La muse au vin"

Eine Minikurzgeschichte von Michelle Mercy

- Für Yvi Jänicke

und den Hamburger Hoffmann in der U-Bahn,

bei dem Hoffmann am Ende sturzbetrunken auf die Gleise fällt -

„Ich denke, du hast jetzt genug," erklärte Dionysos, der Wirt der Taverne „Olympus" seinem letzten Gast.

Die sich mühsam am Tresen und ihrem Barhocker festklammernde Frau schüttelte den Kopf, eine Bewegung, die sie gefährlich ins Schwanken brachte. „Ich habe noch nicht genug. Ich kann mich noch erinnern, und deswegen habe ich noch nicht genug."

„Du willst vergessen? Wen?"

„Einen Dichter. Einen toten Dichter."

„Herrje," seufzte Dionysos, „ist dir wieder einmal einer deiner Schützlinge weggestorben?"

„Ja." Die Frau nickte heftig. „Manchmal hasse ich es, eine Muse zu sein."

„Magst du mir erzählen, was passiert ist?"

„Du weißt doch, daß ich immer nur diese ganz fürchterlich verkorksten Dichter abbekomme, nie die nur halb verrückten. Sappho: Springt vom Felsen. Seneca: Erhängt sich. Morus: Wird geköpft. Marlowe: Tod nach Kneipenschlägerei. Kleist: Erschießt sich. Werther: Erschießt sich. Puschkin: Läßt sich im Duell erschießen. Und jetzt dieser Typ. Hoffmann hieß er. Lebte in einem U-Bahn-Schacht und soff wie ein Loch. Aber so begabt, so authentisch. Leider in eine völlig unpassende Frau verliebt.

Aber ich habe ihm geholfen. Er konnte plötzlich ein wirklich tolles Buch schreiben über die Liebe und das Böse. Drei Erzählungen voller Phantasie. In der ersten verliebt sich der Held in eine Frau aus dem Cyberspace, in der zweiten in eine Frau, die sich zu Tode singt, und in der dritten in eine Kurtisane, die den Männern ihre Potenz stiehlt.

Das Buch wurde tatsächlich verlegt. Hoffmann. Die Erzählungen. ganz simpel der Titel. Überall plakatierten sie die Werbung für dieses Buch. Es gab richtige Happenings, und sogar Signierstunden in dem U-Bahn-Schacht, in dem er vorher gelebt hatte. Apoll, mein Gott, er war der Darling der Kritiker, der Liebling der Gesellschaftsspalte, man war verrückt nach ihm, er war ein Star.

Und dann mußte bei einer dieser Signierstunden ausgerechnet diese Sängerschlampe, mit der er früher zusammen war, mit ihrem neuen Lover auftauchen. Hoffmann ist völlig ausgerastet, hat die beiden übel beschimpft und sich dann sinnlos besoffen. Ich war wirklich nur für ein paar Minuten unaufmerksam, da legt der Idiot sich schlafen. Auf die U-Bahn-Gleise! Die 22.43 Uhr war ausnahmsweise einmal pünktlich und hat ihn voll erwischt."

Dionysos tätschelte der deprimierten Muse die Hand und stellte eine neue Flasche Wein vor sie hin. Vielleicht würde diese ja das notwendige Quentchen Alkohol enthalten, um ihr etwas Trost durch Vergessen zu schenken.

11. April 1999