Teil 1
Remus Lupin erwachte, als ein Sonnenstrahl ihm direkt in die Augen fiel. Er blinzelte und merkte, dass er wieder einmal versäumt hatte, seine Bettvorhänge sorgfältig zu schließen. Durch einen Spalt drangen Sonnenstrahlen ein und tanzten auf seinem Gesicht, als wollten sie ihn erinnern, was für ein Tag heute war.
Sonntag.
Er schob einen Teil der Bettvorhänge zur Seite und schaute sich im Jungenschlafsaal um. Nichts rührte sich.
Er seufzte, als der Gedanke, was heute für ein Tag war, in seinen Verstand vordrang.
Vollmond.
Leise begannen die typischen Kopfschmerzen zu klopfen, aber er schob sie beiseite. Erstmal war Tag, ein wundervoller Tag, an die Nacht konnte er später noch denken. Er zwang sich, nur an Eines zu denken.
Sonntag.
Wohliges Nichtstun, Herumalbern mit den Freunden, vielleicht James beim Quidditch-Training zusehen, oder doch vielleicht lieber in der Zeit mit Sirius durch das Schloss stromern. Peter würde sicherlich nicht mitkommen. Solange sein Idol James durch das Stadion schoss, war nicht daran zu denken, ihn auch nur einen Schritt aus dessen Nähe zu bekommen.
Remus musste bei dem Gedanken schmunzeln, seine Freunde hatten ihre unverwechselbaren Eigenheiten und es gab auch den Jahren der Freundschaft, die sie nun verband immer noch Momente, in denen er es nicht fassen konnte, was für ein Geschenk ihm die drei mit ihrer Freundschaft gemacht hatten.
Er war sicher, es würde niemals in seinem Leben ein größeres Geschenk geben, egal wie alt er wurde, egal wie viel er noch erleben würde.
Lächelnd lauschte er in den Raum hinein. Er hörte Sirius' gedämpftes Schnarchen. Hinter Peters Vorhängen konnte er ein leises Rascheln und unterdrücktes Murmeln hören. Peter und seine Schokofroschkarten. Es gab wohl keinen Jungen, der seine Sammlung mehr liebte, hegte und pflegte.
Von James' Bett her war kein Laut zu hören. Remus beneidete James oft um dessen Fähigkeit tief und fest zu schlafen, als könne nichts ihn stören, ja, als hätte nichts und niemand das Recht, ihn zu stören.
Er gähnte wieder und überlegte, sich noch einmal für eine Stunde hinzulegen, aber er konnte spüren, dass die innere Unruhe ihn daran hindern würde, zu schlafen.
Wenn doch nur dieses verdammte Werwolfsproblem nicht wäre, sein Leben könnte perfekt sein.
Er schüttelte unwillig den Kopf und vertrieb den Gedanken. Dafür wäre an den zwei Tagen nach Vollmond, wenn er im Krankenflügel lag und seine Blessuren auskurierte, noch immer genug Zeit. Heute wollte er den Tag noch einmal richtig genießen, auch wenn der nahende Vollmond ihm das nicht leicht machen würde.
Er stöhnte lautlos. Heute Nacht war es wieder so weit. Die heulende Hütte, die grauenhafte Verwandlung und das schmerzhafte Erwachen am nächsten Morgen.
Wie er es hasste. Er schüttelte sich und zwang sich, diese Gedanken nicht zuzulassen.
„Was soll's", dachte er. Er war jung und es war Sonntag und er hatte großartige Freunde, die ihn nach dem Mond wieder im Krankenflügel besuchen, mit Schokolade voll stopfen und mit selbst erfundenen Zaubern überraschen würden und dann hatte er wieder einen wundervollen Monat Ruhe.
Dies war nun das fünfte Schuljahr und der Herbst hatte das Land erobert. Ein wundervoller Herbst, voller sonniger, windiger Tage, die nur dazu einluden, über die Schlossgründe zu stromern oder bei Regen die geheimen Winkel des Schlosses zu erforschen.
Es war noch zu früh, um schon in Prüfungsstress auszubrechen und sich fieberhaft in die Bücher zu stürzen.
Remus runzelte ein wenig die Stirn, als er daran dachte, was die Prüfungen dieses Jahr bedeuteten und wie viele ZAGs er wohl schaffen würde.
Dann aber schob er auch diesen Gedanken von sich. Nicht jetzt. Nicht heute. Nicht am Tag des Mondes.
Außerdem war Lernen noch nie sein Problem gewesen. Er war fleißig und sehr organisiert, so dass es ihm niemals Mühe machte, sich Wissen in den Kopf zu schaufeln.
Außerdem hatte er einen Garanten für effizientes Lernen: Peter Pettigrew.
Über die Jahre hatte es sich herausgestellt, dass Peter nur dann Dinge begriff und sich merken konnte, wenn Remus sie ihm erklärte. Gut, einige Lehrer schafften es auch, dass Peter das, was sie erklärten, verstand, aber bei niemandem klappte es so gut, wie bei Remus.
Also lernten sie immer gemeinsam, Remus erklärte und fragte ab, Peter lernte und ganz nebenbei zementierte sich das Wissen in Remus' Verstand.
Er musste eigentlich nichts tun, als dafür sorgen, dass Peter in einem Fach fit für die Prüfungen wurde, dann war er es durch das dauernde wiederholen und erklären des Stoffes auch.
Er lächelte, als er daran denken musste, dass er es nicht mal als lästige Pflicht betrachtete, sondern mit der Zeit immer mehr Spaß daran gefunden hatte auch schwierigen Stoff zu erklären und manchmal immer neue Möglichkeiten zu finden, eine bestimmte Sache plausibel zu erklären, bis Peter sie begriffen hatte.
Mehr und mehr kam er zu der Überlegung, dass Lehren etwas war, das er genoss und in den stillen, hoffnungsvollen Stunden des Neumonds malte er sich manchmal aus, wie es wäre, Lehrer zu werden.
Wieder lauschte er in den Raum hinein. Das Murmeln hinter Peters Vorhängen klang leicht mürrisch, und Remus wusste, was sein Problem war.
Vorsichtig, ohne einen Laut zu verursachen griff Remus unter sein Bett und zog ein kleines hölzernes Kästchen hervor. Fast lautlos sprach er den Zauber, der den magischen Verschluss löste und hob den Deckel.
Einige Fotos von seinen Eltern lagen zu oberst. Dann fand sich ein Haufen Krimskrams, den er im Laufe der Jahre angesammelt hatte und von dem er sich nicht trennen mochte. Schließlich, ganz unten lag eine rechteckige Schachtel.
Er zog sie hervor und öffnete sie.
Eine Schokofroschkarte kam zum Vorschein, die Ignatia Wildsmith (1227 - 1320) zeigte, die Hexe, die das Flohpulver erfunden hatte.
Eine sehr, sehr seltene Karte, die Peter schon seit zwei Jahren verzweifelt suchte.
Remus hatte sie zufällig in einem der Schokofrösche gefunden, die Peter ihm nach dem letzten Vollmond in den Krankenflügel gebracht hatte und die unter der Packung mit Berti Botts Bohnen verschwunden war, so dass Peter nicht sehen konnte, welche aus ausgerechnet dieser Froschpackung hervorkam.
Remus war sofort klar gewesen, was er hier gefunden hatte und war überglücklich, damit ein passendes Geschenk für Peters Geburtstag zu haben.
Sein Freund würde vor Freude überschnappen, da war er absolut sicher. Sein Grinsen wurde noch breiter, als er die Karte sorgfältig wieder in die Schachtel steckte, diese unter dem Kram vergrub und das Kästchen magisch verschloss.
Plötzlich bemerkte er, dass es still geworden war hinter den Vorhängen von Sirius' Bett. Kaum hatte er es bemerkt, kam auch schon der Kopf des Jungen in einem Vorhangspalt zum Vorschein.
Die schwarzen Haare hingen wirr in sein Gesicht und er schien noch sehr verschlafen zu sein. Er blinzelte in das helle Licht, sah zu Remus herüber und nuschelte: „Hey Moony."
Da war es wieder. Sie hatten schnell einen Spitznamen für ihn gefunden, was sie von seinem Werwolfdasein erfuhren. Er wünschte sich so sehr, auch für seine Freunde Spitznamen zu finden, die au ihre Besonderheiten trafen, aber so sehr er sich auch bemühte, er fand nichts, was ihn zufrieden stellte. Irgendwie klang alles gekünstelt und nichts traf ihr Wesen so, wie es bei ihm selber der Fall war.
Es ärgerte ihn maßlos, aber was auch immer er sich einfallen ließ war dumm oder albern oder abgedroschen. Komischerweise hatten sie gegenseitig auch niemals etwas gefunden, das sie langfristig verwendeten und so blieb es bei Moony und wechselnden Bezeichnungen für die Anderen.
Er winkte lässig zu Sirius herüber, der herzhaft gähnte und fragte: „Wie spät?"
„Zehn durch."
„Mist, Frühstück verpasst." Sirius knurrte unwillig.
Remus grinste. Nach dem Gelage am Abend vorher war es klar gewesen, dass keiner von ihnen zum Frühstück in der großen Halle wieder auf dem Damm sein würde. Immerhin hatte eine Fete, die von den erwiesenermaßen verrücktesten Schülern der Schule veranstaltet wurde, einen gewissen Ruf zu wahren.
Und so waren die Ausschweifungen nicht von schlechten Eltern gewesen.
„Schon von den anderen ein Lebenszeichen gesehen?", riss Sirius Remus aus seinen Gedanken.
Remus nickte in Richtung von Peters Bett. „Schokofroschkarten…"
„Ich hab Hunger", maulte Sirius.
Remus zog in Erwartung dessen, was jetzt kommen würde, den Kopf ein.
„JIM!!! PETE!!! AUFSTEHEN!!!!"
Der Vorhang von Peters Bett schob sich zur Seite und sein rundes Gesicht kam zum Vorschein.
„Nenn mich nicht Jim", fauchte James hinter weiterhin geschlossenen Vorhängen hervor.
„Und mich nicht Pete", fügte Peter leise hinzu.
„Ihr seid spießige Langeweiler", murrte Sirius und begann getragene Socken zusammenzuknüllen und in Richtung James zu werfen.
James' Vorhang flog auf.
„Spießige Langeweiler? Wer hat denn gestern Abend den Feuerwhisky unter Einsatz seines Lebens besorgt? Hä?"
Sirius schaute schmollend in eine andere Richtung.
„HÄ?!?"
„Ok ok, Du."
„Na also. Und wer ist hier spießig? Oder langweilig?"
„…" Sirius brummelte etwas Unverständliches und James begann, die Socken zurück zu werfen.
Remus musste ein Kichern unterdrücken, diese Unterhaltungen waren so typisch für seine beiden Freunde.
„Also nenn mich nicht spießig, nur weil ich nicht wie einer der dummen Detektive aus einem Deiner blöden amerikanischen Romanhefte genannt werden will. Und behalt Deine ekligen Socken nächstes Mal bei Dir." James machte ein Geräusch, als wolle er sich sofort übergeben.
„Ach übrigens", Sirius' Grinsen wuchs noch weiter in die Breite. „Wo Du jetzt eh gerade wach bist…"
James sah ihn an und runzelte die Stirn. „Und warum bin ich „eh gerade" wach?"
Sirius überging den Einwurf nonchalant. „Könntest Du mal nachsehen, ob noch Kekse aus dem letzten Care-Paket deiner Mutter da sind?"
James ließ sich mit einem Knurren wieder in seine Kissen zurück fallen und schloss die Augen.
„Tee…", ließ er in einem quengeligen Tonfall hören.
Remus kroch über sein Bett zum Fußende, wo seine Truhe stand. Er fischte darin herum und zog mehrere Teebeutel hervor.
Mit ihnen bewaffnet schlurfte er zu James' Bett hinüber und wedelte vor der Nase seines Freundes herum, bis dieser die Augen öffnete.
„Ok", sagte James und schwang die Beine aus dem Bett. „Frühstück!"
Er tappte zu seinem Schrank, verwuschelte seine Haare in einer automatischen Bewegung, obwohl sie eh schon aussahen, wie ein explodierter Nimbus 75.
Mit einer Hand balancierte er seine Brille auf die Nase, mit der anderen fummelte er an der Schranktür herum. „Ich hasse den Morgen nach der Fete, erwähnte ich das?"
Schließlich saß die Brille korrekt und auch die Schranktür war endlich gefügig. Er kramte ein Paket mit Keksen hervor und trug sie zum Tisch, an dem Sirius und Peter schon Platz genommen hatten.
„Gut, dass meine Mum meint, man müsse mindestens einmal im Monat ein Fresspaket von zuhause bekommen." Lachend warf James das Paket in die Mitte des Tisches.
„Meine würde mir liebend gerne ein Paket mit Flüchen schicken", murmelte Sirius düster.
Sie schwiegen betroffen einen Moment, dann sprach Peter in die Stille hinein. „Meine schickt immer nur Briefe mit Ermahnungen und Ratschlägen. Da wäre ein Fluch mal ne Abwechslung."
Sirius lachte bellend und die Stimmung hellte sich blitzartig wieder auf.
Inzwischen hatte Remus einen Kessel und vier Metallbecher aus seiner Truhe gekramt, Wasser beschworen und den Kessel über dem Kaminfeuer des Schlafsaals befestigt.
Schließlich hatten sie vier dampfende Teebecher und einen Berg Kekse vor sich.
Das Leben war herrlich.
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