Kapitel: Wahrheiten
Als Harry wieder zu sich kam, saß er auf dem
Boden. Ohne auf seine Umgebung zu achten, berührte er ungläubig
mit der Hand seine Lippen. Was fiel diesem Kerl eigentlich ein, ihn
einfach so zu küssen? Sie kannten sich doch gar nicht? Okay, er
sah zwar nicht schlecht aus, so lange er nicht einen auf böse,
große, blasse Schlange machte, aber trotzdem hätte er ihn
wenigstens fragen können!!!
"Harry? Alles okay bei dir",
drang eine bekannte und besorgt klingende Stimme an sein Ohr.
Ruckartig hob er den Kopf, und sah sich einer besorgt
dreinblickenden Hermine gegenüber.
"Hermine? Was machst du
denn hier?" fragte er ungläubig.
"Also bist du wieder
du? Als wir vorhin ankamen, meintest du, du hättest einen
Zauber ausgesprochen, mit dem du mit deinem elfjährigen Ich
Körper getauscht hättest, oder irgendwie so was. Du warst
komisch", hörte Harry eine weitere ihm bekannte
Stimme.
"Ginny!!", Hermine trat aus seinem Blickfeld und gab
den Blick somit auf Ginny, Fred und George frei, die ihn besorgt
anblicken.
"Alles okay?" fragte Fred.
"Ja, alles klar.
Was macht ihr hier?" fragte Harry kühl, während er sich
aufrappelte. Rons Gedanken aus der anderen Dimension waren ihm
wieder in den Sinn gekommen. Sollten Fred, George und Ginny
ebenfalls beauftragt worden sein, nett zu ihm zu sein? Und was war
dann mit Hermine? Sie war Mugglegeborene. Mochte sie ihn wirklich
oder tat sie auch nur so.
"Wir haben uns Sorgen gemacht. Wir
versuchen schon seit kapp einer Woche Kontakt zu dir aufzunehmen,
aber der Orden meinte, wir sollten dich in Ruhe lassen", meinte
George.
"Weil sie nichts unternommen haben, und alle unsere
Eulen abgefangen wurden, haben wir deshalb beschlossen persönlich
nachzusehen, ob du in Ordnung bist", erklärte Fred
weiter.
Harry sah sie unschlüssig an.
"Du glaubst uns
nicht, oder?" fragte Hermine.
"Tut mir leid, aber ich kann
euch nicht einfach so glauben. Diesen Fehler habe ich schon einmal
gemacht", antwortete Harry weiterhin mit kalter Stimme.
"Wir
sind keine Todesser, wirklich nicht", begann Ginny, wurde aber von
Harry unterbrochen.
"Darum geht es nicht."
Fred und George
warfen sich einen undefinierbaren Blick zu, ehe Fred vorsichtig
fragte.
"Wegen Ron?"
Harrys Augen verengten sich zu
Schlitzen.
"Ihr wusstet das?"
"Ja, Mum wollte, dass wir
das gleiche machen", begann George.
"...wir hatten aber
keinen Bock drauf, weil wir dich echt nett fanden", meinte Fred
weiter.
"...und haben dich deshalb so oft wie möglich vor
Ron gedeckt, wenn du mal wieder alleine losgezogen bist", schloss
George.
"Warum habt ihr mir nichts gesagt", wollte Harry
wissen.
"Weil wir uns nicht sicher waren, ob du uns geglaubt
hättest", meinte wieder Fred.
"Worum geht's hier
eigentlich", wollte Ginny plötzlich wissen.
Harry warf den
Zwillingen einen fragenden Blick zu.
"Weil wir uns geweigert
haben, hat Mum Ginny nichts erzählt. Sie dachte wohl, Ron würde
schon aufpassen, dass sie nicht zu viel Kontakt mir dir hat."
"Warum
sollte ich euch jetzt auf einmal glauben?"
"Prüf es
nach, wenn du willst. Keiner von uns vier wird sich dagegen wehren",
meinte George nur und sah Hermine und Ginny bittend an. Die beiden
nickten nur, obwohl sie immer noch nicht verstanden, was eigentlich
los war.
Harry drang vorsichtig in den Geist der Vier ein.
Immerhin wollte er sie ja nicht verletzten.
Erst bei Fred, dann
bei George. Danach bei Ginny und zum Schluss noch bei Hermine, die
sich anfangs per Okklumentik wehrte, ihre Barriere dann aber fallen
ließ.
Bei allen vieren sah er echte Besorgnis und
aufrichtige Freundschaft.
"Sorry, dass ich euch misstraut
habe", meinte Harry jetzt wieder mit normaler Tonlage.
"Kein
Thema, aber wie bist du auf einmal darauf gekommen", wollte Fred
wissen.
"Setzt euch, dann erzähl ich's euch", meinte
Harry und deutete auf die nicht weit entfernte Couch des
Wohnzimmers, in dem sie sich befanden.
Die fünf setzten
sich, und Harry erzählte ihnen von seinem kleinen Ausflug in
die andere Dimension.
Nachdem er geendet hatte, senkte sich für
einige Augenblicke nachdenkliches Schweigen über die
Freunde.
"Wie kann Dumbledore das nur machen?" fragte Hermine
plötzlich.
"Vergiss Dumbledore. An den kommen wir sowieso
nicht ran, aber Ron wird mir das büßen, wie kann er nur
so falsch sein. Mimt den Freund und verpetz dich hinter deinem
Rücken", meinte Ginny aufgebracht. Sie schien gerade mächtig
wütend auf ihren Bruder zu sein.
"Was meinst du mit 'An
den kommen wir sowieso nicht ran'? Dumbledore ist doch tot?"
"Sie
haben es dir nicht gesagt?" fragte Hermine mit großen
Augen.
"Was gesagt", wollte Harry wissen.
"Dumbledore
lebt."
"Aber er wurde doch vom Todesfluch getroffen. Wir
haben ihn sogar beerdigt."
"Ja, aber vor knapp zwei Wochen
tauchte er auf einmal wieder auf. Er meinte, er hätte sich
vorher schon abgesichert, für den Fall, dass man versucht ihn
zu töten, und das er eine Möglichkeit gefunden hätte,
zu verhindern, dass seine Seele so leicht stirbt. Mehr wollte er
dazu nicht sagen. Natürlich wurde überprüft, ob es
wirklich Dumbledore ist, und er ist es. Wie er das geschafft hat,
weiß ich allerdings nicht", erklärte Hermine
weiter.
Harry ließ sich in seinem Sessel zurückfallen.
Er kannte nur eine Möglichkeit, den eigenen Tod der Seele zu
verhindern. Und der hieß Horkrux. Also hatte auch Dumbledore
einen Unschuldigen getötet, um mindestens einen Horkrux zu
erschaffen.
"Aber ich weiß, wie. Dieser Bastard",
meinte Harry wütend.
"Harry?" fragte Ginny
vorsichtig.
"Er hat dasselbe gemacht wie Voldemort. Dieser
Heuchler", rief Harry, ohne auf Ginnys Einwurf zu achten. Er und
Ginny hatten sich schon vor den Ferien einvernehmlich getrennt, und
waren jetzt nur Freunde.
"Wie meinst du das?" fragte Hermine
weiter, ohne auf seine Laune zu achten. Sie kannte das ja schon.
"Er
hat Leute getötet um seine Seele teilen zu können, und
diese Seelenteile dann in Gegenstände zu versiegeln. Nur das
Voldemort keine Unschuldigen getötet hat, sondern nur Feinde.
Bei Dumbledore bin ich mir da aber nicht so sicher."
"Harry,
das sind ziemlich schwerwiegende Anschuldigungen", meinte Hermine
weiter in diplomatischen Tonfall.
"Aber ein Horkrux ist der
einzige Weg, seine Seele vor dem Sterben zu bewahren. Ich habe schon
Hunderte von Büchern über das Thema gewälzt. Eine
andere Möglichkeit gibt es nicht."
"Hermine, Dumbledore
hat sich verändert, das haben wir doch auch schon
festgestellt", meinte Fred.
"Wie meinst du das?" wollte
Harry wissen.
"Na ja, er reagiert total komisch, wenn die
Sprache auf dich kommt. Er hat allen Ordensmitgliedern verboten, mit
dir Kontakt aufzunehmen. Lupin ist deswegen vom Orden ausgetreten.
Zur Zeit ist er untergetaucht, wohl weil er Dumbledore nicht traut",
fing Fred an.
"Er wird jedes Mal stinksauer, wenn man deinen
Namen erwähnt. Er ist dann richtig unheimlich", erklärte
Ginny weiter.
"Ich habe letztens gehört, wie er zu Mum
sagte, er wäre enttäuscht von dir, und das er befürchten
würde, die andere Prophezeiung würde vielleicht doch noch
eintreffen", meinte George zögernd.
"Welche andere
Prophezeiung?" fragte Harry, der hellhörig geworden war.
"Das
wissen wir nicht. Sorry."
In Harrys
Kopf tobte ein regelrechter Sturm. Also gab es noch eine
Prophezeiung für ihn? Aber warum hatte man sie ihm
vorenthalten? Und was stand darin, wenn Dumbledore so wütend
reagierte?
Im Stillen fasste Harry einen Entschluss. Doch dazu
würde er Unterstützung brauchen. Unsicher sah er Fred,
George, Ginny und Hermine an.
"Würdet ihr mir einen
Gefallen tun?"
"Welchen", wollte Ginny gleich wissen.
"Sagt
niemandem, dass ihr hier wart. Ich möchte mit dem Orden nichts
mehr zu tun haben. Sie haben mich zu lange belogen und ausgenutzt.
Das seh ich nicht mehr ein."
"Tritts du Voldemort bei?"
fragte Hermine zögernd.
"Nein. Zumindest noch nicht. Ich
möchte herausfinden, wo ich wirklich stehe. Ich werde
versuchen, mich mit Voldemort zu einigen, dass er mich vorerst nicht
angreift, weil ich erst meine eigene Gesinnung herausfinden
möchte."
"Glaubst du, er lässt dich in Ruhe?"
Harry
grinste schief.
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass er genau
weiß, dass ich die letzten Wochen vollkommen ungeschützt
hier war, und wie du siehst lebe ich noch. Einen Versuch ist es
wert."
"Können wir hier bleiben?" fragte George
plötzlich.
"Warum", wollte Harry nur wissen.
"Na
ja, Fred und ich sind uns auch nicht sicher, wo wir wirklich stehen.
Wir möchten selbst versuchen, es herauszufinden, aber wenn man
im Hauptquartier des Phönixordens sitzt, hat man dazu irgendwie
keine Möglichkeit", grinste George.
"Ich bitte auch",
meldete sich Ginny wieder zu Wort.
"Ich auch. Ich vertrau dir
und deinem Urteil, und ich bin mir, seit Dumbledore zurück ist,
auch nicht mehr ganz sicher, ob das was wir da tun auch richtig
ist", meinte auch Hermine.
Harry nickte nur. Dann begann er zu
grinsen.
"Jetzt gibt's nen dritten Orden."
"Wie meinst
du das", wollte Ginny wissen.
"Na ja, zum einen die Todesser
als dunkler Orden, dann der Phönixorden als weißer Orden
und wir als unentschlossene."
"Stimmt. Tja Chef, wo können
wir schlafen", fragte George und grinste ihn an.
"Wie,
Chef?"
"Na, komm schon. Wenn jemand diesen ‚Orden der
Unentschlossenen' leiten sollte, dann ja wohl du", grinste Fred
jetzt ebenfalls.
Harry warf einen Blick zu den Mädchen.
Beide nickten, ebenfalls breit grinsend.
"Na toll. Was habe ich
mir damit nur aufgehalst", brummte Harry, verschränkte die
Arme vor der Brust und begann zu schmollen. Dann aber begann er zu
grinsen.
"Wenn das so ist, könnt ihr mir ja beim Putzen
helfen. Und kann irgendwer von euch kochen?"
"Ich. Mum hat's
mir bei gebracht", meinte Hermine.
"Sehr schön. Wenn ich
anfange zu kochen, sieht die Küche hinterher aus wie ein
Schlachtfeld und das was dabei rauskommt, ist so ziemlich
ungenießbar. Hermine, du übernimmst das Kochen. Ginny, du
hilfst mir dabei, im Erdgeschoss weiter sauber zu machen. Fred,
George, ich übernehmt den ersten Stock. Solltet ihr irgendwas
finden, das euch suspekt vorkommt, legt es in den Raum neben meinem
Zimmer, da wo Seidenschnabel früher war. Eure Zimmer könnt
ihr euch selbst aussuchen."
"Ähm, sollen wir jetzt noch
mit putzten anfangen? Es ist fast sechs", fragte Ginny.
Harry
warf einen Blick auf die Standuhr in der Ecke.
"Nein. Wir
machen morgen weiter."
"Hier sieht's aber eigentlich schon
recht ordentlich aus.", meinte Fred.
"Habe die letzten Wochen
auch mit aufräumen verbracht. Bin aber noch nicht ganz fertig.
Kleiner Tipp. Geht nicht in den Zweiten Stock, da sieht's
katastrophal aus."
"Hier gibt's einen zweiten Stock?"
fragte Ginny verwirrt.
"Und nen dritten und einen Dachboden.
Die Treppe zum zweiten Stock war aber durch einen Zauber verdeckt.
Schätze, dass das Dumbledore war. Da oben ist nämlich eine
Bibliothek mit ziemlich vielen Schwarzmagischen Büchern und
Gerätschaften", meinte Harry schulterzuckend.
"Ich fange
dann am besten schon mal mit dem Kochen an", meinte Hermine und
wollte aufstehen.
"Lass mal, ist sowieso nur noch Brot, Käse,
Wurst, Kaffee und Tee im Haus. Ich muss morgen unbedingt einkaufen
gehen."
"Oh. Na dann", meinte Hermine und setzte sich
wieder.
Die fünf verfielen wenig später in eine
Diskussion über das derzeitig komische Verhalten von Dumbledore
und Voldemort. Harrys Gedanken wanderten wieder zu dem Kuss. Er
verstand einfach nicht, warum Voldemort ihn plötzlich geküsst
hatte. Und warum, warum konnte er nicht aufhören daran zu
denken? Und warum in Merlins Namen bekam er ein angenehm warmes
Gefühl im Magen, wenn er daran dachte?
