Vorwort (von 2016)

Liebe LeserInnen,

Nach über 10 Jahren Schreibpause habe ich nun wieder meine Arbeit an dieser Geschichte aufgenommen. Unglaublich, wie schnell die Zeit vergangen ist! Ich danke denjenigen, die die Hoffnung nicht aufgegeben haben und sich noch an Oxana und ihre Abenteuer erinnern können. Ich danke auch denjenigen, die mir im Laufe der Jahre immer wieder Reviews geschickt haben und mich daran erinnert haben, dass hier etwas vor sich hinschlummert, das mir sehr am Herzen gelegen hat- und es noch immer tut. Jetzt, nachdem die Geschichte endlich fertig ist, möchte ich sie auch auf dieser Seite veröffentlichen.

Mein Schreibstil hat sich über die Jahre natürlich verändert (hoffentlich verbessert), was euch hoffentlich beim Lesen nicht stört. Ebenfalls möchte ich noch anmerken, dass ich meistens ohne Beta Reader geschrieben habe und es deshalb sein kann, dass ganz schlimme Rechtschreib- oder Übersetzungsfehler unbemerkt geblieben sind. Ich bin für jeden Hinweis in dieser Richtung äußerst dankbar.

Das Gleiche gilt natürlich für Logikfehler. Meine Zeit lässt es gerade nicht zu, diese immerhin fast 700 Buchseiten lange Geschichte ordentlich zu korrigieren. Wenn jemand Interesse hat, das eine oder andere Kapitel für mich Korrektur zu lesen, wäre ich darüber also ebenfalls sehr happy!

Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen, und ich freue mich immer über eure Reviews!

Und eine Sache noch: Das Schöne am FF-Schreiben ist für mich vor allem die Möglichkeit, mit Perspektiven, Charakteren und auch mit meinem manchmal etwas schrägen Humor herumzuspielen. Seid also gewarnt: Manche Charaktere unterscheiden sich vielleicht grundsätzlich von der Originalversion!

Kapitel 1: Von Rawen, Silaid und dem Auftrag

How can you see into my eyes like open doors

Leading you down into my core,

Where I've become so numb?

Without a soul,

My spirit's sleeping somewhere cold

Until you find it there, and lead it back home

(Evanecence, "bring me to life")

Der Herbst war stets die Jahreszeit, die sie zum Nachdenken anregte. Wenn sich die Blätter zu verfärben begannen, überkam sie große Traurigkeit, denn sie wusste, dass die Natur bloß ein letztes Mal noch ihre ganze Pracht zeigte, bevor sie in einen monatelangen Schlaf fiel, in dem Kälte und Frost regierten.

Zwar wusste sie, dass im Frühjahr der ewige Kreislauf erneut seinen Anfang nehmen würde, doch sie konnte sich gegen die schlechte Stimmung, die sich wie die grauen Nebelschwaden über die verregneten Stadt über ihren Geist legten, nicht erwehren.

Oxana warf einen letzten, gedankenversunkenen Blick aus dem vor Schmutz fast blinden Fenster auf die Straße vor dem Haus, auf der sich ein grauer Sturzbach, von dem seit Tagen andauernden Regen gebildet, seinen Weg bahnte, und dachte angesichts des scheußlichen Wetters wehmütig an den Sommer zurück, der sich vor wenigen Wochen endgültig verabschiedet hatte.

Aus dem angrenzenden Raum drang ein ohrenbetäubender Schmerzensschrei, der jeden anderen an ihrer Stelle wohl kalte Schauer über den Rücken gejagt hätte.

In ihren Ohren allerdings war das Jammern des gefolterten Mannes nicht mehr als ein unwichtiges Nebengeräusch, das kaum mehr in ihr Bewusstsein durchdrang.

In den letzten Jahren hatte sie sich an Silaids und Rawens grausame Methoden gewöhnt, so schwer es ihr anfänglich auch gefallen war.

Sie hatte es tun müssen- die Chance, in einer organisierten Verbrecherbande zu überleben waren bei Weitem höher als wenn sie alleine diesem gefährlichen Beruf nachgegangen wäre- wie sie es einst getan hatte.

Sie seufzte.

Im Grunde trug sie auch ein wenig mit Schuld daran, dass der Mann da drinnen so leiden musste. Eigentlich wäre es ja ihre Aufgabe gewesen- hätte Oxana sie übernommen, hätte es nicht so lange gedauert und sie wären schon längst auf den Weg in den Fangornwald, den besten Ort, um sich vor unliebsamen Blicken zu verbergen.

Heute allerdings befand sie sich nicht in der Lage, irgendjemanden zu verletzen. Sie fühlte sich einfach nur schlecht.

Ihr Gewissen, das sie in den letzten Jahren so erfolgreich unterdrückt hatte, meldete sich wieder einmal zu Wort.

Die brave Tochter ihrer Eltern war doch noch nicht gestorben, wie sie geglaubt hatte. In diesem Zustand hätte sie bloß unnötiges Mitleid mit dem Opfer gehabt, was für keinen von beiden gut war- denn der Tod war das zwingende Ereignis, mit dem jede Begegnung mit ihr endete.

Gemächlich schlenderte die junge Frau zu dem hölzernen Bücherregal hin, welches sich an der Wand befand, hinter der sich ihre beiden Kollegen mit dem heutigen Opfer beschäftigten.

Die Geschichte der Silmarille, Drachen Mittelerdes, Tengwar... ihre Finger glitten langsam über die alten, ledernen Buchrücken hinweg und hinterließen dabei Spuren in dem Staub, der sich darauf gelegt hatte.

Als Kind hatte sie ein jedes Buch verschlungen, das sie in den Hände bekommen hatte - heute maß sie Schriftstücken keine große Bedeutung mehr bei. Es waren bloß Geschichten, Dinge, die in längst vergangener Zeit geschehen waren. Gerade nützlich genug, um ein Feuer damit zu nähren oder sich den Regen vom Leibe zu halten, mehr nicht. Das wirkliche Leben spielte sich im Hier und Jetzt ab.

Träume und Luftschlösser waren etwas für Kinder und Narren.

Ein dumpfes Geräusch ertönte und das gesamte Regal erbebte. Staub rieselte von der Decke auf den geschliffenen Holzfußboden herab.

Oxana seufzte tadelnd.

Heute war die Reihe wieder einmal an Silaid. Sie hasste seine Methoden.

Er sollte leiser sein, ansonsten würde er noch ganz Edoras aus dem Schlaf reißen . Und vor allem sollte er sich beeilen.

Es dauerte schon viel zu lange.

Wenn das hier vorüber war, würden sie für eine Weile aus Edoras verschwinden müssen. Im Gegensatz zu vielen vorhergehenden schien dieser Auftrag hier nicht gerade das zu sein, was man als arme, unwichtige Person bezeichnen würde. Die Einrichtung des steinernen Hauses war zwar spärlich, aber edel und zeugte von gutem Geschmack, die Bücher ließen auf einen gebildeten Besitzer schließen und die Waffen, welche in einer Reihe über dem Eingang hingen, schienen von großem Wert zu sein und erregten nun Oxanas Aufmerksamkeit.

Es war nicht ihre Art, Dinge zu stehlen, aber heute machte sie zum ersten Mal in all den Jahren eine Ausnahme. Vor einigen Tagen hatte sie ihre Armbrust auf der Flucht verloren und es von da an nicht mehr gewagt, nach ihr zu suchen. Das schöne Stück, welches dort an der Wand hing, würde einen guten Ersatz abgeben. Vorsichtig nahm sie die äußerst wertvolle Armbrust von dem Haken, ebenso den dazugehörigen, mit zugespitzten Eichenbolzen behangenen Ledergürtel, und untersuchte beide Stücke mit geübten Bewegungen.

Die Armbrust war aus gebeizten Eichenholz gemacht und an einigen Stellen mit dünnen, gravierten Metallplättchen aus weißsilbernen Mithril beschlagen. Die Gravuren stellten verschiedene Pflanzen und Früchte dar, dazwischen feingliedrige, geflügelte Wesen, wohl Feen oder ähnliche Fabelwesen.

Oxanas Finger strichen prüfend über die Sehne der Armbrust, um ihre Spannung zu überprüfen. Ein erfreutes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Die Waffe war perfekt! Sie wies keinen einzigen Kratzer auf, hatte genau die richtige Größe und Form und war wunderbar leicht!

Während sie den Gürtel um ihre Hüften schlang und die kleine Armbrust daran befestigte, drang erneut ein gellender Schmerzensschrei durch die Tür, und dieses Mal zuckte sie vor Bestürzung zusammen.

Sie kannte diese Schreie. In ihnen schwang die pure Todesangst mit, und jedes Mal wieder berührten sie etwas in ihr, das sie verloren geglaubt hatte.

Ihr Blick saugte sich an der niedrigen Tür fest und sie spürte, wie etwas in ihr zu Eis erstarrte. Nie würde sie sich an solche Momente gewöhnen.

Mit drei weitausgreifenden Schritten war sie bei der Tür, riss sie mit einem zornigen Ruck auf und erstarrte angesichts des grauenerregenden Anblickes, der sich ihr darbot: Der Mann lag halb am Boden, halb klammerte er sich an einen großen Lehnstuhl und versuchte vergebens, sich daran hochzuziehen. Er fand keinen Halt. Man konnte sich auch schlecht an etwas festhalten, wenn man keine Finger mehr hatte. "Bei allen Göttern!", murmelte Oxana und starrte angeekelt auf die immer größer werdende Blutlache, die sich unter dem Stuhl ausbreitete.

Ihr Blick glitt weiter durch den Raum, blieb kurz an einem dunklen Fleck an der Wand hängen, wanderte weiter zum Tisch und dem blutigen Haufen von Gliedmaßen, die darauf lagen und haftete sich schließlich an Silaids hämisch grinsende Fratze.

Ein kaltes Feuer flammte ihren eisblauen Augen auf. "Was soll das du Idiot? Willst du die Wände streichen?! Schnell und sauber lautete der Auftrag, du kranker Hohlkopf!"

Der Mann wimmerte irgendetwas in ihre Richtung und spuckte dabei Blut, doch Oxana bedachte ihn bloß mit einem angewiderten Blick. Erst nach Sekunden begriff sie, dass jemand ihm die Zunge herausgeschnitten hatte.

"Er hat soviel geredet", knurrte Silaid und säuberte sorgfältig die blutige Klinge seines Dolches an den dreckigen Fetzen, die er Kleider nannte. Oxana starrte den jungen Halbork hasserfüllt an.

Das ging eindeutig zu weit.

Silaid hatte ja schon viel Unsinn angestellt, aber mit dem hier überschritt er eindeutig die Grenzen.

Mit wenigen gezielten Schritten umkreiste sie den sterbenden Mann und den Stuhl, ging direkt auf Silaid zu und packte ihn an der hässlichen Gurgel.

Es war ein leichtes für sie ihn am Halse emporzuheben, denn sie war kräftig, und Silaid war dünn und hatte die Körpergröße eines Orks.

Sie hob ihn, bis sie einander in die Augen sehen konnten, dann zischte sie: "Wir sind Söldner, keine Folterknechte, du abartige Missgeburt! Mach so etwas NIE WIEDER! Geht das in deinen hässlichen Schädel hinein?"

Silaid hustete und würgte ein undeutliches: "Verstanden!", hervor und sie schleuderte ihn achtlos auf den Boden zurück. Der Halbork zischte ihr irgendetwas in der gräulichen Sprache seines Volkes hinterher, wagte es aber nicht, sich gegen sie zu stellen.

Er hatte es schon einmal getan und dabei sein linkes Ohr verloren. Zornig wandte sie sich an Rawen, die bisher regungslos in einer Ecke gelehnt und die Szene wortlos mitverfolgt hatte. In ihren Händen hielt die Elbe einen sauberen Dolch, mit dem sie ihre Fingernägel reinigte. Als Oxana schnaubend vor sie trat, warf Rawen ihr einen gelangweilt- herablassenden Blick aus ihren stechend grünen Augen zu, um sich gleich danach wieder ihren zu rasiermesserscharfen Krallen geschliffenen Fingernägeln zuzuwenden.

"Reg dich nicht auf", kam sie Oxana zuvor, die gerade den Mund zu einer scharfen Rede geöffnet hatte, "du kennst ja Silaid. Wenn er erst einmal in Fahrt ist, kann ihn nichts und niemand mehr aufhalten."

Oxanas Hände ballten sich zu Fäusten, ihre Augen verengten sich zu zwei blitzenden Schlitzen. Rawen war die stärkste Kriegerin, der sie je begegnet war- schnell, wendig und dabei mindestens so stark und ausdauernd wie ein Mann.

Hätte die blonde Elbe es gewollt, sie hätte Silaid mit einem einzigen Fußtritt außer Gefecht gesetzt.

Beide Frauen wussten das. Oxana wollte irgendetwas Bissiges entgegnen, als ihr etwas auffiel: Im Raum fehlte irgendetwas.

Das Röcheln und Stöhnen des Mannes war verklungen.

Er war tot.

Augenblicklich verrauchte ihre Wut, wurde zweitrangig. Draußen ertönten laute Stimmen, das metallische Scheppern von Rüstungen und das Geräusch von zahlreichen Füßen, die stets im selben Rhythmus auf die feuchten Straßensteine stampften.

Soldaten.

Es war an der Zeit, sich von Edoras zu verabschieden.

"Raus hier. Schnell!"

Silaid und Rawen hatten bereits die Hintertür aufgerissen und wiesen in die schmale Gasse, die vor ihnen lag. Sie bedeuteten ihr, vorzugehen, da Oxana sich in der Stadt am besten auskannte.

Eine Woche zu Fuß, drei Tage zu Pferd- aber welche zu stehlen, dazu würden sie wohl kaum Zeit finden.

Pan i eryn pêd ne gwaew,

lhass na lhass athrannad i glam,

melon in lhess aníron:

Pedich gell?

Pedich nui?

Cabed i celf-eryn dadbenn

na lhend aerlinn aníron dinen ne ind nîn

Linna gell?

Linna naig?[1]

Rawen ließ ihre Laute sinken, wickelte sie in eine Decke und legte sie vorsichtig neben sich ins feuchte Laub. Mit einer beiläufigen Bewegung strich sie ein paar blonde Locken die in ihre helle Stirn gefallen waren hinter die spitzen Ohren und schenkte Oxana ein schräges Lächeln, als wäre ihr das, was sie soeben getan hatte, peinlich.

Oxana hatte sie noch nie singen gehört. "Was war das für ein Lied?", wollte sie wissen, verwirrt über die sanft klingenden, fremden Worte.

"Eines aus meiner...Heimat."

Oxana musterte die Elbe mit neuem Interesse. Es hatte in den vergangenen Jahren viele Nächte wie diese gegeben, in denen sie Zeit gefunden hatten, einander besser kennenzulernen.

Aber kannte sie Rawen wirklich so gut, wie sie bisher gedacht hatte?

Durch die Elbe war aus einer kleinen Kriminellen eine gewissenlose, gefürchtete Söldnerin geworden, ein Mensch, der mit den Schatten verschmelzen konnte, schnell und geschmeidig, ein Mensch, der sich völlig unbemerkt an jemanden anschleichen konnte, um ihn rücklings zu ermeucheln, ein Mensch der... Oxana stutzte.

Ja, war sie das denn überhaupt noch? Ein Mensch? Oder hatte sie ihre Menschlichkeit in dem Moment verloren, da sie zum ersten Mal ihr Messer in den Leib eines Fremden gerammt hatte? Oxana schauderte bei dem bloßen Gedanken, schüttelte ihn ab wie ein lästiges Insekt und zwang sich, ihre Gedanken in andere Bahnen zu lenken.

"Deine Heimat ist der Düsterwald, nicht wahr?"

Rawen nickte. In ihren schönen smaragdfarbenen Augen flackerte es kurz auf, doch nur für eine Sekunde, dann wurde daraus wieder der orange Wiederschein des kleinen Feuers. Oxana mahnte sich innerlich zur Vorsicht. Sie spürte, dass sie nun genau darauf acht geben musste, was sie sagte, wollte sie nicht riskieren, die Sympathie der Elbe zu verlieren.

Ihre Sympathie... ihre Freundschaft hatte sie ja nie gehabt.

Rawen war schön, unfassbar schön sogar, aber ebenso unnahbar.

"Was ist geschehen...wie wurdest du zu dem, was du jetzt bist?"

"Du meinst eine Mörderin?"

Oxana zögerte. Sie beide wussten, dass dies der einzige Begriff war, der auf ihren "Beruf" zutraf. Doch im Gegensatz zu dem schlafenden Silaid war das, was sie taten, gegen ihre Natur.

Silaid tötete, weil es der einzige Weg war, auf dem er sich Befriedigung und Vergnügen verschaffen konnte. Er war dazu geboren, anderen Schmerz zuzufügen und sich daran zu ergötzen- in gewissem Sinne konnte er nichts dafür, dass er so war, wie er nun einmal war.

Er war eine misslungene Mischung aus Ork und irgendeiner niedrigen Kreatur, die in den Bergen lebte, nicht geboren, sondern gezüchtet, um Befehle auszuführen. Ein perfekter Killer.

Das Schicksal hatte sie drei zu einer reichlich seltsamen Gruppe vereinigt. Fast gegen ihren Willen musste sie zu dem leise schnarchenden Ork hinsehen, der zwischen den Wurzeln einer mächtigen Buche lag und sich im Schlaf an sein schartiges, blutverkrustetes Schwert schmiegte wie an eine Geliebte.

Sie hätte es vor Rawen nie zugegeben, aber sie hatte Angst vor dieser geradezu lächerlich hässlichen Kreatur und wagte es nicht, ihr auch nur für eine Sekunde den Rücken zuzuwenden.

"Er ist eben ein dämliches Scheusal", grinste Rawen, die ihren Blick wohl richtig gedeutet hatte, "er kann nur das eine."

"Und du bist eine Elbe- ein sanftes, edelmütiges Geschöpf- und doch mordest du für Geld".

Rawens Blick wurde hart. "Sanft und edelmütig? Pah! Woher hast du diesen Unsinn? Du irrst dich, meine Liebe. Oh nein, viele Elben sind weder das eine noch das andere. Sie sind in mancher Hinsicht nicht viel besser als ihr Menschen."

"Oh, danke", lächelte Oxana sarkastisch, "es ist immer wieder schön, Komplimente zu bekommen."

Rawen starrte sie lange an, blinzelte verwirrt und schüttelte schließlich verständnislos den Kopf. "Du hast einen seltsamen Humor, Menschenmädchen", murmelte sie und strich gedankenverloren über ihre metallenen Armschienen, "ihr seid sowieso ein sehr seltsames Volk. Ihr müsstet euch durch die Augen eines Elben sehen".

"Und zu welchen großartigen Erkenntnissen würden wir dadurch gelangen?"

"Ihr würdet erkennen, wie zerbrechlich und schwach ihr seid. Es ist mir ohnehin ein Rätsel, wie du so lange durchhalten konntest."

"Was soll das heißen?!" Oxana runzelte unwillig ihre Stirn und griff herausfordernd nach ihrer Armbrust. "Willst du damit sagen, dass ich nicht kämpfen kann? Ich kann dir sehr gerne das Gegenteil beweisen!"

Rawen hob abwehrend die Hände. "Natürlich nicht. Du bist eine ausgezeichnete Schützin - schließlich habe ich dich ausgebildet. Lass uns von etwas anderem sprechen. Du verstehst nicht, was ich sagen will."

"Dann erkläre es mir!" Für einen Augenblick flammte Zorn in Rawens Augen auf, und nicht zum ersten Mal stellte sich Oxana die Frage, wie alt die Elbe wohl sein mochte, und was sie in ihr sah- eine gleichgestellte Kameradin oder ein unwissendes Kind.

Dann aber kühlte Rawens Blick ab, sie ergriff plötzlich Oxanas Hand und zog sie an ihre Brust. "Was spürst du?" "Dass du im Gegensatz zu mir nicht frierst", maulte Oxana, "dabei trägst du bloß einen Wollrock und diesen seltsamen Brustpanzer, der die Schultern freilässt."

Rawens schüttelte energisch den Kopf und drückte Oxanas Handfläche fester gegen die helle, warme Haut über ihrer linken Brust.

"Schließ die Augen." Oxana gehorchte zögernd. "Und nun sag mir, was du spürst." Oxana versuchte sich zu konzentrieren. Irgendetwas fehlte da... jäh riss sie ihre Hand zurück und starrte die Elbe ungläubig an.

"Dein Herz!", keuchte sie entsetzt, "es schlägt nicht!"

Rawen grinste breit und schüttelte den Kopf.

"Würde ich hier sitzen, wenn dem so wäre? Es schlägt- bloß viel, viel langsamer als das von euch Menschen. Schließlich soll es noch Jahrhunderte überdauern."

Oxanas Hand legte sich unbewusst auf ihren Hals, und ihr eigener Herzschlag kam ihr plötzlich rasend schnell wie der Flügelschlag eines Schmetterlings vor. Und plötzlich bekam sie Angst.

Sie war sterblich.

"Du solltest schlafen, ein langer Weg liegt vor uns."

Oxana sah überrascht auf. "Du kennst unser nächstes Ziel bereits?"

Die Elbe nickte ernst. "Eine Taube hat es mir mitgeteilt, vorhin, als wir am Ufer des kleinen Waldteiches hielten. Unser nächster Auftrag lebt im Düsterwald."

"Was hat er getan?"

Rawen machte eine wage Geste mit der Hand. "Ich glaube, seine Frau betrogen oder so ähnlich. Ich weiß nicht genau. Doch die Belohnung ist wunderbar hoch! Er muss ein Großer unter den seinen sein..."

"Und wer gab den Auftrag?"

"Er nennt sich Thalaron- was soviel bedeutet wie der Kräftige", Rawen begann zu grinsen, "aber das ist ein geläufiger Name unter den männlichen Elben. Ein Bote wird in zwei Monaten in Erech mit der Belohnung auf denjenigen warten, der ihm einen Körperteil unseres Auftrages bringt- einen, ohne den er nicht leben kann, versteht sich."

"Wenn wir erst einmal nahe genug an ihm dran sind um einen Finger abzuschneiden können wir ihn genauso gut gleich töten", bemerkte Oxana sarkastisch, "aber ich finde diese neue Regelung gut. Ich hasse es, Köpfe mit mir schleppen zu müssen."

Rawen nickte zustimmend. "Bis wir die Berge überquert und in Gondor angekommen sind, würde er angefangen haben zu stinken, und es gibt keinen Geruch, der bestialischer ist als der einer Leiche".

Beide Frauen nickten, die Münder angewidert verzogen, sie sprachen immerhin aus Erfahrung.

Nun, dann ging es jetzt also weiter in den Düsterwald. Ein sehr langer, anstrengender Fußmarsch durch die weite Ebene von Ost - Emnet, eine Überquerung des Anduin und viele kalte Nächte unter freiem Himmel standen ihnen bevor. "Lass uns schlafen. Wir werden unsere Kräfte brauchen."

Rawen=Sind. "Löwin"

[1] Wenn der Wind im Walde rauscht,

Blatt mit Blatt die Rede tauscht,

möcht ich gern die Blätter fragen:

Tönt ihr Wonne?

Tönt ihr Klagen?

Springt der Waldbach Tal entlang

mit melodischem Gesang

frag ich still in meinem Herzen

Singt er Wonne?

Singt er Schmerzen?