Kapitel INadana
„Kalohir! Kalohir, wo willst du denn hin?"
Der schneeweiße Hengst Kalohir stieg auf die Hinterhufe und schlug wild mit den Vorderhufen in der Luft herum. Er war aus den Stallungen des kleinen Dorfes Erednin ausgebrochen und wollte ein bisschen Freiheit genießen. Nadana kam von vorne langsam auf den Hengst zu. Leise murmelnd sprach sie auf ihn ein. Ihre beruhigenden Worte schienen den Hengst zu beeindrucken; Kalohir wieherte und senkte die Vorderpfoten wieder zur Erde nieder. Nadana griff in das Zaumzeug des Hengstes und, ununterbrochen weiter murmelnd, streichelte sie seine Stirn. Kalohir schnaubte. Der schöne Hengst war der ganze Stolz der Zucht von Nadanas Vater Naored. Edles Blut floss in seinen Adern; von ihm stammten viele edle Rösser ab, die die berühmte Zucht der Rohirrim bildeten. Doch der Hengst hatte seinen eigenen Willen. Nur Nadana gehorchte er; ihre fast singende beruhigende Art, auf ihn einzureden, gefiel Kalohir und er liebte es, wenn die Tochter des weit über die Grenzen Rohans hinaus bekannten Züchters bei ihm blieb und lange Stunden mit ihm verbrachte.
Nadana ihrerseits wusste natürlich, wie wichtig Kalohir für ihren Vater war. Er war nicht nur der Deckhengst seines Stalles; sein Name war bis nach Edoras, der Hauptstadt Rohans, bekannt und nicht nur bis dorthin. Bekannter als Kalohir waren nur König Théodens Pferd Schneemähne und Schattenfell, das Pferd des Zauberers Gandalf.
Der Stalljunge sah Nadana bewundernd an.
„Wie schafft Ihr das immer, Herrin?" fragte er. „Er hört nur auf Euch."
„Er hat seinen eigenen Willen", sagte Nadana und streichelte Kalohir. „Manchmal weiß selbst ich nicht, wie ich mit ihm umgehen muss. Er hört eben nur, wenn er möchte, nicht wahr, mein Guter?"
Kalohir hob den Kopf, als wolle er nicken. Nadana lachte und führte den weißen Hengst dann wieder in seine Box zurück. Sie blieb noch ein paar Minuten bei Kalohir. Auch sie liebte den Hengst über alles und war sehr stolz darauf, dass er fast nur auf sie hörte. Sie kannte Kalohir seit er ein Fohlen war und war sozusagen mit ihm aufgewachsen. Weiter leise vor sich hinmurmelnd striegelte Nadana den Hengst und Kalohir schien es sichtlich zu genießen, von ihr gepflegt zu werden.
„Nadana?" Nadanas Bruder Geromer kam in den Stall. „Hier bist du! Vater muss dich sprechen. Es scheint sehr wichtig zu sein."
„Was ist denn los?" fragte Nadana erstaunt. Normalerweise besprach ihr Vater wichtige Dinge mit seinen Beratern, nicht mit ihr.
„Keine Ahnung", sagte Geromer, während sie die Stallungen verließen. „Aber es schien mir, dass es um Kalohir ging. Warum ist er eben ausgebüchst?"
„Weil er Lust dazu hatte", lächelte Nadana. „Er wollte eben mal raus. Das Problem ist, dass die Stallburschen ihm nicht zuhören. Er brauch viel Zuwendung, und da haben sie keine Zeit für. Deshalb hört er auch nur auf mich, weil ich ihm zuhöre und ihm erkläre, wenn er etwas nicht darf. Kalohir ist wie ein kleines Kind."
„Du konntest schon immer gut mit Pferden umgehen", lächelte Geromer. „Das ist eine Gabe, die du von unseren Vorfahren geerbt hast."
„Einer muss sie ja weiterführen", grinste Nadana. „Wenn du schon andere Dinge im Kopf hast als Pferde, bin ich eben diejenige, die die Tradition weiterführen muss."
Geromer schluckte eine passende Antwort herunter und öffnete die Türe zu der großen Halle, in der sein Vater seine Besprechungen abhielt, wenn es um die Pferde ging. Es war eine Halle mit großen Fenstern und einer kleinen Nische zum Sitzen. Nadana hatte sich hier drinnen nie wohl gefühlt; die Halle wirkte kalt und unfreundlich.
„Nadana, gut, dass du kommst", empfing ihr Vater sie. Er saß auf einem hohen Stuhl an einem langen Tisch, neben ihm sein Berater Gluthwine, der auch die jungen Pferde einritt, wenn Nadana gerade wieder mit Kalohir beschäftigt war. Der oberste Stallpfleger, Balrod, war auch zugegen, ebenso wie ihre Mutter Anawyn.
„Was ist?" fragte Nadana. Plötzlich steckte ihr ein Kloß im Hals. Die Athmosphäre war stickig, etwas lag in der Luft. Sie spürte es deutlich. „Worum geht es?"
„Wir müssen nach Edoras reiten", sagte ihr Vater. „Kalohir soll dort einige Stuten decken. Es ist ein großes Glück für uns, dass König Théoden ausgerechnet unseren Großen ausgewählt hat, um neue, würdige Rösser zu züchten. Wir können Kalohir aber nicht alleine mit nach Edoras nehmen, er würde nicht freiwillig mitkommen. Möchtest du mit uns nach Edoras reiten?"
Nadana sah ihren Vater verblüfft an. Kalohir war vom König ausgewählt worden für eine neue Generation edler Pferde? Ausgerechnet ihr Kalohir?
„Natürlich, da fragst du noch?" sprudelte es aus ihr heraus. „Edoras! Da wollte ich schon immer mal hin. Oh, das wird wundervoll! Aber wieso hat König Théoden ausgerechnet Kalohir ausgewählt?"
„Tja, dein eigenwilliger Hengst hat sich einen Namen gemacht in Rohan", lächelte Balrod. „Obwohl er nur auf dich hört, ist er überall bekannt als der beste Deckhengst in der Riddermark. Es ist wirklich eine große Ehre für uns, dass Kalohir ausgewählt wurde."
„Wie lange werden wir in Edoras bleiben?" fragte Nadana.
„So lange es nötig ist", sagte Naomer. „Na los, beeile dich, wir reiten bald los. Es ist weit bis Edoras und der König erwartet uns in zwei Wochen."
Überglücklich rannte Nadana in das Wohnhaus der Familie und dort in ihre Gemächer. Edoras! Immer wieder sprach sie den Namen laut aus. Edoras, sie würde die goldene Halle von Meduseld sehen! Das Vermächtnis der alten Könige Rohans. Und sie würde die berühmtesten Pferde Rohans sehen, allen voran Schneemähne, das Pferd des Königs.
Während sie so schnell es ging ein paar Kleidungsstücke, Schmuck und Haarspangen zusammensuchte, erschien plötzlich ihre Mutter in der Türe.
„Willst du deine Entscheidung nicht nochmal überdenken, Nadana? Es ist ein weiter Weg bis Edoras, du bist noch nie eine so lange Strecke geritten und schon gar nicht mit Kalohir. Wer sagt dir, dass er dir weiterhin gehorcht?"
„Mutter, ich kenne Kalohir in- und auswendig", sagte Nadana, tatsächlich ein wenig beleidigt. „Wenn er mir nicht mehr gehorcht, wem dann? Er kennt mich genauso wie ich ihn. Mutter, bitte. Das ist ein Traum, der wahr wird!"
„Ich möchte dir nicht im Weg stehen, Kind." Anawyn zog ihre Tochter beiseite und nickte ihrem Mann zu. „Du weißt, wie gefährlich der Weg nach Edoras ist. Und wenn es dir in Edoras nicht gefällt und du Heimweh bekommst?"
„Mutter, ich bin kein kleines Kind mehr", sagte Nadana. „Das ist meine Chance! Vielleicht kann ich dadurch meine Kenntnisse über Pferde noch erweitern und dann später die Zucht von Vater übernehmen. Das ist doch eine gute Möglichkeit, oder? Bitte, ich möchte so gerne mitreiten."
„Wie gesagt, ich will dir keine Steine in den Weg stellen", lächelte Anawyn. „Und ich bin so stolz auf dich. Du wirst deinen Vater nicht enttäuschen, da bin ich mir sicher. Ich werde dich vermissen, Große."
„Ich werde euch auch vermissen, Mutter", sagte Nadana und umarmte ihre Mutter. „Aber ich freue mich riesig auf Edoras. Das ist mein größter Traum gewesen und nun soll er in Erfüllung gehen! Oh, ich könnte die ganze Welt umarmen! Was für ein Glück, dass wir Kalohir haben!"
„Ja, dieses Pferd ist wirklich gold wert", sagte Anawyn. „Ein Segen für unsere Zucht. Eines Tages wird er in einer Reihe mit Pferden wie Schattenfell, Schneemähne, Hasufel, Arod und all den anderen berühmten Pferden genannt werden. Etwas besseres konnte uns gar nicht passieren."
„Das stimmt", sagte Nadana. „Wir müssen uns bei ihm bedanken, dass er bei uns geblieben ist. Nun, ich werde mir etwas ausdenken, das seiner würdig ist."
Anawyn lächelte. „Meine Große", sagte sie. „Du bist und bleibst unsere Beste. Ohne dich würde Kalohir längst nicht mehr bei uns sein."
„Nadana?"
Ihr Vater kam in das kleine Zimmerchen. „Ah, du hast schon gepackt, das ist gut. Kannst es gar nicht mehr abwarten, was?"
„Vati, Edoras, wie könnte ich da warten?" strahlte Nadana. „Wann geht's denn endlich los?"
„Nun, du musst erst noch Kalohir fertigmachen für die Reise", lächelte ihr Vater.
„Natürlich, das hätte ich glatt vergessen", rief Nadana aus. „Nein, Vater, ich trage meinen Rucksack natürlich selbst. Ich will nicht, dass sich womöglich Balrod damit belasten muss. Außerdem will ich nicht besonders behandelt werden, das solltest du eigentlich wissen."
„Ja, natürlich", schmunzelte Naored. „Wie konnte ich das vergessen. Na gut, dann schau mal, was du alles tragen kannst. Du musst dir auch ein Pferd suchen, denn Kalohir kannst du nicht reiten. Er soll sich nicht überanstrengen, die Reise wird schon hart genug für ihn."
„Er wird auch das schaffen", sagte Nadana. „Wenn er erfährt, dass es nach Edoras geht, wird auch Kalohir begeistert sein, glaub mir."
Naored lächelte ein wenig über die Begeisterung seiner Tochter. Seit jeher behandelte sie Kalohir wie einen der ihren; doch genau diese Behandlung brachte den Hengst dazu, ihr zu gehorchen. Nadana wusste eben, wie man mit edlen, eigenwilligen Pferden umgehen musste; man durfte sie nicht wie Eigentum oder gar Besitz behandeln, sie waren Geschöpfe wie Naored selbst. Und hierbei hatte seine Tochter ihm einiges voraus; sie würde sein Lebenswerk würdig weiterführen.
„Komm erst mal her, meine Große", sagte Naored voller Stolz und umarmte seine Tochter. „Du sollst wissen, dass ich sehr, sehr stolz auf dich bin. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen, um dir etwas zu geben, das ich dir schon lange geben wollte."
Nadana sah ihren Vater erstaunt an und fragte: „Was möchtest du mir denn geben, Vater?"
Naored holte ein kleines Holzkästchen aus der Tasche seines Umhanges und öffnete es. Nadana blieb der Mund offen stehen. Ein wunderschönes Amulett lag in dem Kästchen, eingebettet in ein kleines weiches Kissen. Das Amulett war aus glänzendem Gold, der schwarze Umriss eines Pferdes war darauf sichtbar. In verzierten Buchstaben stand unter dem Umriss des Pferdes: Nadana, Lady of Horses.
„Dieses Amulett gehörte einst deiner Urgroßmutter", erklärte Naored. „Sie hieß auch Nadana. Wir haben dir nie erzählt, wie sie die wildesten Pferde bändigen konnte. Das hast du von ihr geerbt. Ohne deine Kenntnisse und ohne dein Verständnis vor allem für Kalohir hätten wir diese Möglichkeit in Edoras nie bekommen. Ich möchte, dass du es trägst, in Erinnerung an unsere Liebe zu dir."
„Das…das kann ich nicht annehmen", keuchte Nadana ehrfürchtig. Sie hatte viel über ihre Uroma gehört, oft sagte ihre Mutter, wie ähnlich sie ihr war. Nachforschungen über die Herkunft ihrer Urgroßmutter hatten ergeben, dass sie eine Elbin aus Bruchtal gewesen war und aus Liebe zu einem Rohirrim nach Rohan gegangen war.
„Doch, natürlich kannst du das", sagte Naored. „Es ist ein Familienerbstück und ich möchte, dass du es in Edoras trägst. Jeder Rohirrim kennt dieses Amulett und jeder wird dich gebührend behandeln. Ich möchte nicht, dass es dir in Edoras an irgendetwas fehlt."
„Wie kann ich dir dafür danken, Vater?" sagte Nadana leise. „Es ist wunderschön."
Ihr Vater nahm das Amulett aus dem Kästchen und legte es ihr um den Hals. „Genauso wie du", sagte er lächelnd und umarmte seine Tochter.
