2015, 4 Jahre nach den Vorfällen auf der Insel

„Natalia! Komm runter zum Essen!", rief Kathy Burton.

Natalia schlug ihr Buch, Die Verwandlung von Franz Kafka, zu und blickte seufzend aus dem Fenster. Draußen strahlte die Sonne von einem wolkenlosen Himmel.

Selbst heute nach all den Jahren fühlte es sich für Alex Wesker immer noch seltsam an, mit dem Namen des kleinen Mädchens angesprochen zu werden. Aber mit der Zeit hatte sie gelernt, damit umzugehen und ihr wahres Ich zu verbergen. Was war ein Name? Und früher oder später würde sie ihren unwürdigen Namen ablegen und ihren rechtmäßigen Platz einnehmen.

Manchmal konnte sie es kaum glauben, dass sie überhaupt überlebt hatte. Sie hatte Zweifel an ihrem Vorhaben gehabt, sie hatte ihre Pläne und ihre gesamte Arbeit bereits vernichtet gesehen. Aber sie war hier. Und sie lebte. Sie hatte den Tod überwunden. Sie hatte Spencer und Albert übertrumpft und war zu einem wahren Gott aufgestiegen.

„Natalia! Bist du schon fertig? Claire ist schon hier!"

Alex konnte Kathy auf der Treppe hören. Widerwillig erhob sie sich von ihrem Bett und trat vor den großen Spiegel in ihrem Zimmer. Sie trug ein leichtes blaues Sommerkleid und hatte ihr schwarzes Haar zu einem Zopf geflochten, der über ihre Schulter nach vorne fiel. Ihr Haar wurde von einem hellblauen Band zusammengehalten. Ihr Gesicht war ausdruckslos und zeigte keine Regung.

Es mutete seltsam an, ein 13- jähriges Mädchen zu ihr zurückblicken zu sehen und der Körper war für Alex bis heute fremd. Seit der Transformation war sie etwas größer und ihr Körper weiblicher geworden. Als wolle sie sichergehen, dass es wirklich sie selbst war, die sie im Spiegel ansah, hob sie langsam ihren Arm und strich über ihre Haare. Ihr anderes Selbst im Spiegel tat es ihr gleich.

Sie war so jung. Wie viel Zeit war vergangen, seit sie zum letzten Mal ein junges Mädchen im Spiegel gesehen hatte? Ihr vergangenes Selbst war eine alte, kranke Frau gewesen und manchmal war sie angewidert von sich selbst gewesen, als sich ihr braunes Haar in graues verwandelt und ihr Körper von Jahr zu Jahr mehr Leben verloren hatte.

Den Körper eines Mädchens zu besetzen, war ein notwendiges Übel gewesen, um ihre verlorene Jugend und ihre Gesundheit zurückzuerlangen, doch es brachte einige Unannehmlichkeiten mit sich, die Alex in Kauf nehmen musste. Es bedeutete, dass sie die körperlichen Veränderungen, die die Entwicklung vom Mädchen zur Frau erforderten, ein zweites Mal durchmachen musste. Sie nahm es gelassen, sofern dies möglich war.

Es gab allerdings eine andere Sache, die ihre Geduld auf eine harte Probe stellte und wenn sie ehrlich war, hatte sie sie bei ihrem Plan nicht ausreichend bedacht.

Eigentlich hatte Alex vorgehabt, nach ihrer Metamorphose für kurze Zeit auf der Insel zu bleiben, um dann schließlich ihre Forschungsarbeiten fortzusetzen. Dummerweise hatte sie die Fähigkeiten ihrer Testobjekte unterschätzt und Barry Burton hatte ihre Pläne völlig durchkreuzt. Er hatte Natalia von der Insel fortgebracht und sie bei sich zu Hause in seiner Familie aufgenommen, natürlich ohne zu wissen, dass er in Wirklichkeit Alex Wesker gerettet hatte. Die Frau, die er voller Verachtung für die Weskers auf der Insel getötet hatte und für immer für vernichtet hielt.

Alex hatte nun keine Kontrolle mehr über ihre Welt, sondern befand sich stattdessen als kleines Mädchen in der Welt der Erwachsenen. Mochte in ihrem Inneren auch das Bewusstsein, die Erinnerung, der scharfe Geist ihres inzwischen 55- jährigen Selbst stecken, so war sie doch nur für alle ein kleines Mädchen. Sie hatte keine Möglichkeit, selbstständig zu handeln, sie war gezwungen, mit anderen Kindern zusammen zu sein. Sie musste eine Schule besuchen, wo sie kindische Bücher lesen und Rechenaufgaben lösen musste, die sie schon als kleines Kind perfekt beherrscht hatte. Die Familie Burton hatte sie zu sich genommen und behandelte sie wie eine Tochter. Zuerst war sie ein Pflegekind gewesen, seit einem Jahr jedoch war die Adoption rechtskräftig. Sie hatte sogar den Namen der Familie angenommen.

Sie sehnte sich den Tag herbei, an dem sie frei sein würde und das Leben, das sie im Moment zwangsläufig führen musste, hinter sich lassen konnte. Wie sehr vermisste sie ihre Arbeit, wie sehr wünschte sie sich, wieder in einem Labor stehen zu können und ihre Pläne für das Schicksal der Welt vollenden zu können?

Bis es soweit war, musste sie ausharren und ihre Rolle als Natalia Korda weiterspielen. Bislang hatte sie alle Welt zum Narren gehalten und ihre Identität geheim halten können. Sie verbarg ihre Fähigkeiten und zog es vor, nicht aufzufallen, doch in ihrem Inneren arbeitete ihr Verstand Tag und Nacht weiter an dem t- Phobos- Virus. Sie hatte alle Untersuchungsergebnisse, alle Details ihrer Forschung in ihrem photographischen Gedächtnis gespeichert und konnte darauf zurückgreifen, wie auf einen Computer. Sie zählte im Kopf praktisch die Tage, die es noch dauern würde, die Menschen hier verlassen und sich wieder ihrer Aufgabe widmen zu können.

Sie musterte sich ein letztes Mal von oben bis unten im Spiegel, dann schlüpfte sie in ihre Schuhe und verließ ihr Zimmer. Als sie den Flur in Richtung Treppe ging, vernahm sie bereits den Duft des Essens von unten. Es roch nach gegrilltem Fleisch.

Die Burtons hatte für diesen Nachmittag Freude zu sich zu einem Barbecue eingeladen. Außerdem kamen die beiden Töchter Moira und Polly, die bereits ausgezogen waren, zu Besuch.

Alex atmete tief durch und mahnte sich zur Umsicht. Die gewöhnlichen Leute betrachteten Zusammenkünfte dieser Art als normal, was sie, Alex, nicht verstehen konnte. Das letzte bisschen von Natalias Gefühlswelt, das noch in ihr steckte, freute sich über das Zusammensein mit der Familie, war glücklich darüber, Menschen um sich zu haben, die sie mochten und die sich um sie kümmerten. Alex hatte dafür, für diese überflüssigen, für sie unwürdigen menschlichen Emotionen nur Verachtung übrig. Sie war ein Gott, der über den Menschen stand. Dennoch kam sie nicht umhin zugeben zu müssen, dass die Tatsache, dass sie jetzt eine Familie hatte, Menschen, die sie liebten und für sie da waren, ein neues, unbekanntes Gefühl in ihr auslösten, das sie nicht kannte. Eine Art Wärme. Natalias Überreste ihr reagierten immer darauf, Alex jedoch verdrängte es. In ihrem Inneren gab es nur Kälte. Hatte es immer nur Kälte gegeben.

In ihrer Kindheit unter Spencer hatte sie keine Familie gehabt. Sie hatte keine Eltern gehabt und auch keine Freunde oder irgendjemanden, der sie bedingungslos geliebt hatte. Der Einzige, den es gegeben hatte, war Albert gewesen und tatsächlich hatte die beiden ein stärkeres Band miteinander verbunden, als sie jemals mit irgendjemandem gehabt hatte. Sie waren nicht blutsverwandt gewesen, aber sie hatte ihn immer als eine Art Bruder gesehen. Weder sie noch Albert waren allerdings fähig dazu, die als normal angesehenen Gefühlsregungen der Menschen zu empfinden. Dafür hatte Spencer gesorgt, als er sie mental zu seinen Sklaven degradiert hatte.

Spencer, der alte Mann, der heute noch ihr Blut zum Kochen brachte und dem sie möglichst grausame Qualen in der Hölle wünschte, hatte sie nur wertgeschätzt, solange sie als sein willenloses Werkzeug fungiert hatte. Alex hatte lange mitgespielt, zu lange. Erst spät, zu spät, hatte sie begriffen, was Spencer mit den Wesker- Kindern beabsichtigt hatte; Albert war schlauer gewesen als sie. Schließlich hatten sie ihn beide verlassen, ihren „Vater", wenn man ihn so nennen konnte.

Bei dem Gedanken, Spencer weit abgeschlagen hinter sich gelassen zu haben, das erreicht zu haben, nachdem der alte Mann vergeblich sein ganzes Leben lang gestrebt und nie geschafft hatte, musste Alex hämisch grinsen.

Sie, sie allein hatte es geschafft, was nie ein Mensch vor ihn vollbracht hatte, weder Spencer, noch ihr Bruder Albert. Ihr war es gelungen, den Tod zu besiegen und ein wahrer Gott zu werden. Und schon sehr bald würde die Welt verändert werden.

Sie blieb am Treppenabsatz stehen, weil sie Stimmen von unten hörte. Kathy, Barrys Frau, begrüßte gerade jemanden an der Tür.

„Hallo, Jill. Gut siehst du aus. Chris… Kommt bitte rein."

Sie kannte die Namen der Menschen. Chris war der Bruder von Claire Redfield und Jill musste seine Frau sein, wenn sie sich recht erinnerte. Sie hatte bisher nur aus Erzählungen von ihnen gehört. Was sie sofort stutzig machte war, dass sich Natalias Fähigkeiten, Infizierte zu erkennen, meldeten. Sie spürte plötzlich etwas Ungewöhnliches von unten. Die Frau namens Jill trug irgendeinen Virus in sich, allerdings war er so schwach, dass es kaum spürbar war und Alex konnte nicht mit Sicherheit sagen, welcher es war. Höchst interessant, schoss es ihr durch den Kopf.

„Chris!" Barry war gerade hinzugekommen und begrüßte seinen alten Freund.

„Wie geht's euch? Wir haben euch ja ewig nicht gesehen", sagte der Mann namens Chris.

„Es ist alles gut", antwortete Barry und Alex konnte heraushören, dass er die Worte aufrichtig und ernst meinte. „Endlich ist wieder Frieden eingekehrt. Mit mir und Moira könnte es nicht besser sein."

„Das ist schön zu hören. Und wie geht es der… Kleinen, dem Mädchen?", fragte Chris weiter.

„Sie hat sich gut eingelebt", sagte Barry. „Sie ist sehr schüchtern und still, aber es geht ihr gut. Und darüber bin ich sehr froh."

„Liest sie immer noch die Kafka- Bücher?", fragte die fremde Frau namens Jill.

„Ja. Sie liest praktisch nichts anderes", sagte Barry, wobei eine kleine Andeutung von Sorge in seiner Stimme mitschwang. „Ich weiß nicht, vielleicht ist es ihre Art damit umzugehen. Sie ist so viel… erwachsener als ein normales Mädchen in ihrem Alter…"

„Vielleicht verständlich, wenn man bedenkt, was sie in Terragrigia durchgemacht hat", bemerkte Jill.

„Geht doch schon mal vor in den Garten, ich sehe mal nach ihr. Wenn sie liest, vergisst sie immer die Zeit", sagte Kathy, die schon die Treppe hinaufkommen wollte.

Alex wusste, dass es Zeit war. „Ich bin schon da", sagte sie. „Ich komme schon!"

Ihre Stimme klang jedes Mal fremd in ihren Ohren. Sie hatte etwas unschuldig, mädchenhaftes an sich, immer noch, obwohl Natalias Körper bereits die Pubertät durchmachte. Alex fühlte sich vor allem, wenn sie sprach, immer daran erinnert, dass sie nicht mehr sie selbst war. Die falsche Stimme ließ sie manchmal glauben, das Mädchen stecke noch in ihr.

„Da bist du ja! Wir warten schon", sagte Kathy und lächelte Alex freundlich an. „Komm mit zu den anderen."

Die Frau mittleren Alters strahlte so viel Wärme und Güte aus, wie Alex sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Verhielt sich eine richtige Mutter so, wenn sie mit ihren Kindern sprach? Wie fühlte es sich überhaupt an, eine Mutter zu haben? Für Alex waren diese neuen Erfahrungen mit einer Familie fremd. Sie hatte sich soweit es notwendig war, damit arrangiert, auch wenn sie dem nichts abgewinnen konnte. Sie dachte an Gregor Samsa aus der Verwandlung, der in seinem eigenen Zimmer verhungert war, nachdem ihn seine Familie nicht mehr gewollt hatte. Was würden die Burtons tun, wenn sie wüssten, wen sie unter ihrem Dach beherbergten? Mit Sicherheit würden sie Alex als das gleiche Monster behandeln.

Alex folgte Kathy in den Garten, wo ein Tisch mit Bänken aufgebaut war. Die beiden Töchter der Burtons, Moira und Polly, saßen bereits und unterhielten sich mit Claire. Von Moira wusste Alex, dass sie jetzt volle Agentin bei TerraSave war. Polly studierte an einem College Kunstgeschichte.

Als Claire ihren Bruder und Jill erblickte, sprang sie sofort auf und umarmte beide fröhlich.

„Hey, wie geht's dir? Es ist so lange her. Was treibst du so?", fragte sie Chris.

„Gut, wirklich gut", antwortete Chris und erwiderte die Umarmung. "Jill und ich haben uns Urlaub genommen."

Alex kannte nicht die ganze Geschichte, sie wusste nur, dass Chris Redfield, genau wie ihr Adoptivvater Barry Burton, für die B.S.A.A. tätig war und bei dem Virusausbruch vor zwei Jahren in Edonien und China zugegen gewesen war, wo er seinen Partner verloren hatte. Noch etwas, dass sie an ihrem Dasein, das sie im Körper eines Kindes fristen musste, hasste: sie hatte keinen Zugang zu Informationen. Niemand sprach mit ihr, schon gar nicht offen. Sie musste die Erwachsenen spät abends belauschen, um über irgendetwas unterrichtet zu bleiben. Barry, der offenbar eine langjährige Freundschaft mit Chris pflegte, hatte mit Kathy oft über seine Sorgen bezüglich seines Freundes gesprochen.

Alex kümmerte es nicht, wie es irgendjemandem ging. Es brachte sie nur in Rage, dass sie den neuen Virus nicht hatte untersuchen können.

„Hey, da ist sie ja!", sagte plötzlich Claire, die Alex bei der Terrassentür erblickt hatte. Automatisch drehten sich alle zu ihr um.

„Hi", sagte Chris. „Du musst Natalia sein, richtig?"

Alex betrachtete die unbekannten Leute und nickte schließlich.

Hier waren sie, alle vereint zu einem fröhlichen, ausgelassenen Familientreffen, in der naiven Vorstellung gefangen, auf der Welt sie Friede und Sicherheit eingekehrt, und hier war sie, Alex Wesker, der Feind mitten unter ihnen in falscher Gestalt, die sie alle zum Narren hielt und der sie schon sehr bald aus ihren Träumen befreien würde.