Titel: … Und das Leben geht weiter
Autor: Aisling
Fandom: Highlander/Echte Kerle
Genre: Drama/Slash/Krimi/Erotik/Gewalt
Personen: Chris Schwenk, Eddie, Amanda, Methos, Joe
Pairing: Chris/Eddie
Inhalt: Chris Schwenk wird unsterblich. Wie kommt er mit dieser Tatsache zurecht und wie bereitet er sich auf seinen ersten Kampf vor?
Disclaimer: Wieder einmal gehört mir nix.
Dank: An Birgitt. Ohne sie als Betaleserin hätte ich dieses Projekt niemals fertig geschrieben. Sie stand mir die ganzen 300 Seiten mit Rat und Tat zu Seite. Und an Johannes. Er hat die kritischen Highlanderszenen im Beta gehabt.
Kommentare: Echte Kerle ist ein Fandom, das mich einfach nicht loslässt. Und die Tatsache, Chris Schwenk zum Unsterblichen zu machen, hatte mich einfach gereizt.
Kapitel 1: Urlaub mit Hindernissen
Juni 2003 Frankfurt
Zum letzten Mal ging Chris durch das Haus - Eddie hatte zwar kurz vorher auch schon einen Kontrollgang gemacht, aber sicher war sicher.
Auch wenn sie einen Housesitter hatten, der sich um die wenigen überlebenden Topfpflanzen und die Post kümmern würde, Chris hatte definitiv keine Lust, am ersten oder zweiten Urlaubstag einen Anruf zu bekommen, dass die Wohnung abgesoffen war, weil er einen Wasserhahn vergessen hatte.
Nicht, nachdem sie drei Monate gebraucht hatten, um Chris' Sachen so in den Haushalt zu integrieren, dass die Räume auch wirklich wohnlich waren.
"Chris! Komm runter! Das Taxi ist da!"
Eddies Ruf unterbrach Chris' Gedanken.
"Komme schon!"
Nach einem letzten Blick ins Schlafzimmer lief Chris die Treppe runter, wo Eddie auf ihn wartete. Chris packte sich seinen Koffer und wollte zur Tür hinaus, als er aufgehalten wurde.
"Du hast etwas vergessen!"
Aber was? In Gedanken überprüfte Chris noch einmal seine Checkliste, aber er hatte alles erledigt. Selbst das Gartentor hatte er abgeschlossen.
Aber Eddies genervter Blick zeigte, dass ihm wohl doch etwas entgangen war. Fragend zog er seine Schultern hoch.
"Dein Handy! Du hast mir versprochen, es auszuschalten und wegzupacken, bevor wir ins Taxi steigen. Es reicht schon, wenn sie dich sonst zu allen möglichen und unmöglichen Uhrzeiten anrufen. Ich will in diesem Urlaub das Gebimmel von dem Scheißding nicht hören!"
Schuldbewusst kramte Chris in seiner Jacke, nahm das Handy, schaltete es aus und legte es auf die Garderobe. Eddie hatte ja recht, aber als Zollfahnder im Bereich der organisierten Kriminalität musste er halt immer für die Kollegen erreichbar sein.
Chris war froh, dass Eddie durch eine frühere Beziehung – ausgerechnet mit Chris' Expartner bei der Kripo, Mike Niemcek - Erfahrung im Zusammenleben mit einem Polizisten hatte. So hatte er Verständnis, dass er zu den unmöglichsten Zeiten zu einem Einsatz rausgerufen wurde. Es wäre eine Lüge, zu behaupten, dass Eddie Chris' Job und das damit verbundene Berufsrisiko mochte, aber er hatte gelernt, sich damit zu arrangieren. Ein Punkt war, dass er mit seiner eigenen Autowerkstatt seine Arbeitszeiten Chris' Zeiten anpassen konnte.
Um den Taxifahrer nicht noch länger warten zu lassen, sparte sich Chris einen Kommentar, nahm seinen Koffer und verließ das Haus.
Eddie folgte sofort.
Als sie im Taxi saßen und losfuhren, fand Eddies Hand wie zufällig ihren Weg auf Chris' Bein.
Diese Wärme, die von der Hand ausging, entspannte Chris. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Jetzt hatte er Zeit zu träumen, denn die Fahrt würde etwa eine halbe Stunde dauern.
Mehr als ein halbes Jahr war er jetzt mit Eddie zusammen.
Es war ein Wunder, dass sie es nach fast acht Jahren doch noch geschafft hatten, ein Paar zu werden. Wenn er da nur an das letzte Jahr dachte, hatte Chris immer noch ein flaues Gefühl im Magen.
Im Nachhinein hatte er das Gefühl, dass sie umeinander herumgetanzt waren, zuerst zu nah, dann waren sie erschrocken auf Abstand gegangen und dann, ja dann tanzten sie ganz langsam wieder aufeinander zu, vorsichtig, zögernd und doch mit dem Willen, sich wieder näher zu kommen.
Und sie hatten es geschafft, waren entgegen aller Vorhersagen immer noch zusammen.
Wie hatte es Mike kurz nach Weihnachten ausgedrückt: "Fisch findet Fahrrad" Jetzt konnte Chris darüber lachen, aber damals hatte Mikes Spruch noch etwas weh getan.
Aber jetzt würde er Eddie nicht verlassen. Nie wieder. Es war schon seltsam, bei keiner Frau hatte Chris jemals den Gedanken ‚für immer' gehabt, aber bei Eddie kam gar nichts anderes in Frage.
Ein sanfter Druck auf seinem Oberschenkel brachte ihn wieder in die Realität zurück.
"Na, hast du davon geträumt, am Strand zu liegen und dass ich dir den Rücken einmassiere?"
"Nein, ich hab' davon geträumt, am Strand zu liegen, von dir den Rücken einmassiert zu bekommen und schönen Mädchen nachzuschauen."
Die Antwort war nur Eddies Grinsen, das Chris sämtliche Mädchen sofort vergessen ließ. Er versank in Eddies Augen und wünschte sich nicht an den Strand, sondern alleine mit Eddie ins Hotelzimmer.
"Gott, was würd' ich dafür geben, wenn wir das Einchecken und den Flug schon hinter uns hätten."
"Dabei bist du von unserem Urlaubsort nicht so begeistert", wurde er von Eddie aufgezogen.
"Klar, wir sind Deutsche und fliegen nach Amerika. Jetzt, wo die Amis gerade Krieg spielen und die Deutschen die Rolle des Spielverderbers übernehmen. Die Nachrichten sind doch voll mit den aberwitzigsten Meldungen. Und dann willst du ausgerechnet nach San Francisco."
Okay, bevor sie sich langweilten, dann kabbelte sich Chris lieber mit Eddie. Er war sich sicher, so die Taxifahrt, das Einchecken und einen Großteil des Fluges überbrücken zu können.
"Ach, was hast du denn gegen San Francisco?", kam es auch seidenweich von Eddie zurück.
"Dort ist es staubig, du musst die Straßen rauf und runter laufen und es ist die Hochburg der Schwulen!"
"Ich glaube, du hast da was übersehen!"
Ein Kichern unterdrückend, schaffte es Chris, einen unschuldigen Augenaufschlag zu mimen.
"Ach ja? Was denn?"
"Du bist mit mir zusammen und de facto bist du schwul."
Aus dem Augenwinkel konnte Chris erkennen, dass der Taxifahrer sie immer wieder im Rückspiegel musterte, aber da sein Ausdruck eher neugierig war, konnte Chris es ignorieren.
"Das ist doch nicht das Problem!", wehrte sich Chris.
"Was denn?", kam es prompt von Eddie zurück.
"Dass dort Tausende attraktiver Männer unterwegs sind, die versuchen werden, dich zu vernaschen. Du weißt doch, ich bin eifersüchtig, deswegen wollte ich irgendwohin, wo es keine Konkurrenz gibt."
Jetzt mussten sie beide grinsen, denn Chris war alles, nur nicht eifersüchtig. Bevor es jedoch endgültig in Albernheiten ausbrach, waren sie am Flughafen angekommen.
Als sie in der langen Schlange standen und darauf warteten, ihr Gepäck aufzugeben und ihre Bordtickets zu erhalten, kabbelten sie sich weiter.
Mit keinem anderen Menschen konnte Chris so ausgelassen herumalbern wie mit Eddie, und ihm war klar, dass sie sich im Moment fast schon kindisch benahmen.
Aber es war egal.
Drei Wochen Urlaub mit Eddie und kein Telefon, das ihn an die Arbeit erinnern würde. Mehr brauchte Chris nicht, um glücklich zu sein.
So sehr er seinen Job auch liebte, manchmal hatte er das Gefühl, von seiner Arbeit aufgefressen zu werden. Besonders seitdem er mit seinem Partner Engin Korpak auch in seiner Freizeit in Sachen Bechthold recherchierte, hatte er kaum noch Zeit für Eddie.
In der Schlange ging es nur langsam voran, und mit jeder Minute verlor Chris ein Stück seiner Unbeschwertheit.
Denn als sich Eddie vorbeugte und ihm "Ich liebe dich" ins Ohr hauchte, wurde dies von den missbilligenden Blicken vieler Anwesenden verfolgt.
Chris hasste es. Er hasste es so sehr, dass er sich versteifte und die Nackenmuskeln verkrampfte.
Warum konnten sie ihn nicht in Ruhe lassen? Wenn er wollte, dann könnte er Eddie heiraten, genauso, wie es sein ehemaliger Arbeitskollege Mike vorgemacht hatte. Aber nein, sobald zwei Männer sich anders verhielten, wurden sie von tausend Augen verfolgt.
"Das ist auch ein Grund, warum ich mit dir nach San Francisco wollte." Eddie schien seine Gedanken zu lesen. "Du verkrampfst dich jedes Mal, wenn ich in der Öffentlichkeit zeige, dass wir mehr sind als Freunde. Und das nur, weil einige Omas meinen, uns anstarren zu müssen. Das Problem werden wir in San Francisco nicht haben."
"Glaubst du wirklich, dass uns da keiner hinterher starrt?"
Wieso musste Eddie nur fast einen Kopf größer sein? Vor einigen Jahren, als er feststellte, dass er das erste graue Haar hatte, hatte sich Chris jegliche Komplexe bezüglich seines Aussehens abgewöhnt. Aber Eddie war nun mal so groß und um ihm etwas ins Ohr zu hauchen, musste er sich schon auf die Zehenspitzen stellen und das nervte schon ein wenig. Eddie hatte es da viel einfacher, er brauchte sich nur herunter zu beugen.
Eddie war sich seiner Wirkung bewusst. Er wusste, dass er mit seinem Wuschelkopf – seine braunen Haare ließen sich auch mit Gel kaum bändigen - und dem Dackelblick aus seinen grünbraunen Augen unwiderstehlich aussah. Wieder beugte er sich vor, zog Chris ein kleines Stück zu sich und redete, nein flüsterte fast schon. Um ihn zu verstehen, musste Chris noch näher ranrücken.
"Doch, aber aus einem ganz anderen Grund. In San Francisco fragen sie sich, was wir wohl nachts anstellen. Und ob wohl eine Chance besteht, einen von uns zu vernaschen. Was meinst du, was in den Köpfen der ignoranten Omas hier vorgeht? Sie sind neidisch auf uns, und das ist der Grund, warum sie uns anstarren."
Gott, wieso musste Eddie in diesem leicht heiseren Tonfall flüstern? Und dann noch dieser Blick. Konnte er sich den nicht für später aufheben, wenn sie alleine in einem Zimmer waren?
Aber nein, er musste mal wieder herausfordern.
"Edgar Sänger! Hör' auf, mich so zu provozieren, sonst vergess' ich mich noch!"
Aber Eddie grinste nur. Ihm war es egal, ob die Leute hinschauten oder nicht, denn er legte auch noch demonstrativ seinen Arm um Chris und ließ eine Hand auf seiner Hüfte ruhen.
Chris ergab sich seinem Schicksal. Wenn Eddie in dieser Stimmung war, dann konnte ihn nichts aufhalten. Er versuchte, das Beste daraus zu machen, diese lockere Umarmung zu genießen und die Blicke der Umstehenden zu ignorieren; es gelang aber nicht ganz.
Es kam ihm wie ein Spießrutenlauf vor, bis sie endlich vor dem Schalter standen.
Dort wurden sie auch direkt mit einem eisigen Lächeln begrüßt. Chris ahnte schon Übles.
Als sie ihr Gepäck aufgegeben hatten, ihre Bordtickets überreicht bekamen und einen Blick darauf warfen, wusste Chris, was die nette Dame am Schalter mit ihnen gemacht hatte. Sie hatten keine Plätze nebeneinander, sondern waren quer durch das ganze Flugzeug getrennt.
Gleichzeitig bekam Chris mit, dass am Nachbarschalter ein Pärchen zusammen einen Fensterplatz bekam.
So hatte er sich den Beginn seines Urlaubs nicht vorgestellt. Wie er diese mehr oder weniger subtile Diskriminierung hasste!
Aber bevor Chris seiner Wut ein Ventil verschaffen konnte, hatte sich Eddie mit seinen 1,91 Metern vor dem Schalter aufgebaut und blickte auf die Angestellte hinab.
"Hören Sie mir gut zu: Wenn Sie meinen, uns durch ihre Borniertheit ärgern zu wollen, dann sag' ich Ihnen, was wir machen werden, wenn Sie uns nicht zusammensetzen. Wir werden uns während des ganzen Fluges auf einer der Toiletten miteinander vergnügen. Es ist eine Unverschämtheit, dass Sie es nicht schaffen, Paaren auf Hochzeitsreise anständige Plätze zu geben!"
Das Gesicht der Schalterangestellten war in diesem Moment Gold wert, obwohl Chris nach Eddies Worten am liebsten im Boden versunken wäre. Aber leider war es fester Beton und in dieser Menschenmenge konnte er auch nicht abhauen, ohne Eddie aus den Augen zu verlieren.
Eddie wusste doch genau, dass er solche Sachen nie mitmachen würde. Dafür war Chris nicht locker genug. Auch wenn das Zusammenleben mit Eddie ihm ein recht dickes Fell beschert hatte, exhibitionistische Veranlagungen hatte Chris immer noch nicht. Und auf Hochzeitsreise waren sie auch nicht. Gut, dass Eddie nur den letzten Satz herausgebrüllt hatte. Und die Stimmung sämtlicher Anwesenden schien sich auf einmal zu wandeln: von Verachtung in Amüsiertheit.
Eddies Auftritt zeigte seine Wirkung. Zwei Minuten später hatten ihre Bordtickets. Für nebeneinander liegende Plätze. Einer davon sogar am Fenster.
Mit einem Blick auf Eddies vergnügtes Gesicht beschloss Chris, keinen weiteren Ton zu sagen und es zu genießen.
Eddies kleine Ansprache schien noch weitere Folgen zu haben, denn als sie im Flugzeug saßen, brachte ihnen eine Stewardess Champagner und gratulierte ihnen.
Chris wagte es gar nicht, zu Eddie zu schauen, denn er wusste, dass er nur ein sehr selbstzufriedenes Lächeln sehen würde.
Der restliche Flug verlief friedlich. Der Bordfilm war einschläfernd und irgendwann lag Eddies Hand wieder auf Chris' Oberschenkel.
Als sie endlich gelandet waren, den Zoll durch hatten und den San Francisco International Airport verlassen konnten, war es früher Nachmittag und sie waren beide ziemlich fertig. Elf Stunden Flug und dazu die Wartezeiten in Frankfurt gingen ziemlich an die Kondition. Auch wenn sie zwischendurch etwas geschlafen hatten.
Wie es sich für San Francisco gehörte, war es draußen sehr warm, und als sie das angenehm kühle Flughafengebäude verließen, bekamen sie fast einen Hitzeschock.
Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel und eine leichte Brise brachte kaum Abkühlung.
Mit dem klimatisierten Taxi kamen sie recht schnell zum Sir Francis Drake Hotel.
Chris staunte nicht schlecht, als er sah, dass es sich um ein fünf Sterne Palast handelte. Und ärgerte sich, dass Eddie ihn nicht darüber informiert hatte, was für ein Hotel er gebucht hatte. Aber das war wieder einmal typisch für Eddie, dass er nicht freiwillig mit solchen Informationen rausrückte.
Für so einen Nobelschuppen hätte Chris seinen einzigen Anzug eingepackt. Aber da er keine Lust gehabt hatte, dieses Teil nach der Ankunft zu bügeln, hatte er darauf verzichtet. Bei Eddie war es anders. Der packte immer Sachen für jede Gelegenheit ein.
Chris tröstete sich mit dem Gedanken, dass Eddie dies tat, weil er halt stockschwul war.
Aber was sollte es? Wozu sich über fehlende Kleidung ärgern? Schließlich war er auch zum Shoppen hier. Eddie wollte ihn beim Einkauf beraten, damit sein Repertoire nicht mehr nur aus Jeans und Hemd bestehen würde. Da konnten sie auch noch zwei Anzüge fürs Dinner kaufen. Chris wollte sich nicht am ersten Urlaubstag mit Eddie über so eine Kleinigkeit streiten. Deswegen ersparte er sich jeden Kommentar zu diesem Thema.
Das Einchecken verlief problemlos und sie brauchten noch nicht mal ihre Koffer hochzutragen. Für Chris war es ein erster Vorgeschmack auf den Service, den sie die nächsten Tage genießen würden.
Aber als sie ihre Suite betraten, bekam Chris einen erneuten Schock. Diese Zimmer waren nicht nur sehr geräumig, sie waren vor allem kitschig.
"Was für eine Suite hast du hier gebucht? Das ist ja grausam!" Eigentlich wollte Chris Eddie nicht so anmachen, aber seine Nerven waren nach den letzten Stunden einfach überreizt.
Am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen, aber es war zu spät, der Vorwurf war raus.
Auch Eddie wirkte nicht gerade glücklich.
"Ich habe die Honeymoon-Suite gebucht, aber so einen Geschmack habe ich den Amis nun doch nicht zugetraut. Ich finde es auch schrecklich. Wenn du willst, schau ich, ob wir in ein anderes Zimmer umziehen können."
Das wollte Chris auch nicht. Er wollte nicht, dass Eddie sich wegen der Zimmerfarben mit dem Personal rumärgern musste.
"Glaubst du wirklich, dass es in den anderen Zimmern besser ist? Ich glaube es nicht. Nee, lass mal, die Einrichtung ist in Ordnung, und da wir tagsüber was unternehmen wollen, kann ich nachts mit der Farbe leben."
Währenddessen gingen sie weiter ins Schlafzimmer. Rosa war zwar nicht wirklich Chris' Lieblingsfarbe und die ganzen Rüschen schmerzten seine Augen, dafür war das Bett aber eine geniale Spielwiese, die alle Farben wieder wettmachte.
Er wollte gerade ausprobieren, ob das Bett auch so bequem war wie es aussah, als Eddie in sein Ohr flüsterte.
"Sind jetzt immer noch irgendwelche Omas in der Nähe, die dich zum Eisblock erstarren lassen? Wir sollten in unseren Urlaub reinfeiern! Eine Flasche Sekt steht im Kühler und wir können uns das Abendessen aufs Zimmer bringen lassen. Schließlich sind wir offiziell in den Flitterwochen, da dürfen wir das."
Diese Stimme erzeugte bei Chris eine Gänsehaut, und alle Diskussionen über Farben waren die nächsten Stunden vergessen.
Wieso hatte er sich überhaupt darauf eingelassen, mit Eddie Klamotten kaufen zu gehen? Der Kerl war ja noch schlimmer als alle Freundinnen, die er jemals gehabt hatte. Und wieso mussten in dieser beschissenen Stadt alle Verkäufer schwul sein? Warum gab es kein Gesetz dagegen?
Chris und Eddie hatten eine herrliche Urlaubswoche miteinander verbracht. Göttliche Nächte und tagsüber hatten sie San Francisco erkundet. Wenn sie nicht zu Fuß unterwegs waren, dann nahmen sie eins von den drei noch fahrenden Cable Cars. Eine gute Kondition bekam man dann schnell.
Ob Russian Hill, Haight-Ashbury oder das Regierungsviertel Civic Center, überall waren sie schon durchgelaufen. Hand in Hand, ohne dass sich ein Mensch daran gestört hatte.
Alles war fantastisch gelaufen, bis Eddie heute Morgen vorgeschlagen hatte, doch endlich für Chris die neue Kleidung zu besorgen.
Chris hatte zugestimmt, nicht ahnend, was für eine Tortur auf ihn zukam.
Am Vormittag hatten sie am Union Square sämtliche Geschäfte und Designerläden abgeklappert.
Jeder Verkäufer, auf den sie dort trafen, war nicht nur schwul, sondern hatte auch noch denselben Geschmack wie Eddie.
Für Chris bedeutete das, sich ständig umziehen zu müssen, ständig Eddies kritischem Blick ausgesetzt zu sein, keinen Einfluss darauf zu haben, welche Klamotten er nun anprobieren sollte - die wurden ihm laufend in die Kabine gereicht - und schließlich seine Kreditkarte zu zücken und zu bezahlen, ohne genau zu wissen, was jetzt in der Tüte war. Er wusste nur, dass bei Armani ein schwarzer Anzug Teil seiner neuen Ausstattung geworden war. Bei dem Preis, den er dafür bezahlen durfte, kamen ihm die Tränen.
Nach einer kurzen Mittagspause schlug Eddie vor, ins Haight-Ashbury Viertel zu gehen, weil er dort am Vortag noch einige hippe Kleidungsstücke gesehen hatte.
Chris war zwar ziemlich genervt, konnte aber Eddies Augen wieder einmal nichts entgegensetzen und verbrachte den Nachmittag damit, durch sämtliche Hippieläden durchgereicht zu werden.
Nun hatte es Chris aber endgültig satt. Mehr Taschen konnte und wollte er nicht tragen. Und er würde einen Schreikrampf kriegen, sollte Eddie in den nächsten Jahren die Wortkombination ‚gemeinsam für dich Klamotten kaufen' noch einmal in den Mund nehmen.
Eddie hatte zwar noch einen weiteren Laden heimsuchen wollen, der nach Aussage des letzten Verkäufers (ja, auch der war schwul) die besten Seidenhemden der Stadt hatte, aber Chris hatte gestreikt.
Jetzt waren sie schwer bepackt auf dem Rückweg zum Hotel.
Das Hotel hatte die Empfehlung ausgesprochen, den Stadtteil Tenderloin möglichst und ganz besonders in der Nacht zu meiden, aber er lag auf dem direkten Weg zum Hotel. Und Chris hatte weder Lust noch Nerven, auch nur einen Meter mehr zu laufen als unbedingt notwendig.
Eddie hatte zwar noch versucht, Chris von seinem Vorhaben abzubringen, aber da es in dieser Stadt kein Taxi gab, wenn man es wirklich brauchte, gab er diesen Versuch nach fünf Minuten auf.
Weitere zehn Minuten später wünschte sich Chris, auf Eddie gehört zu haben, denn dieses Viertel hatte eine bedrohliche Atmosphäre. Die Häuser in dem Straßenzug waren heruntergekommen und auch die Menschen, die auf der Straße waren, sahen nicht wirklich vertrauenerweckend aus.
So gingen sie eng nebeneinander und ziemlich zügig den schmalen Gehweg entlang. Einige seltsame Gestalten kamen ihnen zwar entgegen, gingen Chris und Eddie aber ziemlich schnell aus dem Weg.
Nur ein Typ, der wohl betrunken war, steuerte in Schlangenlinien auf sie zu. Ihm schien es egal zu sein, dass Chris' Miene und seine Körpersprache einen unterdrückten Wutausbruch signalisierten.
Er schaffte es sogar, Chris anzurempeln, als sie auf gleicher Höhe waren.
Bei Chris gingen sämtliche Alarmanlagen los. Er blieb stehen, ließ seine Einkaufstaschen fallen und tastete nach seiner Geldbörse. Wie befürchtet war sie weg.
"Rühr dich nicht von der Stelle, Eddie! Das Schwein hat mein Portemonnaie geklaut, den hol ich mir. Ich bin gleich wieder zurück!"
"Verdammt Chris! Lass das! Wir sind hier nicht in Frankfurt! Bleib stehen! Dir könnte sonst noch was passieren!"
Aber das war Chris egal, er war auf hundertachtzig. Er achtete nicht auf Eddie, hatte nur Augen für den Typen, der sein Geld und seine Kreditkarte hatte. Man hatte ihm schon mal sein Auto vor seinen Augen geklaut, ohne dass er eingreifen konnte, aber mit seinem Geld würde das nicht passieren! Es musste sich doch irgendwann mal lohnen, dass er eine Polizeiausbildung hatte.
Die Verfolgung ging über zwei Blocks und führte in eine abgelegene Seitenstraße des Tenderloin. Hier waren keine Menschen mehr auf der Straße und Chris konnte den Widerhall seiner Schritte an den Hauswänden hören. Es war fast schon unheimlich. Doch er dachte nicht ans Aufgeben, schließlich holte er auf.
Dann blieb der Typ plötzlich stehen und drehte sich um. Chris, der bereits dicht hinter ihm war und ihn fast eingeholt hatte, wurde davon überrascht und lief voll in ihn hinein. Und in das Messer, das der in seiner Hand hielt.
Chris spürte den Schmerz in seinem Bauch, und als er an sich hinab blickte, sah er das Messer, das direkt unter seiner linken Rippe in seinem Körper steckte. Dann bemerkte er das Blut, das durch sein Hemd sickerte.
Als er wieder aufblickte, sah er den entsetzten Gesichtsausdruck des Mannes, der geschockt vor ihm stand.
"Gib mir mein Portemonnaie zurück", verlangte Chris von dem Dieb. So kurz vor dem Ziel wollte Chris nicht aufgeben.
Dieser wich einen Schritt zurück. Chris folgte ihm, obwohl jede Bewegung höllisch schmerzte.
"Gib mir mein Portemonnaie!"
Dieses Mal wich der Mann nicht zurück, sondern wühlte mit einer fahrigen Bewegung in seiner Tasche und holte die Geldbörse raus, die er in Chris ausgestreckte Hand drückte. Dann drehte er sich um und lief davon.
Er bekam nicht mehr mit, dass Chris in die Knie ging
Chris spürte nur noch die Schmerzwellen, die durch seinen Körper rasten. Irgendwo in seinem Hinterkopf sagte ihm eine Stimme: Du musst wieder zu Eddie! Du kannst ihn nicht allein lassen!
Er versuchte, diesem Befehl zu folgen, schaffte es auch noch irgendwie, sich umzudrehen und in Eddies Richtung zu robben, auch wenn dieser ein ganzes Stück entfernt war, aber dann verlor er die Kontrolle über seinen Körper. Er spürte nur noch den Schmerz. Er wollte die Augen offen halten und um Hilfe rufen, aber selbst das gelang ihm nicht mehr.
Verzeih mir Eddie, ich bin so ein Idiot.Und dann wurde alles schwarz.
Als Chris erwachte, war es kalt. Er zitterte und sein ganzer Körper schmerzte. Er öffnete die Augen, aber es blieb dunkel, er konnte nichts sehen. Dann versuchte er, sich zu bewegen, doch stieß schon nach wenigen Zentimetern auf Widerstand. Einige tastende Bewegungen später war ihm klar, dass er wohl in einem engen Kasten steckte. Und er war nackt. Nur ein dünnes Tuch lag über seinem Körper.
Er versuchte noch einmal, sich zu bewegen. Aber die Wände bestanden aus Metall und gaben nicht nach.
Chris merkte, dass er kurz vor einem Panikanfall stand. Sein Atem war schnell und unregelmäßig und das Herz schien zu rasen. Er versuchte, die Panik zu unterdrücken, und schaffte es, sich davon abzuhalten, wie wild gegen die Wände zu treten und zu stoßen. Er versuchte, sein hektisches Atmen unter Kontrolle zu bekommen, und zwang sich dazu, langsam ein und aus zu atmen.
Auch wenn er die körperlichen Reaktionen unter Kontrolle hatte: Die Panik war unterschwellig immer noch vorhanden. Er musste sie bekämpfen.
Wo war er? Was war passiert? Chris versuchte, seine letzten Erlebnisse zu rekonstruieren. Aber irgendwie endete seine Erinnerung damit, dass Eddie versuchte, ihn in ein weiteres Geschäft zu zerren. Soweit er wusste, hatte er sich geweigert und sie waren zum Hotel gegangen.
Aber was war in der Zwischenzeit passiert? Wo war Eddie?
Wieder drohte eine Panikwelle Chris zu überschwemmen und wieder kämpfte er dagegen an. Als er seine Atmung endlich halbwegs unter Kontrolle hatte, fühlte er plötzlich einen stechenden Schmerz im Kopf, der sofort zu einem leichten Dröhnen hinabsank.
Hatte er die Kopfschmerzen schon vorher gehabt? Was war nur los mit ihm? War er etwa gestorben?
Die Idee an sich war absurd, aber sein Aufenthaltsort erinnerte Chris irgendwie an einen Kühlschrank in der Gerichtsmedizin. Von außen hatte er solche Kästen schon oft genug gesehen.
Aber dann würde man sich in den nächsten Stunden um ihn kümmern. Er brauchte nur zu warten, bis er ein Geräusch hörte, und musste sich dann bemerkbar machen, dann wäre alles wieder im Lot.
Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen.Chris wollte seine Vermutungen nicht weiterspinnen. Es war besser, nicht darüber nachzudenken. Es würde reichen, wenn ihm später irgendjemand erklären würde, was mit ihm passiert war. Wenn er jetzt alleine grübeln würde, dann wäre er innerhalb der nächsten Minuten ein Fall für die Klapsmühle.
Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Ganz ruhig, ganz langsam, nur nicht aufregen. Denke an nichts, konzentriere dich auf deine Atmung, atme nicht zu schnell und nicht zu langsam.Es war keine fünf Minuten her, dass sich Chris so auf seine Atmung konzentriert hatte, als er plötzlich eine Bewegung spürte.
Die Schublade, in der er lag, wurde herausgezogen, obwohl er vorher keine Geräusche gehört hatte.
Chris erwartete, dass einige Weißkittel um ihn herumstehen würden und überrascht waren, dass er die Augen geöffnet hatte. Nachdem er einige Male geblinzelt hatte und sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, sah sich Chris erstaunt um. Es waren anscheinend keine Mediziner im Raum. Statt dessen sah er in das Gesicht einer schönen schwarzhaarigen Frau. Und die sah nach vielem aus, nur hatte sie keine Ähnlichkeit mit einer Pathologin. Dafür wirkte sie auf Chris zu raubtierhaft. Und die schwarze Kleidung deutete auch nicht auf irgendeinen medizinischen Beruf.
Spontan tippte Chris darauf, dass sie eine Diebin war. Aber warum öffnete sie dann den Kasten? Oder war er doch nicht in einer Leichenhalle?
Chris kam nicht dazu, weiter darüber nachzugrübeln, denn die Unbekannte sprach ihn an .
"Aufstehen, Sie waren lange genug in diesem Kasten. Ich hoffe, Sie haben ausgeschlafen."
Auch wenn sie recht leise sprach, konnte Chris sie sehr gut verstehen. Ihr Englisch hatte eindeutig einen leichten französischen Akzent.
Jetzt wusste Chris gar nicht mehr, was los war und blickte sie einfach nur an.
Was will sie von mir?Dabei versuchte er, sich aufzurappeln. Trotz der Kälte, die in seinen Gliedern saß, gelang es ihm auf Anhieb. In sitzender Position fühlte er sich direkt schon besser.
"Nun kommen Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Gleich macht der Wachdienst seine Runde und ich habe keine Lust, hier erwischt zu werden."
Sie streckte ihm auffordernd eine Hand entgegen. Automatisch packte Chris sie und ließ sich von ihr hochziehen. Schließlich war seine Schublade recht weit unten. Dann bekam er eine Tasche in die Hand gedrückt.
"Ich hoffe, es passt Ihnen, nur müssen Sie im Moment ohne Schuhe auskommen, ich wusste nicht, welche Größe ich ihnen besorgen sollte."
In dem Beutel befanden sich Unterwäsche, eine Jeanshose und ein Hemd.
"Beeilen Sie sich, wir haben nicht viel Zeit!"
Wie aufs Stichwort wurde die Türklinke bewegt.
Chris wusste nicht, wie ihm geschah.
Mit einem Ruck wurde er weggezogen und hinter einen Schreibtisch verfrachtet. Die Frau schaffte es auch noch, die Schublade zu schließen und sich eng an ihn gedrückt in derselben Ecke zu verstecken.
Es war auch keine Sekunde zu früh. Chris konnte aus seiner Position nichts erkennen, er konnte nur Schritte hören, die sich dem Kühlschrank näherten. Dann hörte er eine Stimme in einem grauenhaften kalifornischen Dialekt. Chris hatte Mühe, ihn zu verstehen.
"Es tut mir leid, dass wir Ihnen diesen Anblick nicht ersparen können, aber Sie müssen diesen Mann bitte identifizieren, Herr Sänger!"
Oft genug hatte Chris diesen Satz schon zu anderen Menschen gesagt und jedes Mal hatte er sich elend gefühlt, wenn er diesen Ausdruck von Trauer und Horror auf den Gesichtern der Angehörigen gesehen hatte.
Dann realisierte er, dass dort Eddie stand. Sein Eddie, der seine Leiche identifizieren sollte.
Oh mein Gott.
Er wollte aufstehen, Eddie zeigen, dass er nicht tot war. Eddie in den Arm nehmen und sich davon überzeugen, dass Eddie nichts passiert war.
Aber die Frau ließ es nicht zu.
Sie hielt ihn fest und legte eine Hand auf seinen Mund, dass er nicht schreien konnte.
Und ausgerechnet in diesem Moment merkte Chris, dass er immer noch nackt war und dass diese Frau verführerische Rundungen hatte. Und sein kleiner Freund richtete sich trotz der Kälte steil auf.
Chris wusste, dass es jetzt besser war, sitzen zu bleiben. Denn selbst wenn er sich jetzt zu erkennen gab, war der Ärger mit Eddie vorprogrammiert.
Also blieb er da, wo er war, und horchte, was sonst noch passieren würde.
Er hörte, wie eine Schublade geöffnet wurde. Und er hörte auch, wie anschließend noch weitere Schubladen hektisch aufgerissen wurden.
Dann konnte er noch verstehen, wie man sich umständlich bei Eddie entschuldigte.
Chris konnte nicht jedes Wort verstehen. Schließlich hatte man ihm den Rücken zugedreht und sie sprachen leise, aber er konnte sich alles zusammenreimen.
Als Eddie nach einigen Sekunden auf die Entschuldigung reagierte, erkannte Chris am Tonfall, dass Eddie kurz davor stand, zusammenzubrechen.
In diesem Moment war ihm alles egal, er wollte nur raus und seinen Freund trösten.
Er versuchte, sich aufzurichten, doch wieder stellte sich diese Frau in den Weg.
Dieses Mal deutete sie wortlos auf eine Pistole mit Schalldämpfer, die sie auf seine Magengegend gerichtet hatte.
Bei dem Chaos, das im Raum herrschte, würde wirklich niemand mitbekommen, wenn sie abdrücken würde.
Und tot war er für Eddie keine Hilfe.
Zähneknirschend fügte sich Chris seinem Schicksal.
Wenige Minuten später war er wieder allein mit der Frau.
Diese erhob sich und packte in aller Seelenruhe ihre Waffe weg.
Jetzt hatte Chris zum ersten Mal die Möglichkeit, seine Retterin näher zu begutachten.
Sie war schlank, fast so groß wie er selbst, hatte schwarze Augen und ein ebenmäßiges Gesicht. Sie war eine Schönheit.
Der einzige Makel war ihr entschlossener Gesichtsausdruck und die Leichtigkeit, mit der sie die Waffe handhabte.
"Haben Sie jetzt genug gestarrt? Wenn Sie sich nicht erkälten wollen, dann sollten Sie sich so schnell wie möglich anziehen und mit mir kommen. Bei mir zu Hause werde ich Ihnen alles erklären."
Chris wollte zu einer Erwiderung ansetzen; es wurmte ihn, dass dieses Persönchen einfach so über ihn bestimmte.
"Vergessen Sie es. Sie können mich nicht überwältigen. Und wenn Sie das Polizeigebäude verlassen wollen, ohne aufzufallen, dann sollten Sie mir folgen. Ich bin übrigens Amanda. Und wie heißen Sie?"
"Schwenk, Chris Schwenk. Aber wieso holen Sie mich hier raus, wenn Sie nicht einmal wissen, wer ich bin?"
"Ziehen Sie sich endlich an. Bei mir zu Hause bekommen Sie eine Erklärung. Nicht früher und nicht später. Beeilen Sie sich, sonst kommt wirklich noch der Wachdienst, bevor wir hier raus sind."
Resigniert zog sich Chris an. Dann folgte er Amanda durch das ganze Gebäude.
Eigentlich hatte er gedacht, dass es niemand fertig bringen würde, ungesehen in ein Polizeigebäude einzudringen und mit einer zweiten Person im Schlepptau wieder herauszukommen.
Aber sie war ein Profi. Insgeheim bewunderte er jede ihrer Bewegungen. Sicher und zielstrebig. Sie schien die Position von jeder Kamera in dem Gebäude zu kennen und ahnte instinktiv, wann ein Polizist vorbeikam und sie sich in eine Ecke drücken mussten und wann sie weitergehen konnten.
Chris war mehrfach versucht, sich einem der Polizisten zu erkennen zu geben, aber Amanda schien seine Gedanken lesen zu können, denn genau in diesen Momenten spürte er wieder, wie sich die Mündung der Waffe in seine Seite bohrte.
So waren sie nach noch nicht einmal zehn Minuten draußen.
Dort wurde Chris von Amanda in eine Seitenstrasse zu ihrem Wagen bugsiert. Es schien ein teurer Sportflitzer zu sein, aber Chris konnte die Marke nicht erkennen.
Eddie hätte sie sofort erkannt.
Er unterdrückte diesen Gedanken und konzentrierte sich auf die Strecke. Das war bei Amandas Fahrstil und der Dunkelheit nicht einfach. Chris war mehr damit beschäftigt, sich festzuhalten, als dass er auf den Weg achten konnte.
Nach einer kleinen Ewigkeit, die nicht länger als zehn Minuten gedauert haben konnte, waren sie angekommen.
Chris tippte, dass sie irgendwo in der Gegend von Russian Hill waren. Hügelig genug war es dafür.
Sie standen vor einer Tiefgarage und warteten, dass das Tor sich komplett öffnete.
Chris wusste, dass dies eigentlich der beste Moment für einen Fluchtversuch war. Aber inzwischen hatte er nachgedacht und war neugierig geworden. Er wollte wissen, was Amanda ihm erzählen würde.
Vielleicht wusste sie, wie und vor allem warum er ins Leichenschauhaus gekommen war.
Deswegen blieb er sitzen und wartete.
Er merkte allerdings, dass ihm Amanda einen prüfenden Blick zuwarf.
Sie wusste also auch, dass dies der passende Moment zur Flucht war, und sie hatte keinen Versuch gemacht, ihn im Voraus daran zu hindern.
Kurz darauf waren sie in Amandas Wohnung.
Amanda begleitete ihn ins Wohnzimmer, wo er staunend stehen blieb. Man hatte nicht nur einen fantastischen Blick auf das nächtliche San Francisco, das Wohnzimmer war sehr nobel eingerichtet.
Chris verstand zwar nicht sehr viel von Kunst, aber genug um zu erkennen, dass jedes Stück eine Antiquität und wahrscheinlich auch sehr viel wert war.
Wo bin ich hier gelandet?Währenddessen ging Amanda zur Bar und schüttete einen Whisky ein. Ein anderes Glas füllte sie aus einer Wasserkaraffe. Dann kam sie wieder zu ihm.
"Trinken Sie, das wird Ihnen gut tun. Wenn Sie möchten, dann kann ich auch noch etwas zu essen bestellen. Der Chinese um die Ecke ist hervorragend!"
Damit reichte sie ihm das Whiskyglas. Chris nahm es und roch daran, konnte sich aber nicht überwinden zu trinken. Er misstraute ihr.
"Danke und nein. Entschuldigen Sie, ich bin noch etwas durcheinander. Bitte sagen Sie mir, was passiert ist, damit ich wieder nach Hause kann."
"Sie können nicht mehr nach Hause."
Dieser simple Satz brachte Chris zum Ausrasten. Mit einem Schrei warf er das Glas an die Wand.
"Ich werde wieder nach Hause gehen. Selbst wenn Sie mich durch die Hölle schicken wollen, wird es mich nicht aufhalten, wieder zu meinem Freund zurückzugehen. Ich glaube nicht, dass es einen vernünftigen Grund gibt, warum ich nicht zurückkehren sollte."
"Doch, es gibt einen Grund. Sie sind tot."
Sie sprach es so ruhig und gelassen aus, dass Chris es einfach nicht fassen konnte. Er sollte tot sein?
"Erinnern Sie sich, wo Sie aufgewacht sind. Sie waren im Leichenschauhaus. Und da kommt man selbst in Amerika nicht ohne Grund hin."
Chris wich sämtliches Blut aus seinem Gesicht. War er verrückt? War er tot und merkte es nur nicht? War diese Frau sein Todesengel und sollte ihn in den Himmel geleiten? Was war nur passiert?
Er registrierte nicht wirklich, wie er von ihr zum nächsten Sofa dirigiert wurde und sie ihn sanft darauf niederdrückte. Dann wurde Chris erneut ein Glas in die Hand gedrückt. Dieses Mal trank er es mit einem Zug aus.
Es brannte. Und wie es brannte! Er hustete und keuchte und nach einigen Minuten hatte er seine Atmung wieder unter Kontrolle.
"Was war das?", brachte er mit einem Krächzen heraus.
"Das ist ein Geheimrezept von Lucy, das verrät sie niemandem! Ich bekomme von ihr jedes Jahr zum Geburtstag eine Flasche und mit der muss ich ein Jahr auskommen. Aber es wirkt und hat geholfen, Sie wieder in die Realität zurückzubringen."
Wer auch immer diese Lucy sein mochte, Chris schwor sich, sie umzubringen.
"Geht es Ihnen jetzt wieder besser?"
Wenn nicht dieser amüsierte Unterton in Amandas Stimme gewesen wäre, dann hätte Chris ihr die Besorgnis abgenommen. So hatte er nur das Gefühl, dass sie sich über ihn lustig machte.
"Haben Sie irgendwas zu trinken, das keinen Alkohol hat und mir nicht die Innereien verbrennt?"
"Aber sicher."
Amanda ging noch einmal zur Bar und kam mit einem Krug und einem Glas zurück.
"Mögen Sie Wasser ohne Kohlensäure? Garantiert kein Alkohol und geschmacksneutral."
Kommentarlos goss sich Chris das Glas voll und trank es in einem Zug aus. Dann füllte er es ein zweites Mal, trank es aber nicht ganz aus. Er musste das Glas mit beiden Händen halten, um zu verhindern, dass er das Wasser verschüttete. So sehr zitterten seine Finger.
Als Chris das Gefühl hatte, nicht mehr von innen zu verbrennen, wendete er seine Aufmerksamkeit wieder Amanda zu, die ihm gelassen zusah.
"Können Sie mir sagen, was wirklich passiert ist? Ich glaube nicht wirklich daran, dass ich gestorben bin und Sie ein Engel sind, der mich in den Himmel geleitet."
Ein amüsiertes Lachen kam über Amandas Lippen.
"Nein, ein Engel bin ich wirklich nicht. Aber ich bin auch kein Teufel, obwohl Duncan das manchmal von mir behauptet."
Mit diesem Kommentar war Chris genauso klug wie vorher. Also versuchte er es noch mal.
"Können Sie mir sagen, was passiert ist und warum ich im Leichenschauhaus aufgewacht bin?"
Amanda trank einen Schluck aus ihrem Glas.
"Viel habe ich nicht mitbekommen. Ich war im Tenderloin und habe Sie plötzlich gespürt. Als ich mich umblickte, sah ich, wie Sie einem zwielichtigen Typen hinterher rannten, und kurz darauf sind Sie wie ein dummer Junge in sein offenes Messer gelaufen. Leider konnte ich mich nicht sofort um Sie kümmern, da ich nicht alleine unterwegs war und es aufgefallen wäre. Da ich ein zu weiches Herz habe, beschloss ich, Sie aus dem Leichenschauhaus rauszuholen und Sie in allem zu unterweisen, was Sie wissen müssen, um zu überleben."
Die Erinnerung kam wieder. Chris wusste genau, wo ihn das Messer getroffen hatte. Mit einer hektischen Bewegung zog er das Hemd hoch und untersuchte die fragliche Stelle. Aber da war nichts. Es war keine Wunde zu sehen, noch nicht mal eine Narbe. War er vielleicht doch tot?
"Geben Sie mir Ihre Hand!"
"Bitte?"
"Nun geben Sie sie schon her, sonst werden Sie es nie kapieren!"
Nur zögerlich gab Chris Amanda seine Hand. Er misstraute ihr.
Und das Misstrauen schien auch gerechtfertigt zu sein. Denn kaum hatte sie seine Hand gepackt, als sie auch schon eine Scherbe vom Whiskyglas durch seine Handfläche zog.
Der Schmerz war im ersten Moment fürchterlich, und Chris versuchte, sich loszureißen. Amanda war zwar ein wenig kleiner und auch zierlicher als Chris, aber sie hatte viel Kraft, und er schaffte es nicht, seine Hand aus ihren Klauen zu bekommen.
"Nun halten Sie doch endlich still. Wissen Sie, wie teuer es ist, diese Polstergarnitur reinigen zu lassen? Halten Sie still und schauen Sie zu. Da Sie ein Frischling sind, wird es zwar einige Minuten dauern, aber dann werden Sie es fühlen und erkennen."
Da Chris nicht von ihr wegkam, fügte er sich ihrer Anordnung und beobachtete seine Verletzung. Aber außer dem Blut, das floss und nun doch auf die Couch tropfte, konnte er nichts besonderes sehen.
Chris wollte schon einen ironischen Kommentar von sich geben, als er die Veränderung bemerkte. Kleine blaue Lichtzungen zuckten über die verletzte Stelle. Er fühlte ein seltsames Kribbeln, das den Schmerz verdrängte, und dann schloss sich vor seinen Augen die Wunde und verheilte, ohne eine Narbe zu hinterlassen.
Chris schluckte, er schluckte noch einmal und dann blickte er ungläubig Amanda an.
Was war mit ihm passiert?
"Bist du jetzt bereit, mir zuzuhören? Und versuch nicht, mich ständig zu unterbrechen."
Auf Amandas Frage konnte er nur nicken.
"Gut, dann sage ich dir, was ich über dich weiß. Du bist Waise. Entweder bist du in einem Waisenhaus aufgewachsen oder hattest Adoptiveltern."
"Ich bin bei den besten Adoptiveltern aufgewachsen, die man sich nur wünschen kann."
Amanda seufzte theatralisch.
"Du hast mich schon wieder unterbrochen. Wie geht es weiter? Ach ja, es ist dir nicht gelungen, etwas über deine wirklichen Eltern herauszufinden, egal, wie sehr du dich bemüht hast. Was weiß ich noch über dich? Du hast keine Kinder. Wenn eine Frau behauptet, dass sie ein Kind von dir hat, dann solltest du einen Vaterschaftstest machen lassen, denn du kannst keine Kinder bekommen."
Nach einer kleinen Pause, in der Amanda wieder einen Schluck trank, fuhr sie fort.
"Sonst weiß ich nichts über dich. Außer, dass ich jedes Mal Kopfschmerzen bekomme, wenn du in meine Nähe kommst, die nach einem Moment zu einem leichten Dröhnen im Hinterkopf abklingen. Hast du auch dieses Gefühl?"
Nach einem Moment des Nachdenkens erinnerte sich Chris, dann nickte er.
"Gut. Das liegt daran, dass wir von derselben Art sind. Ich weiß nicht, wie sie heißt, aber mir erscheint der Begriff ‚Homo sapiens immortalis' ziemlich passend. Okay, das hört sich jetzt ziemlich gestelzt an, aber im Klartext bedeutet es, dass du unsterblich bist."
Chris konnte es nicht fassen, was Amanda ihm erzählte. Er hoffte nur, dass es ein Albtraum der übelsten Sorte war und er gleich aufwachen würde.
Sie schien seine Gedanken lesen zu können.
"Leider ist dies kein Albtraum, aus dem du aufwachen kannst. Ab sofort kannst du nicht mehr sterben, außer man schlägt dir deinen Kopf ab. Dann bist du wirklich tot. Und sollte ein anderer Unsterblicher in dem Moment in deiner Nähe sein, dann übernimmt er all deine Lebensenergie. Also sei vorsichtig, mit wem du dich einlässt."
Amanda war wirklich bemüht, Chris zu überzeugen, aber er konnte, besser gesagt, wollte ihr nicht glauben.
Auch als sie ihm erklärte, welche Regeln es bei den Unsterblichen gab, dass er auf heiligem Boden sicher war und dass er mit einem Schwert zu kämpfen lernen sollte, da schüttelte er immer wieder den Kopf.
Er erwachte aus seiner Erstarrung, als Amanda erwähnte, dass sie eine gute Quelle kannte, wo er neue Ausweispapiere bekommen könnte.
"Wieso soll ich mir eine neue Identität zulegen? Ich bin Chris Schwenk und werde wieder in mein normales Leben zurückkehren. Davon wirst du mich nicht abhalten können."
"Du willst nicht verstehen, was ich versuche, dir die ganze Zeit klar zu machen! Du bist TOT. T - O - T. Gestorben, umgebracht, dahingeschieden, wie auch immer man es ausdrücken mag. Dein Freund war heute schon im Leichenschauhaus, um dich zu identifizieren. Was glaubst du, was passiert, wenn du wieder auftauchst? Er wird einen Herzinfarkt bekommen! Du kannst nicht zurück! Du musst dir ein neues Leben aufbauen und versuchen, so lange wie möglich zu überleben!"
"Warum sollte ich ohne Eddie weiterleben?"
Erst in dem Moment, wo er die Frage aussprach, wusste Chris, wie bitterernst es ihm war. Ohne Eddie war das Leben ohne Licht. Er hatte zu lange gebraucht, um ihn zu finden, als dass er noch ohne ihn leben wollte und konnte.
Chris beobachtete Amanda, die ihren Mund öffnete und zu einer Antwort ansetzte, dann schloss sie ihn wieder und schaute Chris einfach nur an. Sie schien einen Moment nachzudenken, bevor sie weiter sprach.
"Weißt du, was du ihm antust, wenn du jetzt wieder zurückkehrst? Er wird immer älter, während du nicht alterst. Du stellst für ihn eine Gefahrenquelle dar. Mann, du bist ein Frischling, hast keine Ahnung, wie man mit einem Schwert umgeht. Weißt du, wie viele Jäger auf eine Beute wie dich warten? Und wenn sie dich nicht bekommen, dann nehmen sie halt deinen Lover als Geisel, damit locken sie dich ganz schnell aus deinem Versteck raus. Sie bringen dann entweder dich oder deinen Lover um. Und wenn's demjenigen Spaß macht, dann tötet er euch beide. Bevorzugt so, dass du zusehen musst, wie er zu Tode gefoltert wird. Willst du das wirklich?"
Amanda hatte sich vor Chris aufgebaut, während sie ihm die Standpauke hielt. Er hatte seinen Kopf in seine Hände vergraben und heimlich, still und leise rann eine Träne durch seine Finger. Es war einfach zu viel. Chris wusste nicht weiter.
Als Amanda dies bemerkte, wurde sie wesentlich ruhiger. Sie hockte sich vor ihm hin, zog seine Hände hinunter, obwohl er sich sträubte, hob seinen Kopf an und sah ihm in die Augen. Chris erkannte Mitgefühl und ein wenig Mitleid. Dann sprach sie weiter.
"Ich habe dir wohl zuviel zugemutet. Es tut mir leid, aber du musst so schnell wie möglich lernen, dass das Leben als Unsterblicher wesentlich gefährlicher ist als du denkst. Nur die wenigsten überleben die erste Zeit. Selbst die, von denen man erwartet, dass sie stark genug sind, geraten oft genug an den Falschen."
Sie stand auf und reichte Chris eine Hand.
"Komm mit. Ich zeige dir dein Zimmer. Morgen reden wir noch einmal darüber. Vielleicht finden wir ja einen Ausweg für dich und deinen Eddie."
Er nahm ihre Hand und ließ sich in das Gästezimmer bringen. Einen klaren Gedanken konnte er in diesem Moment nicht finden. Alles wirbelte durcheinander. Besonders die Worte ‚unsterblich' und ‚du musst Eddie verlassen' tauchten immer wieder auf.
In dieser Nacht fand Chris keinen Schlaf. Immer wieder stand er auf, ging ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Ganz besonders die Stelle, wo das Messer in seinen Körper eingedrungen war und nichts von dieser Verletzung zu sehen war. Es war einfach unglaublich.
Nach einigem Suchen fand er eine Rasierklinge. Damit wiederholte er Amandas Demonstration an seiner Hand. Und wieder verheilte die Verletzung spurlos.
Er hasste Amanda, weil sie ihm diese Veränderung gezeigt hatte. Er gab ihr die Schuld für seine Unsterblichkeit, obwohl er tief im Innern wusste, dass sie nichts dafür konnte.
Chris verfluchte sie in allen Sprachen, die er kannte. Aber irgendwann gingen ihm die Worte aus, und er starrte wieder in den Spiegel. Dann zerschlug er ihn mit seiner Faust. Er war ihm egal, dass es schmerzte, es würde eh wieder heilen.
Er hockte sich auf den Boden und wartete, dass die Hand aufhörte zu bluten. Dass er dabei das Badezimmer großzügig mit Blutspritzern verzierte, interessierte ihn nicht.
Als alles wieder verheilt war, ging er zurück ins Gästezimmer und legte sich ins Bett, drehte sich aber von einer Seite auf die andere. Chris fragte sich, was Eddie wohl in diesem Moment tat. Saß er im Hotelzimmer und trauerte oder versuchte er, sich in einer der unzähligen Kneipen von San Francisco zu betrinken? Ließ er sich etwa von irgendeinem Typen anmachen, nur um nicht nachzudenken, was heute passiert war?
Oh mein Gott, hilf mir, dies zu überstehen.Chris war nicht wirklich gläubig, aber sonst gab es niemanden, der ihm weiterhelfen konnte.
Kurz vor Sonnenaufgang gab er auf.
Er zog sich an und ging auf die Terrasse, die ans Wohnzimmer anschloss. Dort beobachtete er, wie sich die Sonne einen Weg durch die vereinzelten Nebelbahnen kämpfte und schließlich in ihrer ganzen Pracht aufging.
Warum erlebte er nur dann solche Sonnenaufgänge, wenn es ihm besonders dreckig ging? So wie damals, als er die ganze Nacht auf Eddie gewartet hatte und nicht wusste, ob er noch eine Chance hatte, ob ihre Beziehung überhaupt noch eine Chance hatte.
Damals hatte er gedacht, dass es nichts Schlimmeres gab.
Diese Nacht war Chris eines Besseren belehrt worden.
Amanda hatte sich zu ihm gesellt, hielt aber Abstand und schien sich aufs Beobachten zu beschränken.
Erst als die Sonne ein ganzes Stück über dem Horizont stand, spürte Chris die Hand, die sich vorsichtig auf seine Schulter legte.
"Dir ist es mit dem, was du gestern gesagt hast, wirklich ernst?"
"Was meinst du?" Chris wusste nicht genau, worauf Amanda jetzt anspielte.
"Dass dein Leben ohne deinen Freund nicht lebenswert ist, dass du keinen Sinn mehr in deinem Leben siehst, wenn du ihn verlassen musst."
"Ja, ich habe zu lange gebraucht, um zu ihn zu finden, er ist der Mittelpunkt meines Lebens."
Chris drehte sich nicht um, wartete dennoch auf Amandas Reaktion.
"Dann geh zu ihm zurück. Selbst wenn ich dir alles beibringe, was ich über Schwertkampf und das Leben als Unsterbliche weiß, ohne den festen Willen zu überleben, würdest du im ersten Kampf deinen Kopf verlieren."
"Und wie soll ich zu Eddie zurückkehren? Du hast mir doch selbst gesagt, dass ich für ihn tot bin."
"Da war doch der Dieb, der dir das Portemonnaie gestohlen hat?", fing Amanda vorsichtig an. Aber Chris war zu durcheinander, um zu begreifen, was sie meinte.
"Ja, und?"
"Was wäre, wenn ich gesehen hätte, wie er dich niedergeschlagen hat und er deswegen abgehauen ist?"
"Und was ist mit der verschollenen Leiche?"
"Kommt darauf an! Was hast du gestern angehabt?"
Chris ahnte, worauf Amanda hinaus wollte.
"Jeans, weißes Shirt, einfache Schuhe. Schmuck trage ich keinen und eine Uhr hatte ich auch nicht an."
In Chris stieg ein kleiner Hoffnungsschimmer auf, aber er wagte es nicht, sich zu ihr umzudrehen.
"Dann war der Tote wohl der Dieb, den sie anhand deiner Geldbörse falsch identifiziert hatten. Außerdem ist das nicht unser Problem, darum sollen sich die Polizisten kümmern. Am besten erzählen wir allen, dass ich gestern durch meine Auftauchen verhindert habe, dass er mit dir mehr angestellt hat, als dir nur eins über den Schädel zu ziehen. Anschließend konnte ich dich schlecht da liegen lassen, da es eine sehr üble Gegend ist. Da ich nicht wusste, ob du genügend Geld hattest, um einen Arzt zu bezahlen, und du auch keinen Ausweis hattest, habe ich dich in meinen Wagen verfrachtet und hierhin gebracht. Als du heute Morgen aufgewacht bist, hat sich die ganze Sache aufgeklärt und du wolltest statt zum Arzt erst mal zu deinen Freund, damit er sich keine Sorgen macht. Deine Kleidung war total versaut und ich habe diese stinkende Masse komplett entsorgt. Diese Klamotten sind von meinem Exfreund. Lass dich da auf keine Diskussionen mit deinem Freund ein, sonst vermutet er noch, dass du mit mir ins Bett gestiegen bist."
Amanda textete Chris mit ihren Anweisungen voll und er fragte sich, wie er das alles behalten sollte, aber wenn er wirklich sein Leben fortführen wollte, war dies wohl seine einzige Chance. Er sparte sich einen Kommentar und hörte ihr zu.
"Dann meldest du im Hotel an der Rezeption den Diebstahl deiner Geldbörse und deiner Ausweispapiere. Deswegen werden wohl einige Polizisten rauskommen und dich befragen, aber da keine Leiche mehr vorhanden ist, kriegst du wahrscheinlich anstandslos deine Papiere wieder."
"Und du glaubst, dass man mir das abnimmt?"
"Ganz bestimmt. So wie du aussiehst, glaubt man dir sofort, dass du ziemlichen Stress gehabt hast. Aber tu dir einen Gefallen. Weigere dich, einen Arzt aufzusuchen."
Ein leichtes Lächeln stahl sich auf Chris' Lippen. Es gab doch einen Weg zurück zu Eddie. Er glaubte nicht, dass die Gefahr, die ihm Amanda geschildert hatte, wirklich so groß war.
"Eddie kennt mich und weiß, wie gern ich zum Arzt gehe. Das ist kein Problem."
"Gut, aber du musst mir noch eins versprechen…"
"Was?" Also hatte das Ganze doch einen Haken. Chris hatte es schon fast erwartet. Jetzt drehte er sich zu ihr um und versuchte, seine Emotionen unter Kontrolle zu bekommen.
"Lerne zu kämpfen. Du bist doch Deutscher, oder? Wo wohnst du?"
"In Frankfurt, aber warum willst du das wissen?"
"Gut. Ich werde nächsten Monat wieder für längere Zeit nach Paris ziehen. Ich erwarte von dir, dass du mich einmal im Monat besuchst, damit ich dir die Grundlagen zum Überleben beibringe. Selbst mit dem Zug sind es nur einige Stunden! Ich werde nicht zulassen, dass dich ein anderer Unsterblicher einfach so köpfen kann."
"Warum tust du das für mich? Wenn ich alles verstanden habe, sind wir doch alle nur darauf aus, dieses gottverdammte Spiel zu gewinnen."
Amanda schüttelte nur den Kopf.
"Es gibt viele, die sind machthungrig und wollen gewinnen. Aber ich will einfach nur mein Leben genießen. So lange wie es geht. Und ich verteidige mich, wenn jemand versucht, meinen Kopf zu nehmen."
Schon wieder wich sie ihm aus. Sie gab ihm keine wirkliche Antwort auf diese Frage. Doch Chris wollte es wissen und ließ nicht locker.
"Warum kümmerst du dich um mich?"
Chris hörte ihr resigniertes Seufzen.
"Okay, ich hätte damit rechnen müssen. Du hast mich im Tenderloin für einen kurzen Augenblick an einen anderen Mann erinnert. Er war Polizist. Und ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich für ihn mehr empfinde als nur Freundschaft."
Amanda schien zu überlegen, dann fuhr sie fort.
"Ich kann spüren, ob jemand das Potential hat, unsterblich zu werden. Das können nur wenige von uns. Deswegen wusste ich, dass er, Nick, irgendwann zu uns gehören würde. Und als es soweit war, lehnte er es ab. Er wollte, genau wie du, nicht unsterblich sein. Für ihn war es kein Segen, sondern ein Fluch. Und dann ist er gegangen. Ich hatte nie eine Chance, ihm beizubringen, wie er überleben kann, und ich weiß nicht, ob er noch lebt oder ob er seinen Kopf verloren hat."
Amanda schwieg einen Moment. Sie schien mit ihren Gedanken ganz weit weg zu sein. Dann seufzte sie leise und fuhr fort.
"Ich habe inzwischen begriffen, dass es seine Entscheidung war, die ich ihm nicht abnehmen konnte. Ich muss es akzeptieren. Wenn du dich gegen das Leben als Unsterblicher entscheidest, dann muss ich es genauso hinnehmen. Aber ich kann dafür sorgen, dass du auch genug Informationen hast, um überhaupt wählen zu können. Nachdem ich dich in der letzten Nacht aus dem Kasten rausgeholt habe, habe ich auch Verantwortung für dich übernommen. Reicht dir das?"
In Amandas Augen konnte Chris erkennen, wie ernst es ihr war. Und auf einmal war seine ganze Wut, sein ganzer Hass, den er in der Nacht ihr gegenüber aufgebaut hatte, verschwunden.
Es war so einfach, Chris ging einen Schritt auf sie zu und nahm Amanda in die Arme. Und Amanda nahm das unausgesprochene Angebot an und schmiegte sich in die Umarmung.
Chris konnte ihr keinen Trost anbieten, nur seine Nähe.
Alles war so gelaufen, wie es Amanda vorhergesagt hatte. Man hatte ihnen die Story abgenommen. Chris musste sich nur etwas wehren, da man ihn unbedingt zum Arzt schicken wollte. Aber schließlich hatten die Polizisten nachgegeben.
Am schwierigsten war es gewesen, Eddie gegenüber zu treten. Er hatte nicht gewusst, was er sagen sollte. Wie sollte er seinem Freund auch beibringen, dass er in der vorhergehenden Nacht gestorben und wiederauferstanden war?
Selbst jetzt suchte Chris immer noch nach Worten, wie er es Eddie erklären konnte.
Er stand am Fenster ihrer Suite und wartete auf den Sonnenaufgang.
Schlafen konnte er schon seit Stunden nicht mehr. Irgendwann hatte er sich aus Eddies Armen gewunden und war rastlos in ihrer Suite auf- und abgelaufen.
Aber er hatte noch immer keine Lösung gefunden und fragte sich, ob er jemals eine finden würde.Kurz bevor die Sonne ihre ersten Strahlen über den Himmel schickte, hört Chris ein leises Geräusch hinter sich. Dann spürte er, wie Eddie ihn von hinten umarmte. Chris schmiegte sich an Eddies Brust. Es war ein Gefühl der Geborgenheit, das er niemals missen wollte.
Gemeinsam standen sie da und beobachteten den Sonnenaufgang.
Chris brach zuerst das Schweigen.
"Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du dir solche Sorgen um mich machst. Ich weiß auch nicht, was da in mich gefahren ist."
"Ich hätte wissen müssen, dass man dich nicht ungestraft einen ganzen Tag von einem Geschäft zum nächsten schleppt. Ich kenne dich lange genug, um zu wissen, wie du darauf reagierst."
Erschrocken befreite sich Chris aus Eddies Umarmung und drehte sich um.
"Sag das nie wieder! Mach dir nie wieder Vorwürfe, wenn ich mal wieder impulsiv handle. Ich kann es nicht ertragen, wenn du dich damit quälst."
Doch damit trat Chris eine Sintflut los. Aus Eddie schien die ganze Angst, die unendliche Verzweiflung der letzten Stunden herauszubrechen.
"Ach, was soll ich denn sonst machen, wenn du mich mitten auf der Straße stehen lässt, um einem Dieb hinterher zu jagen? Besonders wenn du nicht zurückkommst! Weißt du, was in mir vorging, als ich eine halbe Stunde auf dich gewartet hatte und du immer noch nicht zurück warst? Weißt du, was ich fühlte, als ich alleine ins Hotel ging? Weißt du, was in mir vorging, als du auch nicht im Hotel warst? Weißt du, wie grauenhaft es war, als mich der Concierge an die Polizei weitervermittelt hat und die mir Löcher in den Bauch gefragt haben? Weißt du, wie beschissen es mir ging, als spät in der Nacht die Polizisten dann vor mir standen und mich aufforderten, einen Toten zu identifizieren? Kannst du nachempfinden, was ich fühlte, als ich vor diesem verdammten Leichenschrank stand und die ein Fach nach dem anderen öffneten und sie die Leiche verlegt hatten?"
Eddie brach in ein hysterisches Lachen aus.
"Und dann sitze ich die ganze Nacht allein hier rum, weiß nicht, was ich denken soll. Habe Angst, dass das verdammte Telefon klingeln könnte, und ein Polizist sich meldet, dass sie deine Leiche wieder gefunden haben. Wünsche mir, dass das Telefon klingelt und du dich meldest. Verdammt, du bist einfach so in eines der gefährlichsten Viertel von San Fran gelaufen und dann tauchst du am nächsten Morgen barfuß, in fremden Klamotten, in den Armen dieser schönen Französin auf und erklärst mir, dass du so gerade eben noch Glück gehabt hast. Und jetzt, jetzt erwartest du von mir, dass ich mir keine Vorwürfe mache! Verdammt Chris! Gib mir nie wieder einen Grund, mir Vorwürfe zu machen!"
Oh mein Gott, Eddie!Chris nahm Eddie in seine Arme; wie sollte er ihm jemals erklären, dass er in der Leichenhalle gewesen war, dass er seine Verzweiflung miterlebt hatte? Wie konnte er Eddie begreiflich machen, dass er unsterblich geworden war? Es würde Eddie verletzen. Und das war das letzte, was Chris wollte.
Er war weiter von einer Lösung seiner Probleme entfernt als jemals zuvor.
Den restlichen Urlaub verbrachten sie wie sie auch die erste Woche verbracht hatten. Tagsüber Sightseeing und nachts liebten sie sich bis zur totalen Erschöpfung. Aber die Unbeschwertheit der ersten Woche war endgültig verloren gegangen.
Chris bezweifelte, dass sie diese Leichtigkeit jemals wieder finden würden.
Und es fehlte noch etwas, aber Chris wusste nicht, was. Er wusste nur, dass es etwas sehr Wichtiges war.
Jede Nacht litt Chris unter Schlaflosigkeit, die ersten Stunden lag er immer still, hoffte, dass Eddie nicht aufwachen würde, doch irgendwann stand er auf und lief ziellos durch die Suite. Oft genug stand er im Badezimmer und betrachtete sich. Aber es gab keine Veränderung zu sehen. Jede Nacht nahm er dann sein Rasiermesser und schnitt sich. Und jedes Mal verheilte der Schnitt nach wenigen Minuten und bewies, dass es kein wilder Albtraum war.
Irgendwann stand er dann an einem der Fenster. Dort beobachtete Chris, wie die Sonne über San Francisco aufging, und er wurde jeden Tag wieder von Eddie ins Bett geholt. Und doch sprachen sie nicht darüber. Fragende Blicke von Eddie bekam Chris genug, aber er konnte sich einfach nicht überwinden, über seine Erlebnisse in jener Nacht zu berichten.
Selbst das Essen schmeckte nicht mehr. Ein Bekannter hatte Chris und Eddie empfohlen, unbedingt ins "Stinking Rose" zu gehen, da es für San Francisco ein absolutes Muss wäre. Chris war von Engin einiges an Knoblauch gewöhnt, aber diese Vielfalt schlug alles. Als dann das Essen auf dem Tisch stand und Eddie ihm mit seltsam verschlossenem Gesicht gegenübersaß, da war ihm der Appetit vergangen. Er ließ das Gericht fast unangerührt wieder zurückgehen. Eddie schien es ähnlich zu gehen. Und als sie anschließend wieder im Hotel waren, liebten sie sich, bis Eddie erschöpft einschlief.
Doch Chris fand keinen Schlaf. So sehr er auch grübelte, er fand keine Lösung, wie er wieder in einen normalen Trott finden würde.
Irgendwie war Chris erleichtert, als sie auf dem Rückflug waren.
Er überlegte jetzt schon seit Tagen, was fehlte.
Erst als sie zur Landung ansetzten, wusste er, was es war. Eddie hatte ihn seit jener Nacht nur noch in der Dunkelheit und in der Einsamkeit ihrer Suite berührt. Sämtlichen mehr oder weniger zufälligen Berührungen, die er sonst den ganzen Tag über so freigiebig verteilte, war Eddie aus dem Weg gegangen. Und jetzt vermisste Chris Eddies Hand auf seinem Oberschenkel.
Er hoffte, dass sich mit der Zeit einiges ändern würde. Und dass er die ganze Beziehung wieder ins Lot bringen konnte. Tief in seinem Innern sagte ihm ein kleines Teufelchen, dass er es nicht vermeiden konnte, Eddie die Wahrheit zu erzählen.
