Sorely Engraved

Kapitel 1

Als Hermine eines späten Abends tief in ihre Gedanken versunken aus dem Fenster des Grimmauldplatzes blickte, machte sie eine Entdeckung, die ihr bisheriges Bewusstsein vollkommen auf den Kopf stellte. Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte, ausgerechnet Snape mit dem Gesicht nach unten auf einem Stück Rasen liegen zu sehen. Seit gefühlten fünf Minuten starrte sie nun schon auf den schwarzen Fleck, der auf der anderen Straßenseite unter einem Baum zusammengebrochen war. Draußen war es dunkel und es regnete in Strömen. Nur der Schein der Straßenlaterne hatte sie überhaupt erst auf seine Gestalt aufmerksam gemacht.

Zuerst, als sie festgestellt hatte, das er es war, um den es sich handelte, war sie sich nicht einmal sicher gewesen, was er dort verloren hatte. Doch nun, da er sich nicht mehr regte, fasste sie einen Entschluss. Sie konnte ihn ja schlecht dort liegen lassen, oder?

Zitternd zog sie die Hand vom Vorhang zurück und lauschte. Das Blut schoss ihr in den Kopf, ihr Herz schlug wie wild.

Im gesamten Grimmauldplatz herrschte Ruhe. Harry und Ron waren oben und diskutierten darüber, was Harry auf Slughorns Weihnachtsfeier über Malfoy und Snape in Erfahrung gebracht hatte. Lupin und Tonks hatten sich stillschweigend auf ihr Zimmer zurückgezogen. Was sie dort trieben, konnten sich alle denken. Niemanden der derzeit im Haus Anwesenden kümmerte es sonderlich. Hauptsache, sie fingen nicht wieder zu streiten an, wie es in den letzten Wochen häufig der Fall gewesen war. Sogar Mrs. Black hatten sie erfolgreich zum Schweigen gebracht, indem sie ihr mit einem Dauerfluch die Zunge an den Gaumen geklebt hatten.

Ebenso beunruhigt durch ihre Entdeckung wie durch ihr zögerliches Handeln hatte Hermine sich dazu durchgerungen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie rannte in den Flur und zog sich ihre Jacke über. Dann öffnete sie mit dem Zauberstab bewaffnet die Haustür und blickte wenig begeistert auf die großen Regentropfen, die sich in den Pfützen sammelten. Sie zog die Tür hinter sich zu und patschte mit ihren Turnschuhen über die Straße. Im Nu war sie von Kopf bis Fuß durchnässt.

Bei Snape angelangt beugte sie sich zu ihm hinab und schob unsanft seine klitschnassen schwarzen Strähnen beiseite. Dann steckte sie Zeige- und Mittelfinger unter seinen Kragen, um seinen Puls zu fühlen. Seine Haut war warm, das rhythmische Pochen mit den Fingern deutlich zu spüren. Schön. Aber was jetzt? Vermutlich würde er sie schon alleine dafür umbringen, vorausgesetzt er wüsste, dass sie ihm so nahe gekommen war.

Als hätte Snape ihre Gedanken erraten, schlug er die Augen auf und blinzelte. Keine Sekunde später bohrte sich stechend sein Zauberstab in ihre Wange. Snape sah sie auf eine flehentliche Art und Weise an, die es Hermine unmöglich machte, einen klaren Kopf zu bewahren. Noch nie zuvor hatte sie Augen wie die seinen gesehen. Nicht aus unmittelbarer Nähe jedenfalls, obwohl sie ihn nun schon eine Weile als ihren Professor hatte ertragen müssen. Und noch etwas war neu für sie: Er musste unsägliche Schmerzen haben. Es war erschreckend.

Seine schmalen Lippen vibrierten, er wollte etwas sagen. Hermine stutzte. Was konnte er in einem Monent wie diesem von ihr wollen? Vorsichtig senkte sie ihr Ohr bis fast auf seinen Mund nieder.

"Lassen-Sie-mich-allein."

Wie vom Blitz getroffen zuckte sie beim Klang seiner belegten Stimme zusammen. Seine Hand, die immer noch den Zauberstab in ihre Wange drückte, sackte leblos zu Boden. Hermine schnappte sich geistesgegenwärtig den Zauberstab aus seinem Griff und steckte ihn weg. Mieser Sack!

Leise vor sich hin schnaubend richtete sie sich auf. Sie wusste nicht, ob sie ihn nun noch mehr hasste als all die Jahre zuvor. Fest stand nur, dass sie es nicht verantworten konnte, ihn hier liegen zu lassen, bis ihn irgendwann die Todesser fanden. Ob die überhaupt wissen durften, dass er hier ein- und ausging, war fraglich.

Angesäuert richtete sie ihren Zauberstab auf Snapes Gestalt und brachte ihn mit Hilfe eines Schwebezaubers ins Haus. Dort angelangt bugsierte sie ihn die Treppe hinauf in eines der leeren Zimmer und ließ ihn unsanft auf das Bett fallen. Sie wischte sich mit dem Handrücken die zerzausten Locken aus dem Gesicht. Was sollte sie jetzt mit ihm machen? Es wäre vermutlich die einzige Gelegenheit, die sie jemals erhalten würde, es ihm mal so richtig heimzuzahlen. All das, was er ihr angetan hatte. Die schier endlosen Demütigungen im Unterricht vor der gesamten Klasse...

Seufzend verdrängte sie den Gedanken wieder. Sie war Hermine Granger, bekannt für ihre unnachgiebige Bereitschaft jeder Seele zu helfen, die Hilfe brauchte. Er war verletzt. Er brauchte Hilfe.

Mit sichtlicher Überwindung und auch einer gehörigen Portion Anstrengung schälte sie ihn aus dem triefenden Umhang und zog ihm die Schuhe aus. Nachdem sie ihm mühsam den Frack abgestreift hatte, breitete sie alles fein säuberlich auf den beiden Stühlen aus, die um den kleinen Tisch am Fenster standen. Rasch entledigte sie sich ihrer nassen Jacke und entzündete ein Feuer im Kamin, damit alles trocknen konnte.

Als sie zum Bett zurückkam und vor ihm stand, fiel ihr auf, dass Snape jetzt nur noch seine Socken, die Hose und sein Hemd anhatte. Es war ein ungewöhnlicher, verstörender Anblick, zumal ein großer Blutfleck unterhalb seines linken Schlüsselbeins das Hemd durchtränkt hatte.

Hermine biss sich auf die Lippe. Um festzustellen, was ihm fehlte, knöpfte sie es auf und zog es ihm aus. Danach folgte sein Unterhemd, das sie ihm keineswegs zimperlich aus der Hose riss und ihm über den Kopf stülpte. Eine unschöne klaffende Wunde ragte ihr entgegen, die der Länge nach wie mit einem scharfen Messer in seine Haut geritzt worden war.

Mit geröteten Wangen blickte sie aus den Augenwinkeln auf die Blutergüsse und Striemen, die seine bloße Brust und die Rippenpartien zierten. Ihr war nicht entgangen, dass eine schmale dunkle Haarlinie in seinen Hosenbund führte, so ziemlich die einzige Körperbehaarung, die sie bisher erkennen konnte. Schweiß perlte auf ihrer Stirn, der nicht nur von der Hitze des Feuers im Kamin stammen konnte. Peinlich berührt versuchte sie, nicht auf den unteren Bereich seines Körpers zu starren. Hier war eindeutig Schluss. Wenn Teile, die in seiner Hose steckten, beschädigt waren, sollte es ihr gleichgültig sein.

Hermine holte seinen Zauberstab hervor und legte ihn auf die Konsole neben dem Bett. Mit ihrem eigenen machte sie sich daran, den Schnitt zu behandeln, so gut sie konnte. Genau da aber lag das Problem, denn zumeist genügte schon ein kleiner Kratzer an der Hand, um Übelkeit in ihr hervorzurufen. Nur weil ihre Eltern Zahnärzte waren, musste das ja noch lange nicht heißen, dass sie mit medizinischen Dingen besonders viel am Hut hatte. Im Gegenteil. Es war ihr noch nie leicht gefallen, mit Verletzungen umzugehen.

Nachdem sie den Schnitt grob behandelt hatte, schlich sie nach draußen in den Flur und suchte im Badezimmerschrank nach schmerzstillenden und stärkenden Fläschchen, die sie kurzerhand mit einigen anderen in die Innentaschen ihres Sweaters stopfte. Bei Snape angelangt verabreichte sie ihm alles, was sie hatte finden können; sogar etwas gegen Übelkeit, was, wie sie wusste, im Falle eines Cruciatus-Fluchs zweifelsohne eine unberechenbare Nachwirkung war. Selbst jetzt, nach verrichteter Arbeit, konnte sie sich nur schwer von ihm loslösen. Fasziniert und kurios zugleich glitten ihre Augen über Snapes dürren und über alle Maßen blassen Körper. Auch dann, wenn sie ihn nicht ausstehen konnte, musste sie sich eingestehen, dass der Anblick des am Rande der Bewusstlosigkeit schlummernden Professors etwas Friedfertiges an sich hatte. Seine Hände hatte sie an seine Seiten gebettet, sein Atem ging tief und gleichmäßig. Hermine wusste nicht, was sie von diesem trügerischen Anblick halten sollte. Sie hatte das Dunkle Mal gesehen, das in die Haut seines linken Unterarms gebrannt war, sich jedoch dafür entschieden, es nicht weiter zu beachten. Es war schon verstörend genug, zu wissen, wo er gewesen war.

Nachdenklich hockte sie sich an die Kante des Betts, streckte den Arm nach ihm aus und strich ihm die nassen Strähnen aus dem Gesicht. Jetzt, wo er die unheimlichen schwarzen Augen geschlossen hatte, fiel ihr Blick zuerst auf seine markante Hakennase. Tiefe Furchen verliefen abwärts bis zu seinen Mundwinkeln. Etwas weiter oben, zwischen den Brauen, prangte ebenfalls eine berüchtigte Furche, die selbst in einem Zustand tiefster mentaler und körperlicher Erschöpfung wie diesem nicht gänzlich verschwunden war. Für jemanden, der so alt war, wie Sirius es nun sein würde, wenn er noch leben würde, sah er offengestanden ziemlich mitgenommen aus.

Hermine schüttelte den Kopf, als der Gedanke an Harrys verstorbenen Paten sie ereilte. Was sie im vergangenen Jahr mit den beiden Rivalen Sirius und Snape erlebt hatte, war nicht gerade vergnüglich gewesen. Ständig war es zwischen ihnen zu Reibereien gekommen, genauso wie es während ihrer Schulzeit der Fall gewesen war. Doch anders als Harry hatte sie nicht Snape die Schuld geben können, dass Sirius gestorben war. Jeder von ihnen musste selbst wissen, was er tat. So zumindest versuchte sie es sich immer dann einzureden, wenn sie nicht begreifen konnte, was geschah, oder eben auch dann, wenn sie erkennen musste, wie nah Tod und Leben beieinander lagen. Sirius war zweifelsohne ein Draufgänger gewesen. Sie vermisste ihn hauptsächlich, weil Harry es tat. Sein Tod war ein schwerer Schlag für ihn gewesen. Er hatte etwas in Sirius gesehen, das ihn hatte hoffen lassen.

Abwesend betrachtete sie die frische Narbe, die sie Snape durch ihre Behandlung verpasst hatte. Er hatte schon davor ein paar davon gehabt, manche waren wulstig, andere grob gezackt, als ob auch sie nur notdürftig behandelt worden wären. Doch egal ob alt oder neu, keine von ihnen glich den übrigen.

Hermine nahm ihre Hand und ließ ihre Finger über die rötliche Erhebung gleiten, die jetzt, da sich die Wunde geschlossen hatte, unterhalb seines Schlüsselbeins verlief. Sie war so aufgewühlt, dass sie jeden Augenblick damit rechnete, von ihm auf frischer Tat dabei erwischt zu werden, wie sie ihn betrachtete. Dann, gerade als sie die Hand zurückziehen wollte, legten sich wie Schraubstöcke Snapes Finger um ihr Handgelenk. Sie waren erstaunlich langgliedrig und so kühl, dass sie vor Schreck fast von ihrem Platz fiel.

Hermine sah in sein Gesicht, ihr Herz klopfte wild. Keine Miene ließ darauf schließen, was in ihm vorging, seine Augen jedoch glühten bedrohlich.

„Sie sind wach?", stellte sie kaum hörbar fest, als wäre es nicht offensichtlich gewesen.

Er nickte knapp und Hermine fragte sich insgeheim, wie lange er sie schon beobachtet hatte, ohne etwas zu sagen.

„Was tun Sie hier, Granger?" Seine Stimme war rau wie ein Reibeisen.

Endlich kam sie zu sich.

„Ich ..."

Hermine suchte nach Worten, doch gleich, was auch immer sie sagen würde, Snape würde ihr ohnehin nicht glauben. Das war schon immer so gewesen. Er hatte nicht viel für Ausreden übrig.

Als ihr nichts Sinnvolles einfiel, das ihr dabei helfen konnte, sich zu erklären, wollte sie sich von ihm freimachen. Sie war lange genug hier gewesen und steckte immer noch in ihren nassen Sachen. Snape jedoch ließ nicht locker und hielt sie beharrlich fest.

„Würden Sie bitte meine Frage beantworten, Miss Granger", sagte er auffordernd.

Sie schluckte.

„Was – was genau meinen Sie?"

Snapes Augen wurden zu bedrohlichen Schlitzen.

„Sie könnten damit anfangen, mir zu erklären, warum Sie nicht auf mich gehört haben", knurrte er zwischen den Zähnen hindurch hervor. „Oder warum ich meine Sachen nicht anhabe."

Ihre Hoffnungen, dass ihm entgangen sein könnte, dass sie ihn ausgezogen hatte, waren mit einem Mal dahin.

„Na ja", begann sie zögerlich, „Sie waren nicht ganz bei sich. Ich dachte … irgendjemand musste sich ja schließlich um sie kümmern. Außerdem waren Sie verletzt. Ich habe Ihre Wunde versorgt."

Hermine verdrängte so gut sie konnte ihre Angst vor ihm und machte ein vorwurfsvolles Gesicht.

„Vielleicht hätten Sie lieber gleich nach Hogwarts apparieren und sich von Madam Pomfrey behandeln lassen sollen, Professor."

Er sah sie ungebrochen an und über seine Lippen legte sich ein flaches Grinsen, das Hermine einen eisigen Schauder über den Rücken jagte, obwohl ihre Hände eigentümlich schwitzten.

„Haben Sie eine Vorstellung davon, wie ausgesprochen töricht es von Ihnen war, das zu tun? Sie wurden angewiesen, während der Ferien im Haus zu bleiben, anstatt draußen herumzuschleichen. Aber was rede ich! Sie sind es ja gewohnt, mit Potter umherzuschleichen. Vielleicht gefällt es Ihnen ja, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, während die Mitglieder des Ordens sich um Ihre Sicherheit sorgen."

Hermine wollte mit den Augen rollen und zwang sich angestrengt dazu, es nicht zu tun. Sie war kein dreizehnjähriges Mädchen mehr. Sie konnte auf sich selbst aufpassen. Außerdem sorgten Tonks und Lupin sich gerade um etwas ganz anderes.

Hermine reckte steif ihr Kinn in die Höhe.

„Ich denke nicht, dass ich in besonders großer Gefahr war", sagte sie frei heraus. „Ich kann mich durchaus selbst verteidigen. Außerdem sollten Sie froh sein, dass ich Sie da draußen gefunden habe, sonst würden Sie jetzt immer noch dort liegen."

Snape erstarrte. Wie es den Anschein hatte, bemerkte er erst jetzt, dass er noch immer vor ihr auf dem Bett lag, was ihm sichtlich nicht behagte. Vollkommen unvermittelt ließ er von ihr ab und setzte sich auf, bis sein Gesicht nur noch eine Handbreit von ihrem entfernt war. Hermine spürte, dass sie mehr und mehr nervös wurde, während sie sich so unmittelbar gegenüber saßen. Sie wusste kaum, wo sie hinsehen sollte. Zum einen, weil er halb nackt war, zum anderen, weil er sie selbst im Sitzen um ein gutes Stück überragte.

„Denken Sie das wirklich?", flüsterte er leise und rollte die Mundwinkel zurück, sodass sie ungehindert auf seine gelblichen Zähne sehen konnte. „Bilden Sie sich nur nicht zu viel ein, Miss."

Der Vorhang aus nassen schwarzen Haaren streifte beim Sprechen versehentlich ihre Wange. Snape presste zischelnd seine Kiefer aufeinander, wich dann wie angewidert von ihr zurück und kam schließlich schwerfällig auf die Beine. Seine Brust hob und senkte sich rasend schnell, während er sein Hemd erblickte und hineinschlüpfte, sodass Hermine bei jedem seiner Atemzüge die Blutergüsse ins Auge fielen, die seine hervorstechenden Rippen umgaben.

Es war in eben diesem Moment, als sie erkannte, dass sie keine Angst mehr vor ihm hatte. Seine raue Schale war nur eine aufgesetzte Fassade, seine Haut nicht viel dicker als ihre. Er war verbittert und hasste es, von Menschen umgeben zu sein, die ihn bloßstellen oder etwas über ihn offenbaren konnten. Er war verwundbar wie alle anderen, einschließlich ihr selbst.

Die Erkenntnis, dass Snape vielleicht gar nicht wirklich alleine sein wollte, sondern nur, um den Schein zu wahren, traf Hermine wie ein plötzlicher Geistesblitz. Hatte er sie deshalb wegschicken wollen, um zu verhindern, dass jemand ihm zu nahe treten konnte? Hatte er etwa nur aus Gewohnheit so gehandelt, weil er es nicht besser wusste oder nicht anders kannte? Die bitteren Worte, die ihm über die Lippen gekommen waren, waren wie die eines sterbenden Menschen gewesen, der keinen Ausweg mehr sah. Er hatte sich scheinbar damit abgefunden, mit seinem Schmerz alleine zu sein. Vermutlich hatte er deshalb nicht einmal gemeint, was er gesagt hatte. So sehr sie sich auch anstrengte, konnte sie sich nicht daran erinnern, ihn jemals als geselligen Menschen erlebt zu haben. Er war ein Einzelgänger, der es vorzog, seinen Kollegen aus dem Weg zu gehen. Andersherum war es genauso: Snape wurde gemieden, wo es nur ging.

Snape fing an, mit seinen geschickten langen Fingern die Knöpfe an seinen Hemdsärmeln zu schließen, während Hermine gebannt auf den roten Blutfleck unterhalb seines Schlüsselbeins starrte, der den weißen Stoff durchtränkt hatte. Warum auch immer, irgendetwas machte es ihr schwer, sich Snapes Gegenwart zu entziehen. Er selbst wirkte nicht minder verwirrt und hatte sich tief in sich zurückgezogen. Erst nachdem er mit den Knöpfen auf seiner Brust fertig war, hob er plötzlich den Kopf und sah sie wieder an.

"Gefällt Ihnen, was Sie sehen?"

Hermine blinzelte überrumpelt. Sie wusste, dass ihn weder die eine noch die andere Antwort zufriedenstellen würde.

"Dachte ich mir", murmelte er zynisch hinterher. "Wie lange wollen Sie dann noch hier sitzen und mir zusehen?"

Ohne auf seine gehässige Art einzugehen fasste sie ihren Mut zusammen und holte Luft.

"Es ist nur ... Ich bin mir nicht sicher, ob ich das richtig gemacht habe. Sie sollten sich die Narbe vorsichtshalber einmal ansehen oder etwas drauf tun ..."

"Keine Sorge, Granger", erwiderte er kühl. Dennoch entging Hermine nicht, dass etwas Befremdliches und Abschätziges in seinen wachen Augen lag. "Ich bin überzeugt, Sie haben sich so wacker geschlagen, wie Sie konnten. Bei Longbottom wäre ich mir da nicht so sicher gewesen. Aber wen kümmert's ... Sonst noch was?"

Eine seiner Brauen rutschte erwartungsvoll in die Höhe und Hermine schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Zweifel daran, dass es ihn nur wenig scherte, wie stümperhaft sie ihn zusammengeflickt hatte.

"Nein, Sir."

Sie stand auf. Doch sie wollte noch nicht gehen. Sie verspürte einen geradezu zerstörerischen Drang, sich ihm zu nähern. Snape ließ sie nicht aus den Augen und Hermine wusste, dass er nur darauf lauerte, sie jeden Moment hochkant hinauszuwerfen, wenn sie sich ihm an diesem Abend ein weiteres Mal widersetzen sollte. Trotzdem riskierte sie es. Noch ehe sie wusste, was sie tat, kam sie auf ihn zu und blieb erst unmittelbar vor ihm stehen. Er baute sich vor ihr auf und versteifte sich.

"Sie sollten jetzt gehen, Miss Granger", hörte sie ihn mit Nachdruck sagen.

Hermine schnaubte leise.

"Sind Sie etwa wütend auf mich, weil ich Sie ins Haus geholt habe?"

"Das kann man so sagen. Sie haben sich meiner Anordnung widersetzt", spuckte er. "Genügt Ihnen das?"

"Wir sind nicht in der Schule, Professor."

"Das ist richtig -"

"Sehen Sie? Folglich haben Sie nicht das Recht, mich zurechtzuweisen."

Snape zog finster die Brauen zusammen.

„Welches Recht ich habe, haben Sie nicht zu entscheiden."

„Zu dumm, denn wie es aussieht, bin ich der einzige Mensch in unserem Umkreis, der sich dazu herabgelassen hat, sich in Gefahr zu begeben, um Ihnen zu helfen."

„Vielleicht war ich zu voreilig. Vielleicht waren Sie nicht in so großer Gefahr, wie ich dachte."

„Möglich, Professor."

Er räusperte sich.

„Also, wo sind Tonks und Lupin?"

Hermine wurde rot und senkte den Blick.

„Beschäftigt, denke ich."

Snape stieß ein abfälliges Schnauben aus. Sie sah wieder auf und fand sich mit seinem schiefen Grinsen konfrontiert.

„Großer Gott! Schon wieder?"

Hermine fiel die Kinnlade hinunter.

„Ehrlich gesagt bin ich froh, wenn sie mal gerade nicht streiten. Das ist eine deutliche Verbesserung ..."

„Das bleibt dahingestellt", unterbrach er sie forsch, offenbar nicht daran interessiert, weiter darüber zu reden.

Es wurde still und Hermine stellte fest, dass sie sich immer noch ansahen.

„Ähm", machte sie von einem unbeholfenen Lächeln begleitet, um die unangenehme Situation etwas aufzulockern, „manche Menschen empfinden die Gesellschaft anderer nicht unbedingt als unangenehm, Sir."

Er schüttelte den Kopf.

"Haben Sie deshalb am Fenster gestanden und nach draußen gesehen, in der Hoffnung, Sie würden dort etwas anderes vorfinden als Potter oder Weasley?"

Hermine stutzte. Seine Worte waren wie ein direkter Schlag ins Gesicht. Auch sein süffisantes Grinsen machte die Sache nicht besser. Sie wusste, dass er sie durch die Sicherheitsvorkehrungen im Grimmauldplatz unmöglich gesehen haben konnte. Doch Snape kannte sie nun schon seit einigen Jahren. Bestimmt war ihm nicht entgangen, dass sie sich schwer getan hatte, Freunde zu finden.

"Das ist gut möglich", sagte sie verhalten. "Wer weiß schon, was einen erwartet, nicht wahr? Beinahe wäre unser Gespräch interessant geworden, wenn Sie es nicht wie üblich geschafft hätten, alles zu versauen."

Snapes Gesichtsausdruck verhärtete sich.

"Dann ist es also meine Schuld, dass Ihr Abend diese Wendung genommen hat?", brachte er anklagend zwischen seinen nahezu unbeweglichen Lippen hervor. Fast kam es ihr so vor, als wäre er beleidigt gewesen. "Das wollten Sie doch sagen, richtig?"

Hermine zuckte mit den Achseln. Er hingegen nahm die Hände hoch und fuhr sich in langen Bahnen damit durch die Strähnen.

"Ich habe nicht um Ihre Hilfe gebeten, Granger."

"Das weiß ich."

"So? Was tun Sie dann noch hier?"

Dieselbe Frage hatte sie sich im Stillen auch schon gestellt, jedoch keine Antwort darauf gefunden. Fest stand nur, dass sie im Laufe der Jahre gelernt hatte, nicht so schnell aufzugeben. Und auch dann, wenn sie es nicht wirklich von ihm erwartet hatte, sondern es nur festhalten wollte, sagte sie: "Ich hatte gehofft, Sie könnten wenigstens einmal über Ihren Schatten springen und so etwas wie Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Aber da lag ich wohl falsch."

Snape ließ die Arme sinken und drückte sie fest an seine Seiten.

"Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie oder Ihre Freunde mir je gedankt hätten, wenn ich etwas für Sie getan habe, Granger", sagte er steif.

Hermine traute ihren Ohren kaum. Hatte er das eben wirklich gesagt? Offensichtlich war er noch weitaus weniger gut auf sie zu sprechen, als sie geglaubt hatte, andernfalls hätte er sich wohl nicht dazu herabgelassen, darauf einzugehen.

"Wann hätte ich das tun sollen?", fragte sie unvermittelt zurück.

Die Gedanken in ihrem Inneren überschlugen sich förmlich. Vielleicht stimmte es ja und es war nicht richtig von ihnen gewesen, alles einfach so hinzunehmen. Sie hatte oft mit Harry und Ron über Snape gesprochen. Doch die Ereignisse, in die er verwickelt gewesen war, waren zumeist nur schwer zu durchschauen gewesen, geschweige denn, dass sich sonst irgendeine Gelegenheit ergeben hätte, ihm für seinen Einsatz zu danken, schließlich war er nicht gerade ein einfacher Mensch.

"Sie machen es einem nicht gerade leicht, Dankbarkeit zu empfinden. Wir konnten ja nicht wissen, dass Sie Harry helfen wollten, anstatt seinen Besen zu verhexen. Auch als Sie uns vor Lupin beschützen wollten, ging alles furchtbar schief. Sogar so sehr, dass er am Ende die Schule verlassen musste."

Snape verzog das Gesicht. Hermine aber, die wusste, warum Lupin hatte gehen müssen, spürte einen Triumph in sich erwachen. Sie wollte ihm keineswegs die Genugtuung geben, kampflos aus der Diskussion auszuscheiden.

"Dann bleibt also alles beim Alten", sagte er schlicht. "Jeder geht seinen Weg und tut, was er für richtig hält."

Hermine nickte bedröppelt, während er sich von ihr abwandte, nach seinem Frack griff und hineinschlüpfte. Bis gerade eben hatte sie noch das Gefühl gehabt, über ihm zu stehen. Doch jetzt war das anders. Wieso fühlte sich auf einmal alles so verworren an?

"Sir?", platzte es ungestüm aus ihr heraus.

Snape rollte mit den Schultern, wie um zu sehen, ob alles soweit funktionstüchtig war. Dann legte er den Kopf schief.

"Macht es denn einen Unterschied für Sie?"

"Nicht wirklich."

Wie zuvor auch fing er an, sich seinen Knöpfen zu widmen. Im Handumdrehen sah er beinahe wieder so aus wie immer.

"Das dachte ich mir", murmelte Hermine leise zu sich selbst.

Als er fertig angekleidet war, knüllte er das blutige Unterhemd zusammen und stopfte es in die Tasche seines Umhangs. Eindringlich sah er auf sie hinab.

"Wenn Sie heute nichts Besseres mehr vorhaben, können Sie sich nützlich machen und Lupin aus seinem Zimmer holen. Ich werde unten auf ihn warten. Sagen Sie ihm, ich muss dringend mit ihm reden."

Hermine biss sich auf die Lippe.

"Sie haben nicht viel für Taktgefühl übrig, oder? Wollen Sie den beiden nicht etwas Zeit lassen, ihre Angelegenheiten zu klären?"

"Wozu?", fragte er gelangweilt und streckte seinen Arm in Richtung der kleinen Konsole aus, die neben dem Bett stand. Im Nu sauste sein Zauberstab auf ihn zu und er steckte ihn weg. "Es ist ohnehin aussichtslos. Wenn sie es nicht selbst schaffen, sich ins Unglück zu stürzen, wird es der Krieg tun."

Hermine war bestürzt.

"Worauf wollen Sie hinaus?"

"Sie ist noch ein halbes Kind im Vergleich zu ihm. Außerdem ist er niemand, der sich binden sollte. Warum das so ist, wissen wir beide nur zu gut."

"Tonks ist doch kein Kind mehr! Außerdem hat Remus die Sache ganz gut im Griff, solange er seinen Trank einnimmt."

Snape öffnete den Mund und holte Luft.

"Ich bin mir nicht sicher, wie Sie das sehen. Aber ich für meinen Teil halte Nymphadora für eine unreife, überaus tollpatschige Zeitgenossin."

"Sie ist schon hin und wieder etwas ungeschickt", gab Hermine zu. "Aber das heißt noch lange nicht, dass sie nicht das Zeug dazu hat, mit seinem Problem zurechtzukommen. Sie wird das mit ihm durchstehen. Sie hat das Herz am rechten Fleck."

Snapes Lippen kräuselten sich zu einem flachen Lächeln.

"Man könnte beinahe meinen, Sie legen es darauf an, für hoffnungslose Fälle einzutreten, Granger. Zuerst setzen Sie sich todesmutig für Potter ein. Dann folgt Weasley und seine armselige Familie. Im Unterricht war es Longbottom, für den Sie sich starkgemacht haben. Jetzt ist es das berühmt-berüchtigte Liebespaar des Phönix-Ordens."

In Hermine regte sich der Protest. Ungläubig verschränkte sie die Arme vor der Brust.

"Was ist falsch daran, für andere einzustehen?", fragte sie entrüstet.

"Nichts. Es sei denn, man bedenkt, was sie alle miteinander gemein haben: Sie sind mit oder ohne Ihren Einsatz dem Untergang geweiht."

Hermine schnaubte. "Wenn das so ist, warum haben Sie die Seiten dann überhaupt gewechselt? Wäre es da nicht einfacher gewesen, sich das zu ersparen?"

Snapes schwarze Augen glitzerten beunruhigend, als er sie mit einem herablassenden Blick von oben bedachte.

„Ich habe noch zu tun, Miss Granger. Oder wollen Sie hier Wurzeln schlagen? Falls nicht, sollten wir diese Unterhaltung auf ein andermal verlegen."

Hermine rümpfte die Nase. Wenn er es so wollte, bitte.