A/N: Das ist meine erste FanFiction. Ich habe mich immer gewundert, daß die sensible Anne nicht von selbst erkannt hat, was und wieviel sie für Gilbert empfindet. Diese Idee hat mich nicht mehr losgelassen, also habe ich versucht, sie aufzuschreiben. Viel Spaß damit!


„Was mache ich hier eigentlich?!" dachte sich Anne, als sie sich in dem festlichen Ballsaal umsah. Egal wo sie hinschaute, sah sie fröhliche Gesichter, lachende und schwatzende Freunde, herumwirbelnde Paare auf der Tanzfläche. Sie fühlte sich irgendwie nicht dazugehörend, als ob sie sich im ruhenden Auge eines Sturms befand, während um sie herum der Wind toste.

Innerlich seufzend schaute sie den mehr als gutaussehenden Mann an, der neben ihr stand. Royal Gardner , der heißbegehrteste Junggeselle der Stadt. Der Mann, der äußerlich ihrem romantischen Ideal dermaßen entsprach, das es ihr fast Angst machte. Er hatte sie mit seinem Aussehen, seinem Charme, seinen Blumen und Gedichten ziemlich schnell für sich eingenommen. Aber in den wenigen Momenten, in denen sie ehrlich zu sich selbst war, konnte sie ihre innere Stimme nicht überhören. „Du hast Dich doch nur mit ihm abgegeben, weil er Deinem Traummann aus deinen Kindheitsträumen bis auf's Haar gleicht. Und weil Du Dich ohne Gilbert so einsam gefühlt hast." „Gilbert!" Diesmal seufzte sie sogar hörbar.

Sie vermisste ihn mehr, als ihr Stolz erlauben würde, es je zuzugeben. Seit dem verhängnisvollen Nachmittag im Garten von Patty's Place, an dem er sie gebeten hatte, ihn zu heiraten. Nein, sie konnte nicht an ihn denken, an den Ausdruck in seinen Augen und wie weiß sein Gesicht geworden war, als sie ihn zurückgewiesen hatte. An den Anblick, wie er fortging und sie seinen Rücken anstarrte und zu begreifen begann, daß sie etwas unschätzbar Kostbares verloren hatte. Bis heute war ihr nicht ganz klar, wie sie es hätte verhindern können oder was sie dagegen tun sollte. In den Wochen danach fühlte sie sich so verloren und einsam. Und Heimweh nach Avonlea und ihrem Zuhause Green Gables, nach Marilla und sogar Rachel Lynde hatte sie sowieso die ganze Zeit, seitdem sie am Redmond College studierte. Ihre Freundinnen Phil, Priscilla und Stella waren immer für sie da, aber doch war es irgendwie anders. Unauffällig schaute sie in ihre Handtasche. Ja, da war sie. Die goldene Kette mit dem pinkfarbenen Herzanhänger, die Gilbert ihr mal zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie hatte sie nie getragen, weil sie meinte, daß sich die Farbe nicht mit ihren roten Haaren vertrug. Obwohl Pink ja eine ihrer Lieblingsfarben war. Gilbert wußte das natürlich. Er allerdings war der Ansicht, das so ein kleines Stück weit weg von ihren Haaren doch wohl nicht so schlimm sei. Irgendwie tat es ihr gut, einen Teil von ihm bei sich zu haben. Sie trug die Kette seit seinem Antrag stets bei sich. Es gab ihr zumindestens das Gefühl, ihn nicht ganz verloren zu haben.

„Vielleicht sollte ich doch nochmal versuchen mit ihm zu reden", dachte sie. Wieder ließ sie ihren Blick über die Menge schweifen. Da entdeckte sie am Ende des Saals eine hübsche dunkelhaarige Frau. Christine Stuart. Gilbert Blythe war dann sicherlich nicht weit entfernt. Doch so sehr sie auch nach ihm suchte, er war nicht da. Erst war sie enttäuscht. Sie hätte so gern, wenn auch nur kurz mit ihm gesprochen. Da sie beide mit anderen Begleitungen gekommen waren, wäre ein längeres Gespräch unhöflich gewesen. Aber es schien, als ob Christine dieses Mal alleine zum Ball gefahren war. Sie war erleichtert. „Jetzt mach mal halblang, Anne!" schalt sie sich selbst. „Du hörst Dich ja an, als ob die eifersüchtig wärst. Warum solltest Du wohl erleichtert sein?! Du hättest doch so gern mit ihm gesprochen." Manchmal verstand sie sich selbst nicht.

„Jetzt konzentriere Dich lieber auf Roy!" ermahnte sie sich. Der war aber so im Gespräch mit seinem Studienkollegen vertieft, das er gar nicht bemerkt hatte, daß Anne in Gedanken ganz weit weg war. Sie lauschte dem Gespräch eine ganze Weile und begann sich zu langweilen. Es war ihr schon desöfteren aufgefallen, daß Roy nicht wirklich Humor hatte. Er brachte sie nicht zum Lachen. Und ihre Witze und Anekdoten aus Avonlea verstand er häufig nicht. Sie hatte schon lange aufgegeben, ihm von ihren Träumereien zu erzählen. In ihre imaginären Welten konnte er ihr nicht folgen. Aber er war intelligent, kultiviert und überschüttete sie mit Blumen und selbstgeschriebenen Gedichten. Das hatte sie sich immer gewünscht. Aber insgeheim fragte sie sich, ob auch nicht dieses eines der vielen Dinge in ihrem Leben war, in der die Realität nicht ihren Vorstellungen entsprach.

Die Gedanken in ihrem Kopf fingen an zu kreisen und wurden schneller und schneller. Der Lärm in dem Ballsaal durch die laute Tanzmusik und die vielen Gespräche und das Gelächter machten ihr zu schaffen und gingen ihr auf die Nerven.

„Ich muß hier raus", dachte sie und verließ fluchtartig den Saal. Im Foyer traf sie Phil.

„Anne! Du siehst ja ganz durcheinander aus! Ist alles in Ordnung mit Dir? Geht's Dir gut?" fragte Phil, als sie Anne sah. Anne war noch blasser als sonst und ihre grau-grünen Augen waren riesengroß. Und in ihnen flackerte eine Unruhe, die Phil besorgniserregend fand.

„Phil, mach Dir keine Sorgen! Das ist nur der ganze Streß mit der Lernerei. Ich bin ein wenig überreizt und der Geräuschpegel hier tut sein übriges. Ich werde einfach nach Hause fahren und mir ein wenig Ruhe gönnen."

„Soll ich Dich begleiten?" fragte Phil hilfsbereit. „Nein, bleib Du ruhig bei Jo und genieß den Abend!" Anne schnappte sich ihren Mantel und verschwand an die frische Luft.

Kaum war sie draußen angekommen, beruhigte sie sich langsam. Sie überlegte, ob sie zu Fuß nach Hause gehen sollte. Aber es war zu kalt, um die ganze Strecke zu laufen, auch wenn sie über ihrem dünnen grünen Abendkleid einen Mantel trug. Sie hätte natürlich wieder reingehen und Roy bitten können, sie zu fahren. Aber sie wollte ihn jetzt nicht sehen. Sie wollte nur endlich zur Ruhe kommen, damit sie herausfinden konnte, was sie so beschäftigte. Sie ging zu einer der Kutschen und stieg ein. „Matthew war der einzige, der mich beruhigen konnte, wenn ich aufgeregt war. Und natürlich Gil…" „Wohin soll es gehen Miss?" unterbrach der Kutscher ihre Gedanken.

„Fahren Sie mich bitte zum Boarding House in der Kensington Street", sagte Anne. Die Kutsche setzte sich in Bewegung und dann erst realisierte Anne, daß sie den Kutscher nicht zu Patty's Place sondern zu Gilberts Unterkunft geschickt hatte. Ihr erster Impuls war, ihn zu korrigieren, aber dann vertraute sie einfach ihrem Unterbewußtsein. Ihr untrüglicher Instinkt sagte ihr, daß sie genau da sein sollte - bei Gilbert. Sie seufzte wieder…

Was würde sie zu ihm sagen? Wie würde er reagieren? Würde er sie überhaupt sehen wollen?

Die Kutsche hatte zwischenzeitlich das Ziel erreicht und hielt vor dem großen grauen Steinhaus, in dem Gilbert, Moody und Charlie untergebracht waren.

In ihrem Magen startete ein Schmetterlingsschwarm einen Ausflug und in ihrem Hals bildete sich ein großer Kloß. Sie bezahlte den Kutscher und bedankte sich, wobei ihre Stimme sich verdächtig krächzig und unsicher anhörte. Sie fühlte sich wie mit elf, als sie verloren auf dem Bahnsteig von Bright River stand und darauf wartete, daß Matthew sie abholte.

Trotz der Kälte ging sie langsam zur Tür. Die Bewohner des Hauses schienen entweder bereits zu schlafen oder waren auf dem Ball. Nur im Wohnzimmer war noch Licht zu sehen. Sie nahm allen Mut zusammen und ihr behandschuhter Finger drückte entschlossen die Klingel.