlockte Sirius ein weiteres Stöhnen.

„Warum machst du die Tür nicht auf, Kreacher? Ist das nicht dein verfluchter Job?"

In die Augen des Hauselfen trat ein Blick irgendwo zwischen Verletztheit, Trotz und unverminderter Abneigung: „Meister Sirius verbot mir, die Tür zu öffnen!", verteidigte er sich und Sirius machte sich nicht die Mühe, sich für die unverdiente Rüge an seinen Hauselfen schuldig zu fühlen.

Er rieb sich die Augen und warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor vier Uhr am Montagmorgen. Er hatte also die Nacht fast überstanden. Als er sich unwillig streckte und schließlich die nackten Füße von seinem warmen Sessel auf den kalten Steinboden setzte, fragte er sich, wer ihm um diese Zeit die Ehre erweisen mochte. Die freudige Erwartung, nicht mehr allein zu sein, mischte sich mit Misstrauen. Ordensmitglieder hatten normalerweise uneingeschränkten Zugang zu diesem Haus, zum Hauptquartier des Ordens. Also musste vor der Tür entweder ein Fremder stehen, jemand anderer, dem Dumbledore oder sonst wer genug vertraute, um ihn hierher zu ihm zu schicken, oder einer aus dem Orden, der den Anstand hatte, um Einlass zu bitten, statt einfach in fremder Leute Häuser einzutreten, als wären es ihre eigenen. Schwer vorstellbar. Remus würde er es vielleicht zutrauen. Kingsley. Oder Tonks. Aber Tonks würde ihn nicht nachts um vier spontan überraschen, sie war schon genervt genug, wenn Sirius sie hin und wieder mal durch den Kamin bat, sich mit ihm zu unterhalten, nur um sicherzugehen, dass er nicht an Vereinsamung starb. Dumbledore. Aber der würde nicht so leise und zögerlich klopfen. Überhaupt, dieses Klopfen klang kaum wie das eines ausgewachsenen Mannes, eher wie das eines verschüchterten Tieres.

Misstrauisch, aber ebenso neugierig und mit der leisen Hoffnung im Hinterkopf, dass es doch nur ein Freund sein könnte, der ihm Gesellschaft leisten mochte, zog Sirius den Zauberstab. Er hörte ein herablassendes Schnauben hinter sich, das nur von Kreacher kommen konnte, der sich wahrscheinlich ziemlich darüber amüsierte, dass er in seinem eigenen Haus wie ein Jagdhund geduckt durch die Eingangshalle schlich, bis er vor der Tür stand. Er atmete tief durch.

Mit einem kräftigen Ruck riss er die Tür auf und streckte den Zauberstab vor sich aus. Er zeigte ins Leere. Vor ihm stand niemand. Innerlich rügte er sich, er musste zu lange gewartet haben, da hatte es sich der Besucher schlichtweg anders überlegt. Er fluchte leise.

Dann erst nahm er das Geräusch war, es war wie ein Räuspern, ein geziertes Räuspern, aber es war keine Frauenstimme, und doch heller, klarer…

Seinem Gehör folgend senkte er den Blick und dann endlich – fast wäre er zurückgeschreckt, sah er das Kind.

Es sah ihn aus großen, ernsten, dunklen Augen an und sagte kein Wort. Es war vielleicht sechs, vielleicht sieben Jahre alt und sein Blick wirkte seltsam erwachsen unter dem langen Pony her, das schulterlange, schwarze Haar ein wenig zerzaust.

Sonst könnte man sagen, es sah aus wie jedes andere Kind in seinem Alter: Es war kalt draußen und die weichen Bäckchen waren gerötet, im strengen Kontrast zu seiner hellen Haut, die Nase war kurz und stubsig, die schmalen Lippen ein wenig violett von der Kälte. Es trug Muggelkleider und Sirius war sich nicht sicher, ob es ein Mädchen oder ein Junge war.

Er wurde sich gewahr, dass er eine Weile lang ungläubig und vollkommen stumm in das kleine Gesicht gestarrt hatte, also öffnete er nun fast widerwillig den Mund.

„Wer bist du denn?", fragte er simpel und versuchte, nicht den Eindruck zu machen, von einem kleinen Rotzlöffel morgens um vier aus seinem Schlaf gerissen worden zu sein.

„An- Andrew, Sir", antwortete das Kind, seltsam schüchtern über seinen eigenen Namen stolpernd, und Sirius revidierte seine vorherige Sicht, es war ein Junge, es war eindeutig ein Junge, trotz der langen Haare und der dunklen Augen mit einem Kranz voll langer, dunkler Wimpern daran.

„Andrew", wiederholte Sirius und hob eine Augenbraue, ließ den Blick noch einmal über das gerötete Gesicht des Kindes gleiten: „Und Andrew, wie kann ich dir helfen? Hast du dich verlaufen?", fragte er diesmal etwas freundlicher.

Der Junge schüttelte den Kopf: „Nein Sir, ich wollte zu Ihnen", antwortete er und sein tiefer Blick gab Sirius einen Augenblick lang das verwirrende Gefühl, durchdrungen, wie geröntgt zu werden. Komisches Kind.

„Na gut, dann… Wie kann ich dir denn helfen? Es ist schon sehr spät, soll ich dich nach Hause bringen? Wohnst du in der Nachbarschaft?", fragte Sirius und schlug sich gleichzeitig gedanklich selbst mit der flachen Hand an die Stirn. In der Nachbarschaft lebten nur Muggel. Und dieses Kind konnte kein Muggel sein, sonst hätte es Nummer 12 gar nicht gefunden. Überhaupt, selbst die meisten Zauberer waren nicht in der Lage, das Haus zu sehen, es lagen einige sehr starke Desillusionszauber darauf, die es vor Blicken derer schützten, die nicht genau wussten, was sie erwartete.

Fast kam es ihm so vor, als ob dem Kind gerade das selbe durch den Kopf ging, und das war kein schöner Gedanke, denn solche Dinge sollten Siebenjährigen nicht durch den Kopf gehen, und sie sollten dabei nicht so skeptisch die Augenbrauen verziehen. Sie sollten niedlich und unschuldig und nichtsahnend dreinschauen.

„Ich wohne nicht hier, Sir", antwortete Andrew, sein Blick so erwachsen und ernst, dass es Sirius gruselte: „Darf ich vielleicht hereinkommen, es ist sehr kalt…"

Und da ging Sirius zum ersten Mal auf, dass dieses seltsame Kind nicht aus irgendeinem komischen Grund an seine Tür geklopft hatte, nicht um ihn des nachts zu wecken oder ihm einen Streich zu spielen, nicht um neugierige Fragen zu stellen oder ihn nervös zu machen, sondern weil es um seine Hilfe bat. Er schluckte, rührte sich aber nicht von der Stelle in der Mitte des Türrahmens.

„Wie bist du ausgerechnet auf dieses Haus gekommen, Andrew?", fragte er geradeheraus, sein Blick so wenig misstrauisch wie irgend möglich.

„Aber Sir, Ihr Haus ist das einzige Zaubererhaus im ganzen Umkreis", antwortete das Kind, als wäre dies eine völlige Selbstverständlichkeit und sah ihn aus seinen großen Augen unter dem zu langen Pony an. Seine Lippen bibberten leicht.

Und Sirius nickte. Das war ihm Bestätigung genug und selbst wenn etwas Seltsames an dem Kind war und selbst wenn er zu gutgläubig war, er würde in diesem kalten Winter keinen Sechsjährigen vor seiner Türschwelle erfrieren lassen.

Er trat beiseite. „Komm rein. Willst du einen warmen Kakao?", fragte er und setzte ein leicht schiefes Lächeln auf, als er die Tür hinter sich schloss. Von Kreacher keine Spur mehr. Als würde er wittern, wenn es Arbeit gab, und sich dann schleunigst verstecken.

„Du kannst mich Sirius nennen.", er zögerte kurz, dann vervollständigte er: „Sirius Black."

„Tee, Sir, wenn es Ihnen nichts ausmacht", antwortete der Kleine und blieb mitten in der Halle stehen, ohne auch nur einen Blick an seine Umgebung verschwendet zu haben.

Sirius nickte und legte dem Kleinen eine Hand auf die Schulter.

„Komm mit", sagte er freundlich und schob den Jungen in die Küche: „Also, Andrew, wie alt bist du?", fragte er und schubste ihn sanft in einen Sessel in der Küche, während er zwei Tassen auf einem Tablett platzierte und dann Tee zu kochen begann.

„Ich bin acht, Sir", antwortete Andrew und nach einem überraschten Blick von Sirius und einem Nachhaken lief er leicht rot an und berichtigte sich leise: „Na gut, fast acht, Sir."

Sirius schmunzelte. Dann schwiegen sie beide eine Weile und als Sirius schließlich eine Kanne mit dampfendem Tee und eine Schüssel voll Kekse zum Arrangement auf dem Tablett hinzufügte, wandte er sich wieder zu dem Kind um.

„Also, Andy, kommst du mit ins Wohnzimmer? Da kannst du mir alles erzählen."

Andrew zuckte leicht bei der Veränderung seines Namens, sagte aber nichts. Er saß an der äußersten Kante des Sessels, der viel zu groß für ihn war, und seine Füße hingen zwei Hand breit über dem Boden, seine Haltung jedoch war müde, aber gerade und aufrecht gewesen. Er musste sehr gut erzogen sein. Auf Sirius' Einladung hin jedoch ließ er sich vom Sessel auf den Boden rutschen und folgte Sirius wie ein lautloser Schatten.

„Setz dich bitte", bot Sirius ihm einen Platz in dem Sessel vor dem Kamin an, auf dem er zuvor geschlafen hatte. Er ließ den Zauberstab schnipsen und einer der Beistelltische aus einer Zimmerecke lief auf seinen drei Beinen ein wenig ungelenk zu ihnen hinüber. Sirius stellte das Tablett darauf ab, goss dem Jungen eine Tasse Tee ein, stellte die Keksschüssel vor ihm ab und setzte sich schließlich in den nächsten Sessel ein paar Schritte von ihm entfernt.

Zuerst hoffte er, Andrew würde selbst auspacken, doch das tat er nicht. Er hob nur die Tasse vorsichtig an und hielt sie mit spitzen Fingern am Henkel fest, blies vorsichtig auf die Oberfläche und schien die kleinen Wellen, die sein Atem darauf erzeugte, plötzlich sehr spannend zu finden. Sirius war sich ziemlich sicher, dass er sich unwohl fühlte.

„Also gut, Andrew", sagte er schließlich und stellte seine eigene Teetasse auf seinem Knie ab, das andere Bein hatte er angewinkelt und seitlich auf die Armlehne gelegt: „Was führt dich um diese nachtschlafende Zeit zu mir? Warum bist du nicht zu Hause?"

Andrew reagierte erst kaum, außer, dass er aufhörte, in seine Tasse zu pusten, und diese stattdessen nur unbeweglich, nahezu betrübt musterte.

„Ich weiß nicht, wo ich bleiben kann, Sir. Und es ist kalt."

Sirius schüttelte den Kopf und blieb unerweichlich: „Das beantwortet meine Frage nicht. Warum bist du nicht zu Hause, wie es sich gehört?"

„Ich… Ich kann nicht nach Hause!"

„Du bist weggelaufen."

„Nein, ich –"

Sorge trat in das Gesicht des Jungen, Sorge und Unsicherheit, mit der er Sirius über den Rand seiner Tasse hinweg ansah.

„Du willst es mir nicht verraten", fasste Sirius schließlich nur zusammen und seiner Stimme war deutlich zu entnehmen, dass er nicht besonders begeistert von dieser Tatsache war.

„Aber ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich - Ich…", seine Stimme klang jetzt nahezu verzweifelt und Sirius' Herz war nicht dazu gemacht, dem Bitten kleiner Kinder zu widerstehen, dem Flehen dieser großen Augen zu trotzen. Erst recht, weil er wusste, wie es da draußen im Winter war, wenn man fror und Hunger hatte und nirgendwo schlafen konnte. Seine Stimme war freundlicher dieses Mal: „Schon gut, schon gut, du musst es mir nicht sagen. Ich will nur, dass du mir diese Frage sehr ehrlich beantwortest", forderte er schließlich und das Kind wurde blass um die Nase, wenn ihn nicht alles täuschte, nickte aber. Er wirkte jetzt viel kindlicher, viel vertrauenswürdiger als zuvor an der Tür, mit seinem gruseligen, ernsten Blick.

„Macht sich gerade irgendjemand Sorgen um dich oder sucht nach dir?"

Andrew schüttelte den Kopf mit einem ernsten, ehrlich kindlichen Ausdruck im Gesicht. Sirius nickte. „Hast du Verwandte, zu denen du gehen kannst? Freunde?", fragte er weiter, aber das Kind schien nun keine Angst mehr zu haben, auf die Straße gesetzt zu werden. Es schüttelte erneut den Kopf. Sirius nickte wieder.

„Nimm einen Keks", ordnete er schließlich an und lehnte sich im Sessel zurück, nahm einen vorsichtigen Schluck und schwieg dann. Das Kind griff zögerlich in die Keksschüssel und tat es ihm dann gleich.


Sooooo... Das erste Kapitel, ich hoffe, das weckt Interesse. Wenn ja, dürft ihr gerne einen Kommentar hinterlassen. Wenn nicht, hinterlasst auch einen und kotzt euch ordentlich aus ;)