Geneigte Leserschaft,

wie immer kommt es anders, als ich es plane. Aus einem kleinen, unfertigen Oneshot in meinem Livejournal, den ich nur mal eben zu Ende schreiben wollte, wird eine ausgewachsene Kurzgeschichte in vier Kapiteln. Ja, ich finde auch, ich hätte zuerst den Wüstenwolf beenden sollen. Ich bitte um Entschuldigung.

Immerhin ist dieser kleine Vierteiler schon so gut wie fertig geschrieben, ich werde Euch also mit zügigen Updates erfreuen können.

Es ist mal wieder eine dieser „Was wäre wenn?"-Geschichten und gehört in keines meiner bisherigen AUs.

Soundtrack für dieses Kapitel: Ich und Ich, Stark.

Disclaimer: Das Harry-Potter-Universum gehört mir nicht. Keine Hühner, keine Eier.

Beta gelesen hat die zauberhafte Slytherene, und dem Text besonders auf den ersten Seiten, die ich so oft korrigiert habe, bis sie nur noch Murks waren, einen sehr sorgfältigen Schliff verliehen. Vielen Dank, meine Liebe!

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Erstes Kapitel: Du kannst mich nicht erlösen, Dora

Montag, 25. September 1989.

Biiiiep-biiiiep.

Dr. Adrian Cohen massiert sich die Schläfen mit den Fingerspitzen. Er hasst diesen Klingelton, aber da er kein Mann der Technik ist, hat er noch nicht herausgefunden, wie man ihn abstellt.

Biiiiep-biiiiep.

Und wie soll er überhaupt jemals die Patientenakten vom Schreibtisch bekommen, wenn man ihn alle paar Sekunden stört?

Biiiiep-biii…

„Zum Teufel, Sheryl, habe ich Ihnen nicht ganz klar jede Störung untersagt?!"

Die Sekretärin am anderen Ende der Leitung wirkt merkwürdig abwesend, beinahe weggetreten.

„Hier sind drei Besucher für Sie, Professor."

„Haben sie einen Termin?"

Ein Rascheln im Telefonhörer, dann Sheryls gedämpfte Stimme:

„Haben Sie einen Termin?"

Eine raue, bellende Männerstimme:

„Termin? Quatsch. Wozu denn."

Dann eine weitere Männerstimme, dunkel und samtig, mit einem bestimmenden, beinahe zwingenden Unterton:

„Wir benötigen nichts dergleichen. Unser Anliegen wird kaum mehr als fünf Minuten in Anspruch nehmen."

„Natürlich" sagt Sheryl verträumt. „Gehen Sie einfach durch, meine Herren."

„Sheryl!" bellt Cohen ins Telefon. „Ich bin nicht zu sprechen! Sagen Sie diesen Leuten…"

Die Tür springt auf. Cohen erhebt sich hinter seinem Schreibtisch, den Telefonhörer noch in der Hand.

„Sind Sie Mister Cohen?"

Cohen ist an diverse merkwürdige Gestalten innerhalb dieses Krankenhauses gewöhnt, aber er hat noch nie jemanden getroffen, dem offenbar das halbe Gesicht fehlt. Er starrt den gedrungenen, vierschrötigen Mann an, der jetzt mit schweren, ungleichmäßigen Schritten sein Büro betritt. Der Eindringling stützt sich auf einen Stock. Sein linkes Auge muss aus Glas sein, und schlecht angepasst, denn es rotiert merkwürdig in der vernarbten Augenhöhle.

Cohen legt den Hörer vorsichtig auf die Gabel.

Professor Doktor Cohen. Kann ich Ihnen helfen?" fragt er höflich, während seine Fingerspitzen nach dem Notfallknopf auf der Unterseite der Schreibtischplatte tasten.

„Lassen Sie das" knurrt der Einäugige und zeigt mit dem Knauf seines Stockes auf den Schreibtisch. „Keine Zeit für Spielchen."

Cohen nimmt ertappt die Hände nach oben und knetet seine Finger.

Hinter dem Einäugigen haben zwei weitere Männer das Büro betreten. Der eine, ein hünenhafter Schwarzer in farbenprächtigen Gewändern, nimmt neben der Tür Aufstellung wie ein Polizist oder Leibwächter. Der zweite, ein langer, dünner Mensch mit exorbitant hässlicher Hakennase und schwarzen Priestergewändern, tritt neben den Einäugigen.

„Wir benötigen Information über einen Patienten, der vor etwa einem Jahr in Ihre Einrichtung verbracht wurde" sagt der hakennasige Priester. „Ich bin sicher, Sie kommen diesem Wunsch gerne nach."

„Ich bedaure" sagt Cohen, immer noch höflich. Er ist Psychiater, bei allem, was recht ist, er wird wohl mit ein paar maskierten Freaks fertig werden. Und wer hat die überhaupt an der Pforte hineingelassen? „Ich unterliege der ärztlichen Schweigepflicht. So lange ich nicht schriftlich davon entbunden bin, entweder durch den Patienten selbst oder durch seinen gesetzlichen Vormund, darf ich keine Information heraus geben."

„Sie werden wohl eine Ausnahme machen, in unserem Fall" sagt der Priester und fixiert Cohen mit seinen merkwürdigen, tief schwarzen Augen.

„Das darf ich nicht" sagt Cohen schwach. „Es ist gegen das Gesetz…"

Doch insgeheim weiß er plötzlich, dass er diese Ausnahme machen wird. Er seufzt und lässt sich in seinen ledernen Chefsessel sinken. Unausweichlich sieht er sich darauf zu steuern, wie das eine Mal, als er mit seinem Mercedes auf Glatteis geriet und nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte. Eine fremde Kraft trägt ihn, schiebt ihn in eine Richtung, und er kann nichts tun als das Lenkrad umklammern und auf den Einschlag warten.

Der Einäugige zieht sich einen Besucherstuhl heran und setzt sich mit einem erleichterten Grunzen.

„Bitte, nehmen Sie doch Platz" sagt Cohen frustriert.

„Schon geschehen" sagt der Einäugige ungerührt und verschränkt die narbigen Finger auf seinem Stock.

„Der Name des Patienten ist John Moon" sagt der Priester beinahe sanft. „Ein Polizist gab zu Protokoll, dass er am vierten September neunzehnhundertachtundachtzig hierher verbracht wurde – eine Einweisung gegen seinen Willen, wenn ich es recht verstanden habe."

„John Moon" wiederholt Cohen und bekämpft einen Schwall von Nervosität. Er erinnert sich an den Fall, ziemlich genau sogar: unangenehm, bis zum plötzlichen Ende.

„Sind Sie von der Polizei?" fragt er vorsichtig. „Ich habe der Polizei schon alles gesagt, was ich wusste."

„Wir sind nicht von der Polizei" knurrt der Einäugige. „Was ist mit Moon? Ist er hier?"

„Nein" sagt Cohen. „Nicht mehr."

Der Einäugige schnaubt und stößt frustriert seinen Stock gegen den Boden. Der Priester macht ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen.

„Wann wurde er entlassen?" fragt der Priester.

„Er wurde überhaupt nicht entlassen" korrigiert Cohen. „Er ist ausgebrochen. Keiner weiß bis heute, wie er das geschafft hat."

„Wann?" fragt der Einäugige.

„In der Nacht vom ersten Oktober achtundachtzig."

Etwas wie ein stiller Alarm geht durch die drei Besucher.

„Sind Sie sicher?" fragt der Einäugige.

„Allerdings" sagt Cohen. „Ich musste eine unfassbare Zahl an Zeugenaussagen machen. Glauben Sie mir, die Einzelheiten des Falles haben sich in mein Gehirn gebrannt."

„Am vierten September eingeliefert, am ersten Oktober verschwunden" sagt der Priester. „Das heißt, dieses Haus hatte mindestens einmal das Vergnügen mit einer Vollmondnacht. Kam es zu Verletzten?"

„Merkwürdig, dass Sie den Vollmond erwähnen" sagt Cohen, dem allein die Erwähnung einen kalten Schauer über den Rücken jagt.

„In der Tat stellten wir bei dem Patienten eine bemerkenswerte schizophrene Psychose fest. Er hielt sich für einen Werwolf."

„Das hat er Ihnen einfach so gesagt?" fragt der Einäugige verblüfft.

„Beantworten Sie meine Frage" sagt der Priester ziemlich unfreundlich. „Kam es zu Verletzten?"

„Abgesehen von den Verletzungen, die der Patient sich selbst zufügte, nicht" sagt Cohen und sieht von einem Besucher zum anderen.

War es naiv gewesen, zu glauben, er würde nie wieder etwas von der Sache hören?

„Gut" sagt der Priester. „Wenigstens etwas."

„Erzählen Sie von Mister Moon" sagt der Einäugige.

„Meine Schweigepflicht…" beginnt Cohen.

„Erzählen Sie" befiehlt der Priester und bohrt seinen dunklen Blick durch Cohens Brillengläser direkt in sein Gehirn.

„Nun…" murmelt Cohen, fischt ein Taschentuch aus seiner Tasche und tupft sich kalten Schweiß von der Stirn. „John Moon… er wurde von der Polizei eingewiesen. Das Amtsgericht hat am Tag darauf die Rechtmäßigkeit der Unterbringung bestätigt. Er wurde in einem Keller aufgegriffen… offensichtlich verwirrt… nur in eine Decke gewickelt. Diverse Bisswunden, Kratzer, zwei gebrochene Rippen. Anwohner wurden auf einen Hund aufmerksam, der vor dem Kellerabteil saß und jaulte. Deshalb hat man ihn überhaupt nur gefunden."

„Hat er den Hund hierher mitgebracht?" unterbricht der Einäugige.

„Nein" sagt Cohen erstaunt. „Wen interessiert denn der Hund?"

„Haben Sie eine Ahnung, wie viele sich für diesen Hund interessieren" sagt der Priester, und seine dünnen Lippen zucken verächtlich.

„Fahren Sie fort" sagt der Mann an der Tür mit freundlichem Bass.

„Die Polizei musste das Kellerabteil aufbrechen" berichtet Cohen. „Es war von innen verschlossen und verriegelt. Sie brachten ihn dann mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus. Er wurde mehrfach befragt, aber er blieb bei seiner Behauptung, er hätte sich die Verletzungen selbst zugefügt. Die Polizei wollte das nicht glauben… es waren eindeutig Hundebisse und Verletzungen durch Krallen. Nichts, was ein Mensch sich selbst zufügen kann. Da Mister Moon offensichtlich verwirrt war, wurde er aus dem Krankenhaus hier in diese Einrichtung überstellt."

„Aber es war kein Hund in dem Kellerabteil" sagt der Einäugige finster. „Und wohin hätte der auch verschwinden sollen, wenn von innen abgesperrt war?"

„Tja" sagt Cohen. „Das ist eine Frage, die Sie der Polizei stellen sollten, nicht mir."

Er will sich nicht erinnern. Und wenn er sich schon erinnern muss, so will er zumindest nicht darüber sprechen.

„Hat man den schwarzen Hund auf Tollwut hin untersucht?" fragt der Priester.

„Woher wissen Sie, dass der Hund schwarz war?"

„Ich habe meine Informationen. Also, hat man Moons Hund aufgegriffen?"

„So weit ich weiß, nicht. Er war später verschwunden."

Der Priester seufzt, als hätte man ihm das Leiden Christi auf die Schultern geladen.

„Noch einer, den wir suchen dürfen" murmelt er. „Nimmt das denn kein Ende?"

„Hättest du mal den Wolfsbann rechtzeitig fertig gehabt" knurrt der Einäugige. „Dann wäre das alles nicht passiert!"

Der Priester wirbelt herum und beugt sich über den Einäugigen wie Gevatter Tod persönlich. In seinen Augen liegt ein gewisses, manisches Glitzern.

„Ich war verhindert, in den Kerkern des Dunklen Lords, mit rostigen Ketten an eine feuchte Wand gefesselt, und immer in Erwartung des nächsten Cruciatus" zischt er. „Ich bedauere aufrichtig, dass ich nicht in der Lage war, meinen Verpflichtungen nachzukommen!"

„Meine Herren" sagt Cohen laut. „Ich bekomme allmählich das Gefühl, Sie verwechseln mein Büro mit einem Filmset!"

„Verzeihen Sie" sagt der Mann an der Tür. „Wir sind alle etwas gereizt. Und überarbeitet. Wir stehen unter erheblichem Druck. Es ist wichtig, dass wir Mister Moon finden."

„Ich kann Ihnen dabei nicht helfen" sagt Cohen und erlaubt sich für Sekunden die Hoffnung, damit die merkwürdigen Besucher los zu werden. „Mister Moon war im genannten Zeitraum hier in der Klinik. Ein netter, angenehmer, ziemlich verzweifelter Mann. Er sprach viel von seinem Hund und war untröstlich, zu erfahren, dass er verschwunden war. Er wirkte völlig normal. Keine depressiven Symptome, keine Wahnvorstellungen, bis auf diese eine: dass er sich bei Vollmond in ein gefährliches Monster verwandelt. Wir verabreichten ihm Neuroleptika, die aber keine Wirkung zeigten."

„Häh?" macht der Einäugige.

„Sie haben ihn ruhig gestellt" sagt der Priester düster. „Das beste, was sie tun konnten."

„Wir haben auch versucht, ihn zu therapieren" sagt Cohen in dem diffusen Bemühen, sich und seine Einrichtung zu verteidigen. „Aber für stabile Erfolge müssen Patienten länger bei uns bleiben als lediglich ein paar Wochen. Er war auch überdies nicht sehr kooperativ. Freundlich, aber völlig unzugänglich. Nach einigen Wochen des Aufenthalts wurde er dann unruhig und verfiel vermehrt in Angstzustände."

Die Besucher sehen sich an. Selbst das zerstörte Gesicht des Einäugigen spiegelt Betroffenheit.

„Der Mond" sagt der Mann an der Tür. „Verdammt."

„Sie tun ja gerade so, als hätten wir es mit einem echten Monster zu tun gehabt" sagt Cohen, dem die Nervosität mittlerweile den Schweiß in dicken Tropfen aus den Poren treibt. Er ist ein Fachmann, er weiß, wie Verdrängungsmechanismen funktionieren, und er weiß, was er verdrängt hat, er und Schwester Phyllis. Gut verdrängt ist halb ungeschehen. Oder ungesehen, in diesem Fall.

„Aber das ist er doch" sagt der Priester mit der trügerischen Sanftheit eines Raubtieres. „Ein echtes Monster."

„Severus!" rügt der Mann an der Tür.

„Sie haben ihn gesehen, nicht wahr" sagt der Priester und beugt sich über den Schreibtisch. Cohen weicht in seinem Sessel zurück. Der Blick des Priesters ist kühl und forschend, und Cohen weiß, dass er es weiß.

Cohen nickt schwach.

„Sie haben durch das Fensterchen gesehen" stellt der Priester fest, auf grausige Art amüsiert, wie ein Kind, das einem Insekt die Flügel ausreißt. „Durch das kleine, vergitterte Fensterchen. Sie haben gesehen, was aus ihm wird, wenn der Mond aufgeht. Sie haben gesehen, wie er sich verändert. Wie aus dem netten, freundlichen Mann plötzlich ein Monster hervor bricht. Sie haben ihn heulen hören."

„Gelegentlich heulen Patienten, wenn sie sich nicht im Griff haben" sagt Cohen mit zitternder Stimme.

„Und er hatte sich nicht im Griff" flüstert der Priester. „Sie und… Schwester Phyllis… das ist ihr Name, nicht wahr? Sie haben Wache geschoben, vor seiner Tür, damit er nicht ausbricht. Sie haben beschlossen, den Vorfall für sich zu behalten. Sie wollten nicht, dass man Sie für die gleiche Sorte von Spinnern hält, die Sie hier aufbewahren. Denn niemand hätte glauben mögen, was Sie gesehen haben."

Cohen nickt, paralysiert vom nachtschwarzen Blick seines Gegenübers, mit dem er ihm direkt auf den Grund seiner Seele zu blicken scheint.

„Haben Sie ihm zur Flucht verholfen?" fragt der Priester.

„Nein" stößt Cohen mit quietschender Stimme hervor. „Aber ich hätte es getan, wäre er mir nicht zuvor gekommen. Ich habe so hart gearbeitet… ich will nicht… man soll mir nicht unterstellen…"

„Schweigen Sie" sagt der Priester. Cohens Mund klappt zu.

„Wollt ihr noch etwas wissen?" fragt der Priester seine Begleiter.

Der Einäugige arbeitet sich stöhnend aus dem Besucherstuhl in die Höhe.

„Moon hat nicht etwas erwähnt, das uns bei der Suche hilft?" fragt er. „Eine Adresse… Freunde… eine Stadt meinetwegen?"

Cohen schüttelt den Kopf.

„Die Muggel-Polizei wird nach ihm fahnden" sagt der Mann an der Tür nachdenklich. „Ich glaube kaum, dass man einen Flüchtling aus der Psychiatrie so einfach laufen lässt. Vielleicht sollten wir dort noch einmal ansetzen."

„Oder wir warten einfach, bis die anderen ihn kriegen" sagt der Priester mit beinahe diabolischem Lächeln. „Die haben jedenfalls die feineren Nasen."

Zweistimmiges „Severus!"

Cohen keucht und versucht, sein rasendes Herz zu beruhigen. Er ist glücklich, aus dem Fokus der Aufmerksamkeit verschwunden zu sein.

„Keine weiteren Fragen?" fragt der Priester.

„Nun mach schon" sagt der Einäugige. „Scheint, als hätten wir noch was vor uns."

Der Priester wendet sich erneut zu Cohen. Jetzt hat er einen schmalen, dunklen Stab in der Hand.

„Keine Sorge" sagt er samtig. „Es tut auch nicht weh. Obliviate."

Das Zimmer ist leer. Cohen ist allein. Durch die hohen Altbaufenster fallen die warmen Strahlen der Abendsonne.

Sein Kopf schmerzt, und sein Hemd ist durchgeschwitzt.

Professor Doktor Cohen fragt sich, ob er nun schon über Patientenakten einschläft.

Er greift zum Telefonhörer.

„Sheryl? Keine Termine mehr für heute. Ich gehe nach Hause."

Mattes Lachen am anderen Ende.

„Stellen Sie sich vor, Professor, ich wollte gerade anfragen, ob ich für heute Schluss machen darf. Ich fühle mich nicht gut. Ganz weggetreten. Vielleicht eine Grippe?"

„Vielleicht" sagt Cohen. „Gehen Sie ruhig. Erholen Sie sich."

Erholung, das ist es, was er selbst braucht.

Wenn er nur wüsste, wovon.

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Mittwoch, 27. September 1989.

Die Glöckchen an der Tür zur Bäckerei klingeln an diesem Morgen besonders laut und schrill. Tonks verzieht das Gesicht und widersteht der Versuchung, sich die Ohren zuzuhalten.

„Guten Morgen" sagt die Frau hinter der Theke freundlich. „Was für ein schöner Tag, nicht wahr? Es soll heute besonders warm werden."

„Morgen" sagt Tonks matt und schiebt ihre dunkle Sonnenbrille die Nase hinauf. „Einen Kaffee und ein Sonnenblumen-Bagel bitte."

„Milch und Zucker, wie üblich?"

„Ja, bitte. Wie üblich."

Tonks' Rücken schmerzt, als hätte sie in der vergangenen Nacht die Erstbesteigung eines Fünftausenders vollbracht. Nie wieder auf dem Sofa schlafen. Sie hofft, sie kann sich das fürs nächste Mal merken.

Tonks lehnt sich gegen die Vitrine, in der verschiedene Leckereien auf Käufer warten. Leider ist die vordere Scheibe zur Reinigung nach oben geklappt.

„Hups!"

„Hoppla, Miss Tonks, ist Ihnen etwas passiert?"

„Nein" murmelt Tonks und zieht ihren Arm aus dem ehemals kunstvollen, jetzt zerstörten Aufbau aus Schmalzgebäck. „Entschuldigen Sie. Ich muss die Scheibe übersehen haben."

„Ich habe mich zu entschuldigen" sagt die Bäckerin lächelnd. „Ich hätte Sie darauf aufmerksam machen müssen."

Sie drückt einen Deckel auf den Pappbecher und legt die Tüte mit dem Bagel bereit.

„Noch einen Wunsch?"

Tonks denkt nach. Heute ist Mittwoch. Mittwochs bekommt die Obstfrau ihre große Lieferung. Vielleicht wird Tonks also zum Frühstück nicht alleine sein.

Obwohl es kaum mehr ist als eine vage Hoffnung, kauft Tonks Brötchen, Kuchen und Schmalzgebäck und verlässt den Laden mit zwei Tüten in der linken Hand und ihrem Kaffee in der Rechten.

Manchmal fragt sie sich, ob es die richtige Entscheidung war, nach England zurück zu kehren. Die Engländer können einfach keinen Kaffee kochen. Sie vermisst das kleine Diner im Erdgeschoss ihres Hauses, die lässige Freundlichkeit der Leute und die kühne Skyline Manhattans. Selbst der Verkehrsinfarkt auf der Tower Bridge klingt anders und kann mit dem auf der Queens Bridge nicht mithalten.

Die Sonne scheint ihr durch die dunkle Sonnenbrille direkt in die Augen. Sie blinzelt und ist dankbar, in die schmalen Gassen von Camden Market einzubiegen, wohin die Sonne sie nicht verfolgt. So müssen Vampire sich fühlen, denkt sie und wird gleich darauf in ihrer Annahme bestätigt:

„Du siehst aus wie ein Vampir" sagt ihr Frühstücksgast mit gutmütigem Spott in der Stimme. Er sitzt im Hauseingang vor ihrem Laden, den großen Hund zu Füßen, offenbar in vollem Vertrauen auf ihr Komme gleich-Schild. „Es war wohl spät gestern Abend?"

„Frag nicht" murmelt sie und versucht, mit der rechten Hand den Ladenschlüssel aus der linken Jackentasche zu fischen. Er springt ihr bei und nimmt ihr Kaffeebecher und Tüten ab. Der Hund ist ebenfalls auf die Füße gekommen und umkreist sie mit euphorischem Wedeln.

„Halb vier, oder etwas" fügt Tonks hinzu und fingert den Schlüssel ins Schloss. „Und ziemlich viele lustige, bunte Drinks."

Schon der Gedanke daran verursacht ihr Übelkeit. Und der Gedanke an die Reste der Party, die ihr Wohnzimmer verzieren. Sie fragt sich, ob Stanley zwischenzeitlich den Weg ins Floo gefunden hat.

Sobald sie wieder einigermaßen nüchtern ist, wird sie mit ein paar Zaubern Ordnung schaffen, Stanley hin oder her.

„Trotzdem einen guten Morgen, Dora" sagt Mister Moon.

Seine leichte Hand auf ihrem Oberarm schickt ihr einen kleinen goldenen Schauer den Rücken hinunter. Die Schlüssel klimpern und fallen zu Boden, aber die Tür ist offen, und sie hat es geschafft, einen spontanen Haarfarbenwechsel zu unterdrücken.

Sie muss immer ein bisschen aufpassen, wenn Mister Moon in der Nähe ist.

„Guten Morgen, Mister Moon" sagt sie ein wenig atemlos. „Und guten Morgen, Mister Black. Kommt rein. Ich mach' uns Frühstück."

Sie bücken sich gleichzeitig nach dem Schlüssel und stoßen beinahe mit den Köpfen zusammen. In dem engen Durchgang schieben sie sich vorsichtig aneinander vorbei. Mister Moon lächelt und entschuldigt sich, und Tonks denkt, dass ihm nicht entgehen kann, wie ihre Wangen brennen.

Sie ist dankbar, dass es noch Mister Black gibt, der jede ihrer Zärtlichkeiten begierig aufsaugt. Sie kniet sich zu ihm und krault sein halblanges, zottiges Fell, während er glücklich hechelt und mit seinen großen Pfoten auf ihren Beinen herum steigt. Sein Schweif wedelt begeistert und fegt ein paar Zeitschriften von dem niedrigen Glastisch.

„Hast du schon gefrühstückt?" fragt sie ihn, und er jault sie an und fixiert sie mit seinen wunderschönen blauen Huskyaugen.

Sie erhebt sich und nimmt erst mal die Sonnenbrille ab, und er läuft ihr voraus in die enge Küche. Er ist so groß, dass die Küche voll ist, wenn er drin steht.

Mister Moon geht einstweilen an den Wänden entlang, wie er es oft tut, und sieht sich die Zeichnungen und Fotos an. Man könnte ihn glatt übersehen, so schmal und grau ist er in seinen Kleidern, die längst ihre ursprüngliche Farbe verloren haben.

Sie fragt sich manchmal, wie alt er ist. Er sieht jung aus, wenn er lächelt, trotz der silbergrauen Schläfen. Aber er lächelt selten, obwohl er immer freundlich ist.

Manchmal denkt sie, dass es seine Augen sind, die ihn alt machen: dunkel und still sind sie, und das Lächeln seiner Mundwinkel versinkt in ihnen, ohne Spuren zu hinterlassen.

Sie ist nicht sicher, ob sie in ihn verliebt ist oder in den Mann, der er wäre, wenn er ein besseres Leben hätte.

„Das ist neu" sagt er und zeigt auf die Zeichnung eines Wolfes, den sie kürzlich einem Kunden auf den Arm tätowiert hat. „Hübsch."

„Danke" sagt sie erfreut. „Willst du ihn haben?"

„Du meinst, tätowiert?"

„Na klar."

„Nein, danke. Ich… habe kein besonderes Verhältnis zu Wölfen."

Mister Black jault in der Küche, und Tonks geht gedankenverloren zum Vorratsschrank und sucht eine Dose Hundefutter raus. Wenn sie nur offen mit Mister Moon reden könnte, über Zauberei, und wie sie ihm damit das Leben erleichtern könnte. Wenn er sich nur helfen ließe, aber selbst die Hilfe, die von den Muggeln angeboten wird, lehnt er ab. Er hat Angst, aktenkundig zu werden, Angst, dass sie ihn wieder einfangen und zurück in die Psychiatrie bringen. Es ist ein Vertrauensbeweis, dass er ihr davon erzählt hat, obwohl sie ihm nicht entlocken konnte, warum genau er dort gewesen ist. Es gäbe Zeiten, so behauptet er, da müsste sie sich vor ihm fürchten und wäre dumm, wenn sie es nicht täte.

Sie kann nicht glauben, dass man vor dem freundlichen, sanften Mann Angst haben soll.

Mister Blacks Jaulen erreicht eine neue Stufe der Dringlichkeit. Tonks vergewissert sich, dass Mister Moon nichts sieht, und öffnet die Dose mit dem Zauberstab, um Zeit zu sparen.

Im Kühlschrank hat sie noch einen Teller mit Reis und gekochten Möhren. Sie hat sich informiert, was gut für Hunde ist. Sie mischt ihm in einem alten Topf eine Portion zusammen, während er sie jaulend umtanzt. Dann kommt die Stimme seines Herrchens von der Küchentür:

„Hierher, Großer."

Mühsam reißt Mister Black sich von Tonks los und trottet hinüber zu Mister Moon.

„Braver Hund" sagt Mister Moon, und Mister Black stößt beinahe etwas wie ein Seufzen aus.

Mister Moon hustet und hält sich am Türrahmen fest, es ist dieser qualvolle, rasselnde Obdachlosenhusten, der den ganzen schmalen Mann schüttelt. Tonks verzieht das Gesicht. Das Geräusch geht ihr an die Substanz.

„Ich bin sehr dankbar für deine Hilfe, Dora" sagt Mister Moon, als der Husten sich gelegt hat. „Aber ich habe immer ein schlechtes Gewissen. Du solltest dir keine Umstände machen."

„Fang nicht wieder damit an" sagt sie. „Du weißt, ich mach' es gerne. Müsst ihr Engländer euch eigentlich ständig entschuldigen?"

„Du klingst erschreckend amerikanisch für eine, die gerade mal drei Jahre drüben war" sagt er und schenkt ihr ein seltenes Lächeln. „Aber um deine Frage zu beantworten: nein, nicht ständig. Zwischendurch reden wir auch gerne über das Wetter."

Sie erwidert das Lächeln und stellt den Topf auf den Boden. Mister Black fixiert den Topf mit einem Blick, der einem die Tränen in die Augen treiben könnte, aber er wartet, bis Mister Moon mit dem Finger zeigt, ehe er sich auf sein Frühstück stürzt.

„Mach langsam" sagt Tonks zu ihm. „Niemand nimmt es dir weg."

„Ich denke, er hat gelernt, schnell zu sein" sagt Mister Moon. „Schließlich weiß man nie, was passiert."

Tonks nickt.

„Ich lasse dich duschen" sagt sie, „wenn du mir versprichst, dich danach nicht ständig dafür zu entschuldigen."

„Ich versuch's" sagt er und hat wieder dieses kleine Lächeln im Mundwinkel, das ihr heiße Schauer über die Wangen treibt.

Sie sucht ihm Handtücher raus, Desinfektionsmittel und Verbandszeug. Er nimmt die Sprühflasche und liest die Aufschrift.

„Für deine Füße" erklärt sie ihm. „Du hinkst ja immer noch. Du musst dich regelmäßig drum kümmern, sonst heilt das nie ab."

„Alle Stadtstreicher haben wunde Füße" sagt Mister Moon, und Tonks lacht.

„Du kannst ruhig in dieser Hinsicht ein bisschen anders sein" sagt sie und öffnet ihm die Tür zu dem kleinen Waschraum, der auch als Abstellkammer dient. „Bedien dich. Du kennst dich ja aus."

„Ja" sagt Mister Moon und sieht schon wieder aus, als wolle er sich entschuldigen. „Danke."

„Nimm den Hund mit rein" sagt sie. „Sonst kratzt er mir wieder die Tür kaputt."

Mister Black, der gerade aus der Küche kommt, leckt sich mit der großen rosa Zunge das Maul und sieht sehr zufrieden aus.

Tonks wartet, bis sie das Wasser rauschen hört. Dann holt sie ihren Zauberstab aus der Schublade im Computertisch und nimmt sich Mister Moons Stiefel vor, die er vor der Tür des Waschraumes hat stehen lassen.

Es ist eine trickreiche Aufgabe, die Stiefel so zu reparieren, dass es ihm nicht auffallen wird. Sie beschränkt sich auf die Innenseiten und die Schuhsohlen. So werden ihm die Füße einigermaßen trocken bleiben, wenn der Londoner Herbst beschließt, sich zu einer Regenzeit zu entwickeln.

An seinem alten, schäbigen Rucksack kann sie nicht viel machen. Immerhin belegt sie die Träger mit einem Polsterzauber, der für eine Weile das Wundreiben verhindern wird. Das Erlernen dieses Zaubers betrachtet sie als reine Notwehr, bei einem Elternpaar, dessen liebste Freizeit- und Ferienbeschäftigung es ist, ohne Ziel und Sinn in den Rocky Mountains herum zu klettern, den halsstarrigen Einwänden der Tochter zum Trotz, zu viel frische Luft und Bewegung seien ungesund.

Sie erinnert sich an den petrifizierten Bären und grinst. Schade, dass sie Mister Moon davon nicht erzählen kann, wie von so vielem.

Die Ladentür schlägt auf, die Glöckchen klingeln hektisch. Tonks kommt in die Höhe und schiebt Mister Moons Rucksack mit dem Fuß hinter die Ladentheke.

Der Tränkemeister. Was für eine charmante Überraschung.

Mit wehenden Roben durchschreitet er den schmalen Laden und treibt mit dem Zauberstab ein großes Paket vor sich her, das er klirrend auf der Ladentheke niedergehen lässt.

„Ich bin keine Posteule, Miss Tonks" sagt er anstelle einer Begrüßung. „Wenn Sie eine Lieferung erwarten, stellen Sie sicher, dass man Sie auch antrifft."

„Oh" sagt Tonks und unterdrückt ein Kichern. „Haben die Eulen es bei Ihnen abgegeben? Das haben sie sich von der Muggelpost abgeschaut, jede Wette."

Der Tränkemeister schnaubt.

„Überdies" sagt er. „Ich nehme an, das waren Ihre Gäste, heute morgen gegen vier Uhr, unter meinem Schlafzimmerfenster."

„Kann sein" sagt Tonks unschuldig. „Dann haben sie versehentlich den Hinterausgang erwischt."

„Sagen Sie ihnen, ich werde demnächst auf sehr schmerzhafte und endgültige Art und Weise Ruhe schaffen, wenn sie es noch einmal wagen, unter meinem Fenster ihre Zusammenkunft fortzusetzen."

„Mach ich. Darf ich Ihnen auch etwas Gutes tun? Ein Tattoo vielleicht? Oder ein… Nasenpiercing?"

„Vielen Dank. Nur weil ich unter Wilden leben muss, heißt das nicht, dass ich fraternisiere."

„Wie schade" sagt sie und kann das Grinsen nicht länger unterdrücken. „Ich hätte da ein paar schöne Ideen."

„Die Sie für sich behalten, wenn Sie wissen, was gut für Sie ist" sagt er finster und wirft dann einen Blick hinüber zur Tür des Waschraumes, hinter der es immer noch rauscht und plätschert.

„Ein letzter Gast beim vergeblichen Versuch der Ausnüchterung, nehme ich an" sagt er. „Es ist mir ein Rätsel, wie Sie mit dieser Arbeitsmoral Ihr Geschäft erfolgreich führen."

„Wenn Sie wissen wollen, ob ich einen Freund habe, fragen Sie einfach" sagt Tonks grinsend. „Im Übrigen ist es ein Freund, nicht mein Freund, der… im Augenblick keine Dusche hat. Eines meiner hoffnungslos sozialromantischen Projekte, wie Sie es mal so treffend auf den Punkt gebracht haben."

„Ihnen ist nicht zu helfen" sagt er kopfschüttelnd. „Holen Sie heute Abend Ihren Evanesco Coloris ab. Nicht vor neunzehn Uhr. Und kein Kredit, dieses Mal."

„Ist gut" sagt sie und schenkt ihm ein ehrliches Lächeln. „Bis heute Abend."

Er nickt dreht sich und rauscht zur Tür, nicht ohne einen langen, verächtlichen Blick auf Mister Moons Stiefel zu werfen, die sie nicht mehr hinter die Theke schubsen konnte. Die Glöckchen scheppern wild, dann ist er verschwunden.

Während sie darauf wartet, dass Mister Moon seine Reinigung abschließt, macht Tonks Frühstück an der Theke und blättert ihren Terminplaner durch. Der erste Kunde kommt um elf und bekommt ein Tribal auf den Oberarm. Danach, um eins, Joe, der Bodybuilder, der ihr bei der letzten Sitzung mit einem Kreislaufkollaps vom Stuhl gerutscht ist. Um halb drei eine Kundin mit einem verunglückten Tattoo am Knöchel, das Tonks retten soll. Danach Beratungsgespräche, Piercingkunden und alle Erledigungen, die den Tag über liegen geblieben sind.

Tonks kramt nach einer Kopfschmerztablette. Wenn nur schon Abend wäre.

Sie schenkt sich gerade ein Glas Saft ein, um die Tablette hinunter zu spülen, als Mister Moon wieder erscheint. Seine Haare sind feucht und wellig, und er hat sich rasiert, was ihm ausnehmend gut steht.

„Vielen Dank" sagt er. „Jetzt fühle ich mich viel besser."

„Ist schon okay. Möchtest du frühstücken?"

Er nickt, und sie sieht, wie er mit den Augen eines hungrigen Wolfes die belegten Brötchen auf der Theke mustert.

„Greif zu" sagt sie, und er lässt sich nicht bitten.

Mister Black, der sein Lieblingswort gehört hat, schiebt seinen leeren Topf mit der Nase in der Küche herum und winselt jämmerlich.

„Futterneid" sagt Mister Moon mit vollem Mund. „Er kann nicht so hungrig sein. Er hat gestern eine Menge Abfälle aus der Metzgerei bekommen. Eine ganze Tüte Hackfleisch vom Vortag."

„Und du?" fragt Tonks.

„Ich mach' mir nichts aus rohem Fleisch" sagt Mister Moon.

„Du weißt, was ich meine" sagt sie ungeduldig.

Mister Moon nickt und beschäftigt sich mit seinem belegten Brötchen. Er sieht nicht aus, als wollte er Tonks' diffuse Frage beantworten.

„Du weißt, dass dein Hund besser dran ist als du" hilft sie nach.

Er nickt und schluckt und hebt die Schultern.

„So ist das eben" sagt er. „Er hat eine sehr charmante Art zu betteln. Und er hat keine Skrupel, was ungemein hilfreich ist."

Wie auf Kommando klappert Mister Black mit seinem Topf und jault.

„Soll ich ihm noch was geben?" fragt Tonks. „Nicht, dass ihm schlecht wird."

Mister Moon lächelt schmal und nickt.

„Er könnte ein halbes Schwein verdauen, wenn er es sich durch den Rachen schieben könnte" sagt er. „Zumindest hat es den Anschein. Und beim Metzger können wir nicht schon wieder auftauchen."

Tonks nimmt Mister Black den Topf weg und füllt ihn erneut. Der Hund folgt jeder ihrer Bewegungen mit seinen himmelblauen Huskyaugen.

„Rosie vom Gemüsestand hat angefragt" sagt sie über die Schulter, obwohl eher zutrifft, dass Tonks bei Rosie angefragt hat. „Sie hat sich am Handgelenk verletzt und kann nicht heben. Die Lieferung kommt um halb elf. Ist das okay?"

„Mehr als okay" sagt Mister Moon. „Das ist prima. Vielen Dank. Und sonst?"

„Ich habe wieder einen Brief vom Finanzamt" sagt Tonks. „Wegen der letzten Steuererklärung. Irgendwie fehlen ihnen da ein paar Belege, und ich glaube, die haben zu viel Steuern einbehalten, aber ich weiß nicht, wo! Ich verstehe ja nicht mal das Anschreiben. Ich weiß eigentlich gar nicht, was die von mir wollen."

„Sollen wir es uns einmal gemeinsam ansehen?"

„Ja" sagt Tonks dankbar. „Du weißt, ich stelle mich dämlich an mit Finanzen.. Und… wenn wir schon dabei sind… könntest du gelegentlich einen Blick auf meine Buchführung werfen? Ich habe ein bisschen den Überblick verloren…"

„Aber gerne" sagt Mister Moon und lächelt. Tonks erwidert das Lächeln und unterdrückt einen spontanen Haarfarbenwechsel. Ihr ist so dunkelblau zumute, wenn Mister Moon da ist. Pink zu bleiben ist anstrengend.

„Du weißt" sagt Tonks, „du könntest… bei mir auf dem Sofa schlafen… wenn du wolltest. Ich meine, es ist Ende September. Der Sommer ist vorbei."

„Dora" sagt er sanft, „die Antwort ist vielen Dank, aber nein, und ich habe dir auch schon erklärt, warum."

„Zu alt" sagt sie seufzend, „zu arm… und was war's noch?"

„Zu gefährlich" sagt er. „Die ersten beiden verhindern schon, dass ich in deinem Leben mehr Raum einnehme, als ich es bisher tue, aber das dritte hält mich auch sehr effektiv von deinem Sofa fern."

„Du bist nicht gefährlich" sagt Tonks trotzig.

„Ich bin ein attestierter Irrer, der aus der Psychiatrie ausgebrochen ist" sagt Mister Moon mit Betonung.

Mister Black bellt und starrt unverwandt auf seinen Topf. Sie stellt ihm sein zweites Frühstück hin, und er stürzt sich darauf, kaum dass sie die Hand weggezogen hat.

„Du hast mir nie erzählt, warum" sagt sie und spürt, wie ihr Herz bis zum Hals schlägt.

„Weil ich nicht wusste, wohin sie Mister Black gebracht haben, und was sie mit ihm tun" sagt Mister Moon, bevor er durch seinen Husten unterbrochen wird.

„Und weil ich mich als Gefahr für die Leute in dieser Einrichtung sah" ergänzt er heiser, als er wieder sprechen kann.

„Ich will nicht wissen, warum du ausgebrochen bist" sagt Tonks. „Sondern, warum du drin warst."

„Schizophrene Psychose" sagt er und nimmt sich ein zweites Brötchen. „Wiederkehrende Wahnvorstellungen. Die Diagnosen sind ziemlich schwammig auf diesem Gebiet."

„Was für Wahnvorstellungen?"

„Was ist denn das Problem mit deiner Buchführung?"

„Mister Moon!"

„Ich möchte nicht darüber reden, Dora. Versteh das bitte."

„Es gibt so viel, worüber du nicht reden möchtest. So viel, dass wir manchmal gar nicht reden, ist dir das aufgefallen?"

„Soll ich dir Lügen erzählen, nur damit wir ein Gespräch führen?"

„Du solltest mir vertrauen" sagt sie und spürt, wie in ihrer Kehle ein dicker Kloß entsteht. „Du kannst mir vertrauen. Egal, was du mir erzählst. Ich werde dich danach immer noch mögen."

Mister Moon legt sein Brötchen hin und seufzt. Seine dünnen Finger spielen am zerfransten Ärmel seiner Strickjacke. Seit einiger Zeit hat er hässliche, rote Striemen auf der Hand, die nur zögernd verheilen.

„Ich bin nicht das, was du in mir siehst" sagt er schließlich, sanft wie immer, aber Tonks spürt die Härte hinter der freundlichen Fassade. „Ich bin kein Märchenprinz, der von einer bösen Fee zum Bettler gemacht wurde. Du kannst mich nicht erlösen, Dora. Es mag ja sein, dass ich früher ein besseres Leben hatte, gebildet war, Akademiker, Freunde hatte. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt bin ich ein Bettler mit einer gefährlichen Krankheit, die mein Gehirn zerfrisst. Du hilfst mir sehr, indem du mich und den Hund gelegentlich mit Essen versorgst. Mehr kannst du nicht für uns tun."

„Aber ich will" sagt Tonks und schluckt an dem Kloß in ihrer Kehle, dort, wo sich Hilflosigkeit, Wut und Trotz zusammen ballen. „Ich denke, wenn du mal eine Weile regelmäßig essen und schlafen könntest… und etwas gegen diesen Husten tun, um Himmels Willen… du könntest meine Adresse angeben, und dir einen Job suchen, und runter von der Straße kommen."

„Es gibt keine Jobs für solche wie mich" sagt Mister Moon, und ein bitterer Schatten wischt ihm die Freundlichkeit aus dem Gesicht. „Ich käme niemals wieder runter von deinem Sofa, und das ist das letzte, was ich will."

Tonks seufzt und beißt sich auf die Lippen.

Mister Moon hebt die Hand und streicht ihr mit einem Finger vorsichtig über die Wange.

„Bei dir fühle ich mich wie ein Mensch" sagt er, „und das ist wertvoller als alle Brötchen. Vielen Dank dafür."

„Ich hoffe, du nimmst die Brötchen trotzdem" sagt sie und lächelt gegen Tränen an. „Du bist viel zu dünn."

Während Mister Moon sein Frühstück beendet, ist Mister Black mit seinem schon fertig und pendelt träge zwischen Tonks und seinem Herrchen hin und her, damit sie sich mit Kraulen abwechseln können. Dann klingelt das Telefon. Tonks geht ran und ist für einige Minuten mit einem Beratungsgespräch abgelenkt. Als sie auflegt, sitzt Mister Black hoffnungsvoll wedelnd vor Mister Moon, und Mister Moon dreht Tonks' Zauberstab zwischen den Fingern.

Ein heißer Schauer springt Tonks an. Mister Moon sieht auf.

„Hat Mister Black mir gerade gegeben" sagt er lächelnd. „Ich nehme an, er ist nicht zum Stöckchenwerfen gedacht?"

„Nein" sagt Tonks erschrocken und streckt die Hand nach ihrem Zauberstab aus. Mister Moon wirft einen letzten, kritischen Blick darauf und gibt ihn zurück.

„Es sind ein paar Bissspuren dran" sagt er entschuldigend. „Ich hoffe, er ist nicht wertvoll?"

„Nein" sagt Tonks und wendet sich ab, um den Stab unter der Theke zu verstauen, und damit Mister Moon ihre feuerroten Wangen nicht sieht. Mister Black jault enttäuscht.

„Wozu dient er?" fragt Mister Moon. „Er sieht aus wie ein Zauberstab."

„Es ist einer" sagt Tonks eilig. „Kein echter, natürlich. Ich habe ihn aus Amerika mitgebracht. Er stammt… von einem Kostümwettbewerb. Ich war eine Hexe."

„Ich meine, ich hätte früher schon einen solchen gesehen" sagt Mister Moon nachdenklich. „Aber ich komme nicht drauf, wo."

„Im Kino vielleicht" schlägt Tonks eilig vor. „In jedem besseren Fantasyfilm haben die Zauberer solche Stäbe."

„Mag sein" sagt Mister Moon. „Ist ja auch egal. Wann soll ich zu dir kommen, wegen der Buchhaltung?"

„Kannst du morgen Abend? Am Freitag muss die Quartalsabrechnung fertig sein. Heute schaff' ich es nicht. Zu verkatert."

„Natürlich. Nach Ladenschluss?"

„Ja" sagt sie. „Toll. Prima. Das wird… super. Danke."

Er sieht sie an, ein wenig Spott im Lächeln, und sie ärgert sich, dass sie sich anhört wie ein Teenager, der eine Verabredung mit dem Schwarm trifft.

Es ist keine Verabredung. Er will nicht – er will sie nicht – an den Gedanken muss sie sich gewöhnen.

Und überhaupt, wahrscheinlich ist sie sowieso nicht in ihn verliebt, sondern in einen anderen, der seine weichen, welligen Haare hat, seine schönen braunen Augen und sein sanftes Lächeln, der ein paar Pfund mehr wiegt und einem klugen Beruf nachgeht, Lehrer oder Bibliothekar oder Arzt. Verliebt in einen, den es vielleicht früher gegeben hat, oder vielleicht auch nie. Verliebt in ein Phantom.

„Sei nicht traurig" sagt er sanft.

„Okay" flüstert sie und schluckt Tränen.

„Ich muss los" sagt er und rutscht von seinem Stuhl an der Theke. „Ich will pünktlich bei Rosie sein."

„Nimm dir Brötchen mit" sagt sie. „Und hier, Schokoladenkuchen. Hab ich für dich gekauft."

Er nickt und packt sich ein paar Brötchen und Kuchenstücke in eine Tüte, die er dann sorgfältig im Rucksack verstaut.

„Bis morgen, Dora. Danke für alles."

„Bis morgen."

Mister Black wartet schon an der Tür.

Kaum, dass beide draußen sind, lässt sie los.

Das Pink fließt aus ihr heraus und macht einem unauffälligen Mausbraun Platz. Ohne in den Spiegel zu sehen, weiß sie, dass ihre Zähne nun wieder ein bisschen schief stehen, ihre Augen nicht mehr so interessant blaugrün sind, sondern von ganz herkömmlichem Grau, und auch die kleine Narbe über der rechten Augenbraue ist wieder da.

Die Party ist endgültig vorbei, und nun beginnt das Aufräumen.