Kapitel 1: Böses Erwachen

Irgendetwas kitzelte seine Nase, kitzelte ihn auch weiter, als er sich genervt, noch im Halbschlaf mit der Hand darüber fuhr. Draco brummte unwillig. Er wollte noch nicht aufstehen, es war doch noch viel zu früh und er war doch noch so müde und es war so gemütlich in seinem Bett. Durch die geschlossenen Augenlider konnte er sehen, dass es hell im Zimmer war, sehr hell, viel zu hell. Draco drehte sich genervt um und zog sich die Decke über den Kopf.

Er hatte die Vorhänge zugezogen. Ganz sicher. Soviel hatte er auf der Party am Vorabend nicht getrunken. Zwar genug, um einen kleinen Schwips zu haben, aber ganz sicher nicht genug, um zu vergessen die Vorhänge zu schliessen. Träge und noch im Halbschlaf griff Draco nach seinem Zauberstab, der wie immer auf seinem Nachttisch lag und wollte mit einem einfachen Spruch die Vorhänge wieder verschliessen, damit er endlich weiterschlafen konnte. Dabei fiel sein Blick zufällig auf die kleine Uhr neben seinem Bett. Die einzige Uhr, die er hatte, die nicht magisch war. Sie war ein Geschenk von irgendeiner seiner unzähligen Verehrerinnen gewesen und da sie zumindest qualitativ seinen Ansprüchen entsprochen hatte, hatte er sie behalten.

Der kurze Blick zeigte ihm, dass der grosse Zeiger senkrecht nach unten und der kleinere deutlich links davon stand, schon fast im rechten Winkel. Draco sah genauer hin. Es war schon halb neun. HALB NEUN? Wieso war es schon so spät? Wieso hatte der Zeitzauber ihn nicht geweckt? Er musste doch in anderthalb Stunden an der Uni sein. Heute war schliesslich sein erster Tag und da wollte er auf gar keinen Fall zu spät kommen. Er konnte es sich schlicht nicht leisten schon gleich am Anfang einen schlechten Eindruck zu hinterlassen. Nicht, nachdem es ihn solche Mühen gekostet hatte, hier, an dieser Uni zugelassen zu werden.

Erst vor drei Monaten hatte er Hogwarts mit ausgezeichneten Noten verlassen und, nach langen Diskussionen mit seinen Eltern, durchgesetzt, nicht sofort bei seinem Vater in einem der vielen Unternehmen und der Politik anzufangen, sondern zunächst an einer der vielen Magieruniversitäten zu studieren. Seine Wahl war relativ schnell auf das Ausland und den europäischen Kontinent gefallen. Amerika, was auch eine Alternative gewesen wäre, war ihm dann doch zu weit weg. Zudem entsprach es der Tradition seine Familie, dass er das Studium an einer alten und traditionsreichen Universität aufnahm und davon gab es in Europa einfach mehr und vor allem bessere. Auch machte sich ein Studium im Ausland einfach ausgezeichnet in seinem Lebenslauf.

Seine Wahl war schliesslich auf die eher kleine, aber traditionsreiche und in der Zaubererwelt durchaus bekannte Universitatis magicale Basiliensis gefallen. Die Wohnungssuche in der Stadt hatte ihn allerdings weitaus mehr Zeit gekostet, als er gedacht hätte, da seine Eltern ihm ihre Unterstützung verweigerten und der Name Malfoy auf dem Kontinent nicht halb so bekannt war, wie auf der Insel. Besonders sein Vater war der Ansicht gewesen, dass er, wenn er unbedingt studieren wollte, er selber zu Recht kommen müsste und hatte dabei die volle Unterstützung seiner Mutter gehabt.

Erst einen Monat vor Semesterbeginn hatte er endlich eine Wohnung direkt am Rhein gefunden, die seinen Ansprüchen entsprach und hatte dann noch einmal drei Wochen gebraucht um seinen Umzug zu organisieren. Für Draco war es das erste Mal gewesen, dass er in seinem Leben wirklich etwas selber organisieren und in die Hand nehmen musste und so war, seines Perfektionismus zum Trotz, doch einiges etwas schief gegangen. Aber schlussendlich hatte doch noch alles geklappt und so kam es, dass er erst eine knappe Woche wirklich hier wohnte und erst am Abend zuvor die Einweihungsparty gewesen war.

Die Wohnung hatte keinen Kamin und es schien hier auch nicht üblich zu sein, das Flohnetz zu nutzen. Das hatte er jedenfalls aus den Erzählungen seines Vermieters heraushören können. Gegen das Apparieren hatte er allerdings eine nicht erklärbare Abneigung entwickelt, seitdem er sich bei seinen ersten Versuchen zersplintert und seine Beine zurückgelassen hatte. Zwar hatte er inzwischen seine Lizenz, aber das ungute Gefühl war geblieben. Mal ganz abgesehen davon, dass das Apparieren seine Frisur durcheinanderbrachte und er das Gefühl hasste, das es verursachte.

Draco konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so schnell aus dem Bett gekommen war. Es musste schon eine halbe Ewigkeit her sein. Normalerweise hatte ihn Blaise immer rechtzeitig geweckt, so dass er genügend Zeit für seine Morgentoilette hatte. Und jetzt… Jetzt hatte er nur noch eine Stunde, gut, anderthalb Stunden, wenn er doch apparierte, um sich fertig zu machen.

Also viel zu wenig. Er warf seine Bettdecke beiseite und kümmerte sich nicht darum, dass sie dabei aus dem Bett fiel. Auf dem Weg ins Badezimmer zog er die Shorts und das Shirt, das er zum Schlafen genutzt hatte, aus und liess es auf den Boden fallen. Die Hauselfen würden sich schon darum kümmern, so wie es der Vermieter versprochen hatte. Im Bad stellte er sich erstmals unter die heisse Dusche, um richtig wach zu werden. Wenn er etwas hasste, dann Hektik am frühen Morgen. Er brauchte immer eine gewisse Weile um wirklich wach zu werden.

Nachdem er sich eine halbe Stunde gründlich shamponiert und auch die Haare gewaschen hatte, stieg er aus der Wanne und nahm sich ein Handtuch um sich abzutrocknen. Schon vor Jahren hatte er festgestellt, dass Trocknungszauber seinem Teint nicht sonderlich gut taten und seine Haut austrockneten. Seitdem trocknete er sich nach Muggelart ab. Sein Handtuch allerdings war mit allerlei Zaubern belegt, so dass es immer flauschig und warm, sowie selbstreinigend war. Draco schob es auf die Hektik, dass ihm das Handtuch an diesem Morgen ungewohnt kühl und kratzig vorkam.

Mit dem Handtuch um die Hüften und den Füssen eine nasse Spur hinterlassend, betrat er wieder sein Schlafzimmer und öffnete seinen magisch vergrösserten Schrank. Die Kleider hingen dicht an dicht gedrängt. War das gestern auch schon so gewesen? Besass er tatsächlich so viele Umhänge, dass sogar ein magisch vergrösserter Schrank zu klein war?

Nur jetzt war keine Zeit darüber nachzudenken, er musste entscheiden, was er anziehen wollte. Nachdem ihm in der Hektik mehrere Bügel mit Umhängen heruntergefallen waren und eine Robe einfach vom Kleiderbügel gerutscht und irgendwo in den Tiefen seines Schranks verschwunden war, entschied er sich schlussendlich für ein Paar schwarzer, enger Jeans und ein grünes T-shirt, worüber die lange Robe kam. Anschliessend hastete er wieder ins Bad, wobei er fast auf seinem Schlafoberteil ausrutschte, um seine Haare zu trocknen und zu frisieren.

Dazu benutzte er nun aber doch einen Trocknungszauber. Nach 10 langen Minuten waren seine Haare immer noch gleich nass und hingen in Strähnen herunter. Normalerweise beherrschte er den doch im Schlaf, warum waren dann seine Haare nicht schon längstens trocken? Irgendwie war heute einfach der Wurm drin. So konnte er doch nicht aus dem Haus gehen.

Ein Blick auf die Uhr sagte dem Blonden, dass er nur noch 45 Minuten zum Frisieren und Frühstücken hatte. 45 Minuten! Wie sollte er das schaffen? Das wurde doch sogar ohne Frühstück knapp. Aber an seinem ersten Tag zu spät kommen? Dann würde er halt doch Madam Gabrielles Allwetter Haarwachs nutzen. Er hatte zwar nur noch eine Tube davon, aber er würde es halt per Eule bei seinen Eltern nachbestellen müssen. Das konnten sie ihm nicht auch noch verwehren und ohne sitzende Frisur ging er jedenfalls nicht aus dem Haus.

Seine Haare waren immer noch nicht trocken, als er seinen Zauberstab beiseite warf und sich auf die Suche nach dem Gel machte. Sorgfältig benetze er jedes Strähnchen mit dem Wachs und legte es an seine Stelle. Ein weiterer Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er nur noch knapp 5 Minuten bis zum Vorlesungbeginn hatte. Warum klebte das Gel heute eigentlich so? Das tat es doch sonst nicht? Keine Zeit darüber nachzudenken, er war schon spät genug dran. Der Blonde zog sich die Robe über, warf noch einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel, ob die Frisur wirklich so sass, wie sie sollte und griff dann wieder zu seinem Zauberstab um sich zur Uni zu apparieren.

Er konzentrierte sich auf den Apparierplatz der Uni und machte einen Schritt. Nichts passierte. Das typische Gefühl beim Apparieren blieb einfach auf und als er die Augen wieder öffnete, befand er sich immer noch in seiner Wohnung.

Warum? Er konnte doch apparieren, er hatte seine Lizenz? (Auch wenn er erst im zweiten Anlauf bestanden hatte, aber das war Nebensache.) Warum also war er dann immer noch in seiner Wohnung? Draco versuchte es ein zweites Mal, wiederum erfolglos. Die Zeit wurde knapp. Es war bereits kurz vor 10. Eigentlich sollte er doch schon längstens an der Uni sein und ein Flohnetz existierte in dieser Stadt anscheinend überhaupt nicht und seinen Besen hatte er natürlich noch nicht erhalten. Der war wegen irgendwelcher irrsinnigen Bestimmungen am Zoll hängengeblieben.

Da blieb ihm wohl nichts andere übrig als zu laufen oder besser, zu rennen. Ein Malfoy rannte nicht! Leise fluchend schloss er die Wohnungstür hinter sich und machte sich nun doch rennend auf den Weg. Zum Glück hatte er das Allwetterwachs benutzt. Blieb nur zu hoffen, dass seine Frisur tatsächlich in Form blieb.

Um 13 nach 10 Uhr* betrat er das Gebäude der Uni und hastete weiter zum Hörsaal 118. Kurz bevor der Professor die Tür schloss, betrat er den Saal und wäre am liebsten gleich wieder rückwärts hinausgegangen. Alle Plätze bis auf ein paar Klappstühle an der Wand bei der Treppe waren besetzt. Ein Klappstuhl? Eindeutig unter seiner Würde. Aber es blieb ihm nicht wirklich eine andere Wahl, als sich so würdevoll wie möglich hinzusetzen. Ein etwa 40-jähriger, hagerer Mann mit kurzen braunen Haaren und Vollbart stellte sich vorne hinter das Pult und schaltete einen komischen Apparat an. An der Wand hinter ihm erschien ein Lehrplan. Wo war sein Zauberstab und warum trug der Typ Jeans und Hemd und keine Robe? Überhaupt machte er den Eindruck, als würde er nicht viel Wert auf sein Äusseres legen. Und das sollte der Professor sein? So bekannt die Uni auch sein mochte, aber irgendwie war der Professor seltsam.

Unauffällig musterte Draco seine Komilitonen. Alle trugen sie Muggelkleider und er konnte keinen einzigen Zauberstab sehen. Ganz im Gegenteil. Die meisten schienen auch den Professor nicht sonderlich seltsam zu finden und schauten aufmerksam nach vorne. Auch das Erscheinen des Lehrplans an der Wand hinter ihm, rief keinerlei Verwunderung hervor.

Inzwischen hatte der Typ angefangen zu reden und sich kurz vorgestellt. Draco hatte den Namen nicht mitbekommen, da er viel zu beschäftigt gewesen war, seine Mitstudenten zu begutachten, aber anscheinend hatte der Professor ihn gerade an die schwarze Tafel geschrieben, die er jetzt nach oben schob. Warum benutzte er keinen Zauber für solche einfachen Handgriffe? Konnte er denn überhaupt zaubern oder war es an dieser Uni etwa durchaus üblich, dass ein Squib unterrichtete? Draco kam das alles sehr seltsam vor und so langsam begann er sich zu wundern. Er war doch an der richtigen Uni und auch im richtigen Hörsaal und es war auch das richtige Datum und die korrekte Uhrzeit. Ein kurzer Blick in seine Unterlagen bestätigte ihm das noch einmal. Montag, der 15. September, 10 Uhr, Hörsaal 118 im Kollegiengebäude. Das Datum stimmte, die Uhrzeit ebenfalls und der Ort auch.

Inzwischen redete der Professor vorne an der Tafel weiter und Draco zwang sich, ihm diesmal auch zuzuhören: „Herzlich willkommen zu meiner Vorlesung zu Aussenwirtschaftstheorie und –politik." Draco schreckte auf. Die Stimme des Professors war angenehm gewesen, hatte ihn beinahe eingelullt und die leichten Kopfschmerzen gedämpft, die er nun doch hatte. Er hätte das letzte Glas am vorigen Abend, das, welches Blaise ihm gereicht hatte, nicht trinken dürfen. … Aussenwirtschaftstheorie und –politik. Da war doch etwas gewesen….

Aussenwirtschaftstheorie? Was sollte das bitte sein? Er sollte doch eigentlich in einer von Goblins und Zauberern gemeinsam geleitete Veranstaltung zu den verschiedenen Geschäftsbeziehungen von Gringotts sein. Wie kam dieser Mensch auf Aussenwirtschaftstheorie? Was bei Merlin und Morgana war Aussenwirtschaftstheorie?

Während sich das ungute Gefühl, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte, in Draco immer weiter ausbreitete, fuhr der Professor fort: „Ich und mein Kollege werden uns die Vorlesung teilen, wobei ich den monetären Teil übernehmen werde und mein Kollege sich am Freitag jeweils mit den verschiedenen theoretischen Modellen beschäftigen wird. Zudem werden in der Mitte und gegen Ende des Semesters zwei Vorlesungen stattfinden, in denen wir versuchen werden das Gelernte zusammenzubringen, Übungen besprechen und Fragen beantworten um sie auf die Prüfung am Ende des Semesters vorzubereiten, die sie bestehen müssen um die Kreditpunkte für diese Veranstaltung zu erwerben."

Prüfungen? Wer hatte denn etwas von Prüfungen gesagt und was bei Morgana waren Kreditpunkte? Draco war sich sicher, dass er die Anmeldung zur Uni sorgfältig und genau gelesen hatte und da hatte nirgends etwas von Prüfungen gestanden und den Begriff ‚Kreditpunkte' hörte er eben zum allerersten Mal.

„Des Weiteren", fuhr der Professor fort, „erwarten wir von Ihnen, dass Sie die jeweiligen Vorlesungen sorgfältig vorbereiten und die entsprechenden Kapitel in Ihrem Lehrbuch durcharbeiten. Wer es sich noch nicht besorgt hat, in der Studentenbuchhandlung liegt es auf und kann dort bei Vorlage ihres Studentenausweises mit 10% Rabatt erworben werden. Übungen zur Vorlesung werden ich oder mein Kollege jeweils rechtzeitig vorher ins Netz stellen. Nachdem wir letztes Jahr den Versuch gemacht hatten dem Wunsch der Studenten zu entsprechen und Folien zur Vorlesung ebenfalls ins Netz gestellt hatte, haben wir dieses Jahr nach den katastrophalen Prüfungsergebnissen wieder davon abgesehen."

Der Professor schrieb etwas auf dem komischen Apparat und in blauer Schrift erschien etwas an der Wand, das mit drei ‚w's begann. Was meinte der Typ mit ‚ins Netz stellen'? Welches Netz? Und wie konnte man Übungen ins Netz stellen? „Ich beginne damit, Ihnen die Zahlungsbilanz, auch Balance of Payments genannt, vorzustellen." Das musste ein Irrtum sein. Definitiv. Das konnte nur ein Irrtum sein. Draco war sich ziemlich sicher, die Begriffe Zahlungsbilanz und ‚Balance of Payments' noch nie zuvor gehört zu haben. Das hatte doch nichts mehr mit Gringotts zu tun! Aber jetzt einfach aus der Vorlesung herauszulaufen? Nein, das kam nicht in Frage. Ein Malfoy hatte Würde zu bewahren, selbst wenn er sich einmal geirrt hatte und so beschloss Draco zumindest so zu tun, als wenn das alles vollkommen normal wäre.

Der Professor legte etwas auf den seltsamen Apparat und an der Wand erschien eine Tabelle. Anschliessend begann er damit, diese zu erklären, wobei seine Stimme sich anhörte, als ob er mit sich selber reden würde.

Draco hatte Mühe damit, seine Augen am Zufallen zu hindern. Vielleicht hatte die Party am Abend zuvor doch etwas lange gedauert. Ausserdem fehlten ihm sein Frühstück und der Milchkaffee. Wo war er hier gelandet? Das war doch seine Uni, oder etwa doch nicht? Warum trugen dann alle Muggelkleider und wo hatte der Professor seinen Zauberstab gelassen? Was meinte der Typ mit Prüfungen und Kreditpunkten? In welches Netz wollte er Übungen stellen und was um alles in der Welt waren Folien und eine Zahlungsbilanz?

Draco schwirrte der Kopf, seine Gedanken drehten sich im Kreis. Er hätte gestern auf der Party doch nicht soviel trinken dürfen und vor allem hätte er Blaise nicht vertrauen dürfen, als ihm dieser ein Glas mit einer seltsam grünen Flüssigkeit angeboten hatte. Er hatte ihm bestimmt irgendeinen Trank daruntergemischt. Einen Trank, der Halluzinationen verursachte. Das musste es sein.

Langsam fielen Draco die Augen zu und seine Gedanken wurden von dem monotonen Klang der Stimmer fortgetragen. Es war sicher alles nur ein schlechter Traum und wenn er aufwachte, dann würde er ganz normal in seinem Bett im kühlen Halbdunkel seines Zimmers liegen. Ganz bestimmt.

* Die Vorlesung beginnt um 10 Uhr c.t. (cum temporem), das heisst Vorlesungsbeginn ist eigentlich um 10 Uhr 15.