Steiniger Weg
Disclaimer: Die Panem-Welt gehört nicht mir, sondern Suzanne Collins. Ich leihe sie mir nur aus und forme sie für meine Zwecke.
Genre: Abenteuer und Freundschaft.
Altersempfehlung: P16.
Hauptperson: Mhairi. Allerdings treten auch einige andere Charaktere auf, die wichtige Rollen spielen. Die Geschichte dreht sich größtenteils um die Hungerspiele, doch sie sind um Mhairi herum aufgebaut.
Erzählstil: Am Anfang wird die Handlung noch aus Mhairis Perspektive geschildert. Nach und nach lernt man jedoch andere Figuren kennen, die dann auch mal zur Hauptperson für jeweils ein Kapitel werden.
Inhalt: Mhairi sind die Hungerspiele egal. Sie ist keinem Distrikt registriert, sie hat keine Freunde und Bekannte, sie lebt in der Wildnis - frei, unentdeckt und allein. Warum sollte sie sich also Sorgen machen? Doch mit einem hat sie nicht gerechnet: der Macht von Freundschaften.
Treffen in der Nacht
Der Wind in den Blättern, ein gehauchtes Geheimnis, ein Vorbote des Schreckens, der Erniedrigung, der Sensationslust. Funken flogen durch die Nacht und erloschen – kleine Sterne in der Dunkelheit des Waldes.
Mhairi starrte in die Flammen und wartete auf ein Geräusch, das nicht vom Wind stammte, und nicht vom Knistern des Feuers. Kleine Silbersplitter, eingegraben in ihre linke Gesichtshälfte, eine auffällige Linie von der Schläfe bis zum Kinn, funkelten in der Nacht. Ihre Kleidung war abgewetzt, durchlöchert und blutdurchtränkt, ihre braunen, kurzen Locken voller Blätter, ihre Haut zerkratzt. Und doch lag ein erwartungsvoller, fast fröhlicher Schimmer in ihren blau-grauen Augen und ein geheimnisvolles Lächeln umspielte ihre Lippen.
Ein Zweig knackte in der Nähe, Mhairis Hand flog zu einem Dolch an ihrer Hüfte, ihr Blick glitt suchend durch die Dunkelheit. Gespenstische Schatten führten ihren Tanz auf. Und dann hörte Mhairi das erhoffte Geräusch: Schritte, leicht und etwas unbeholfen, auf dem trockenen Waldboden.
Ein Gesicht tauchte aus der Dunkelheit auf. Rotes Haar, olivgrüne Augen, ein teils neugieriger, teils zurückhaltender Gesichtsausdruck. Mhairi und der junge Mann auf der anderen Seite des Feuers, vielleicht um die zwanzig Jahre alt, musterten sich lange und ernst. Dann plötzlich lächelte der Rothaarige.
„Du hast dich erinnert." Seine Stimme war warm und freundlich, und vor allem tiefer als Mhairi sie in Erinnerung hatte.
„Ich halte meine Versprechen, Dylan", entgegnete Mhairi und lächelte. Einladend klopfte sie auf den Baumstamm auf dem sie saß und Dylan setzte sich leicht unbeholfen neben sie.
„Du erinnerst dich an meinen Namen", stellte er fest und das Erstaunen war aus seinen Augen abzulesen. Mhairi sah hinein und entdeckte zum ersten Mal feine braune Nuancen in dem olivgrün. Wie viel war ihr noch entgangen bei ihrem letzten Treffen?
„An die Namen besonderer Menschen erinnere ich mich immer", sagte sie, wandte sich ab und starrte ins Feuer, sodass sie nur erahnen konnte, wie verlegen sie Dylan mit diesem einen Satz gemacht hatte.
Der junge Mann räusperte sich und fragte mit rauer Stimme: „Du warst in Distrikt 6?" Nachdenklich fuhr Mhairi sich über die linke Gesichtshälfte.
„Ich habe eine Weile in den Silberminen gearbeitet, bis sie eine besonders silberreiche ohne Vorwarnung gesprengt haben. Zum Glück stand ich weit genug entfernt um nicht getötet zu werden, aber ganz unversehrt habe ich die Sprengung auch nicht überstanden. Die Narben und die kleinen Steinchen werden mich wohl für immer zeichnen."
Nur ihre Augen verrieten, wie sehr ihr das Erlebnis zu schaffen machte, ihre Stimme aber blieb gleichgültig. Nur ein weiteres Abenteuer auf einer langen Reise, ein Zwischenfall ohne Bedeutung.
„Ist viel Silber in den Minen?" fragte Dylan leise. Mhairi hielt den Blick auf das Feuer gerichtet, als sie antwortete: „Es kommt auf die Mine an. Aber in der, in der ich gearbeitet habe, gab es sehr, sehr viel. Vielleicht ist das auch gar nicht so schlecht. Sonst hätte sich anstatt Silber Dreck in mein Gesicht gebohrt."
Als sie Dylan wieder ansah, bemerkte sie, dass er ein kleines Stück Papier und einen abgegriffenen, schmutzigen Bleistift aus der Hosentasche gekramt hatte und kleine Striche auf das Papier zeichnete. Er sah auf als sie verstummte und wurde augenblicklich rot.
„Tschuldigung", murmelte er und machte Anstalten, das Papier wieder wegzustecken. Doch Mhairi lächelte nur und erwiderte: „Ich sehe, das Zeichnen hast du noch nicht aufgegeben." Dylan erwiderte ihr Lächeln zaghaft. „Auch daran erinnerst du dich also."
Mhairi zuckte mit den Schultern, schwang ein Bein über den Baumstamm um Dylan direkt ansehen zu können. „Ich habe viele Menschen kennen gelernt. Aber du bist der Einzige den ich ein zweites Mal treffe." „Warum?" fragte Dylan nur und erwiderte Mhairis Blick neugierig.
Mhairi sah ihn lange an ohne etwas zu sagen. Dann griff sie hinter sich und zog einen dreckigen, durchlöcherten Rucksack hervor. „Ich habe dir etwas mitgebracht", meinte sie und öffnete den Rucksack vorsichtig. Eine Reihe kleiner Päckchen kam zum Vorschein. Mhairi griff hinein und reichte Dylan ein sehr rundes Päckchen, das mit einem silbernen Band verschnürt war.
„Vorsichtig, lass es nicht fallen", meinte sie und beobachtete gespannt, wie Dylan vorsichtig den Inhalt aus seiner papiernen Hülle befreite. Ein kleines Fläschchen kam zum Vorschein, die Flüssigkeit darin war leicht bläulich. Irritiert sah Dylan das Fläschchen an. Mhairi musste lachen als er so verdutzt aus der Wäsche sah.
Schnell nahm sie ihm das Fläschchen aus der Hand, drehte es auf und hielt es Dylan unter die Nase. „Parfum", erklärte sie. „Aus Distrikt 1." Dylan roch daran und zog die Nase kraus. „Es ist sehr stark", meinte er und sah auf. Mhairi lachte. „Normalerweise trägt man ja auch nur ein bisschen auf die Haut auf. Und jetzt pack das hier aus."
Mit diesen Worten reichte sie Dylan ein weiteres, längliches Päckchen. Darin waren ein ganzer Stapel Blätter, ansatzweise zu einem Buch gebunden, und neue Bleistifte. Dieses Geschenk zauberte ein dankbares Lächeln auf Dylans Gesicht, das dann recht schnell wieder verschwand.
„Papier ist sehr teuer", meinte er besorgt. „Bist du sicher, dass du es mir schenken möchtest?" „Mach dir keine Sorgen", erwiderte Mhairi nur. „Ich habe es direkt aus Distrikt 7 vom Hersteller und da ich dort ein paar Wochen lang gearbeitet habe, hat er es mir sozusagen geschenkt. Und ich kann damit ja nichts anfangen. Bei dir ist es einfach am besten aufgehoben."
Bei dem Kompliment wurde Dylan wieder rot. Er legte den Stapel Papier und die Stifte sorgfältig neben die Parfumflasche auf dem Waldboden. Erwartungsvoll lugte er in den Rucksack. Mhairi zog ein längliches, schmales Päckchen hervor, in dem ein praktischer, kleiner Dolch steckte. „Aus Distrikt 5", erklärte sie. „Vielleicht wird er dir irgendwann mal nützlich sein."
Dann überreichte sie ihm noch einen Beutel mit getrocknetem Fleisch vom Schwein und Rind aus Distrikt 10 und schließlich das kleinste Päckchen von allen.
„Das ist für deine Mutter", erklärte sie. „Es ist eine Träne aus Gold an einer Halskette. Sie kann sie bedenkenlos tragen, ich habe sie in einen Eimer mit Klebstoff gehalten und dann in Kohlepulver getaucht. Jeder wird es für ein normales Stück Kohle halten, und die kann man ja hier bei einer so kleinen Menge sehr billig kaufen."
Dylan legte das Päckchen mit der Halskette neben seine eigenen Geschenke und wandte sich dann wieder Mhairi zu. „Wie schaffst du das?" fragte er. „Du wechselst die Distrikte wie ein Hemd oder eine Hose. Früher oder später wird man dich schnappen."
Mhairi musste lachen. „Man hat mich bereits mehrmals geschnappt", entgegnete sie. „Und jedes Mal war es nicht besonders angenehm. Aber von einem herumstreunenden Mädchen geht keine Gefahr aus. Ich wurde jedes Mal nach kurzer oder etwas längerer Zeit wieder freigelassen, halb verblutet, aber am Leben. Die meisten Distrikte haben eine so hohe Sterberate, dass man der Meinung ist, eine kurze, schmerzhafte Lektion wirkt besser als der Tod."
„Ich wünschte, ich könnte auch mal die anderen Distrikte sehen", murmelte Dylan und starrte missmutig in das Feuer. Mhairi betrachtete ihn lange und mitfühlend.
„So schlecht hast du es gar nicht", meinte sie aufmunternd. „Distrikt 11 ist doch ganz in Ordnung. Glaub mir, der Hass auf das Kapitol und die elende Unterdrückung sehen überall gleich aus. Sie spiegeln sich in den Gesichtern der Erwachsenen wie auch in denen der Kinder."
„Trotzdem", erwiderte Dylan mit verärgert zusammengezogenen Augenbrauen. „Trotzdem bist du frei. Und ich bin eingesperrt. Du weißt doch, was morgen für ein Tag ist, oder?"
„Ja, ich weiß", sagte Mhairi ruhig. Jetzt wandte Dylan sich wieder ihr zu und sah sie direkt an als er sagte: „Manchmal habe ich Angst, doch hauptsächlich bin ich wütend deswegen. Aber ein Junge aus Distrikt 11 wird im Kapitol ja nicht angehört. Nein, man müsste schon die Spiele gewinnen um angehört zu werden. Und man müsste daran teilnehmen um überhaupt ins Kapitol zu kommen.
Ab und zu überlege ich ernsthaft, mich freiwillig zu melden. Doch dann überwiegt wieder die Angst. Wie schaffst du es eigentlich, den Hungerspielen immer zu entkommen?"
„Ich bin einfach nirgendwo registriert, besorge mir meine Nahrung selbst, brauche also auch keine Unterstützung die mir mehr Zettel aufzwingt, und lasse mich nie zu lange an einem Ort sehen."
Verlegen kratzte Dylan sich an der Nase, bis Mhairi aufhörte, ihn mit ihren Augen zu durchbohren. „Das ist wahrscheinlich auch eine Lösung", meinte er, nur um den Moment zu überspielen. In Gedanken versunken starrte Mhairi ins Feuer, das schon etwas geschrumpft war. Dylan beobachtete sie kurz dabei, dann fuhr er fort:
„Nicht nur, dass das Kapitol grausam ist und uns wie Ungeziefer oder Sklaven hält, nein, sie nehmen auch noch Kinder und Jugendliche aus unserer Mitte, um zuzusehen, wie sie abgeschlachtet werden.
Jedes Mal wenn die Hungerspiele kommen, spüre ich so einen Zorn in mir, besonders wenn ganz kleine Jungen und Mädchen, die völlig hilflos sind, in die Arena geschickt werden. Doch ich mache es den anderen nach und schlucke meinen Zorn runter, Jahr für Jahr, Tod für Tod.
Aber dazu habe ich keine Lust. Ich habe keine Lust mehr, die Wut zu unterdrücken, verstehst du? Ich bin jetzt zwanzig Jahre alt und möchte unbedingt etwas bewegen. Und es gibt nur einen Weg, den ich sehe…"
Mhairi sah ihn an und ein trauriger Schatten lag über ihrem Gesicht. Zögernd rutschte sie ein Stückchen näher und blickte Dylan tief in die Augen, in der Hoffnung, er möge auf ihre Worte hören: „Dein Tod bringt niemandem etwas, Dylan. Deinem Distrikt nicht und deiner Mutter schon gar nicht."
Dylan starrte sie an. Wütend? Verständnislos? Enttäuscht? Ja, enttäuscht traf es wohl am ehesten. „Ich dachte du wärst anders", sagte er und die Worte kamen nur als leises Flüstern aus seinem Mund.
„Gerade du, die so viel Leid gesehen hat, sollte doch am ehesten bereit sein, für die Rechte der Menschen einzutreten. Du, die keine Familie hat, und so wie ich es sehe auch keine Freunde. Du hast nichts zu verlieren. Aber du bist zu stolz…"
„Nein", widersprach Mhairi ihm ruhig. „Ich erkenne wenn es sinnlos ist zu kämpfen." Doch Dylan schüttelte den Kopf. „Nichts ist sinnlos. Wäre man da draußen und auf tausenden Bildschirmen zu sehen, könnte man die Menschen doch davon überzeugen, sich auflehnen! Die Menschen würden einem zuhören.
Ich will nicht, dass wenn ich einmal Kinder habe, die auch so aufwachsen wie ich und viele andere, voller Angst. Ich will, dass sie in Freiheit zur Welt kommen, und in Freiheit ihr Leben genießen können. Mag sein, dass ich mich getäuscht habe, aber ich dachte, gerade du würdest mich verstehen."
Mit diesen Worten stand Dylan auf und nahm seine neuen Habseligkeiten an sich. „Danke für die Geschenke", sagte er, wandte sich ab und stapfte davon, wobei er fast gegen einen Baum lief so zornig war er.
„Bitte schön", murmelte Mhairi leise, doch da war Dylan schon zwischen den Blättern verschwunden. Sie seufzte und strich sich noch einmal mit den Fingern über die linke Gesichtshälfte. Die Silbersplitter fühlten sich kühl an.
Mhairi richtete wieder den Blick auf das Feuer und konzentrierte sich. Es flackerte und die Flammen erloschen. Mit einem schweren Gefühl im Herzen legte Mhairi sich rücklings auf den Baumstamm und starrte zwischen den Blättern zu den Sternen hinauf, Funken in der Nacht.
Wie lächerlich und überflüssig musste ihnen doch das Leben der Menschen vorkommen. Kurz, unerfüllt und sinnlos.
