Inzwischen war das dumpfe Stimmengemurmel aus Richtung von Slughorns Büro deutlich abgeebbt. Aus dem Bauch heraus schätzte sie die Uhrzeit auf eine halbe Stunde vor Mitternacht. Wenn sie jetzt in den Gryffindor Gemeinschaftsraum zurückkehrte, riskierte sie neugierige Fragen, denn am letzten Abend vor den Ferien durften sich Schüler bis Mitternacht auf den Gängen aufhalten.
Zu ihrem Erstaunen fand sie die Bibliothek keineswegs verlassen vor: Zwischen den meterhohen Regalen saßen einige Fünftklässler, die verstohlen tuschelten und kicherten. Sie sahen auf, als Hermine so leise sie konnte in ihrem schimmerndem Kleid herein huschte. Glücklicherweise sah sie auf den schwarzen Umhängen nur einen grau auf blau gestickten Adler. Es bestand also immer noch die Chance, dass Gerüchte über ihren katastrophaler Abend an nicht allzu viele Gryffindor-Ohren drangen.
Notgedrungen zog sie sich in die Verbotene Abteilung zurück. Kein Sechstklässler, der noch bei Verstand war, würde am Abend vor den Ferien ernsthaft versuchen, sich mit einer von Snapes unmöglichen Aufgabenstellungen herumzuschlagen. Wenn sich ihre Mitschüler doch ein bisschen beruhigen würden... hinter der Fassade des bleichen, unleidlichen Kerkermeisters musste es doch auch eine angenehmere Seite geben? Seine Aufgabenstellung klang ihr noch in den Ohren. Sie war keineswegs so kompliziert wie immer alle dachten, nur weil sie von Snape kam...
Stellen Sie den Unterschied zwischen einem Inferius und einem Geist ausführlich dar und erläutern Sie Notwendigkeit und Möglichkeiten Ihrer Verteidigung gegen solche. Zwei Reihen hinter dem Schild, das sie aufforderte, den Raum zu verlassen, wenn sie hier nichts verloren hatte, fand sie, was sie suchte.
Sie durchblätterte den kleinen Bestand an Büchern über Inferi. Zwei vielversprechende zog sie aus dem Regal, entzündete ihren Zauberstab, klemmte ihn mangels besserer Möglichkeiten hinters Ohr, ließ sich am Lesepult am Ende der Reihe nieder und begann zu lesen.
Es dauerte nicht lange, bis sie inständig hoffte, nie einem Inferius zu begegnen. Man wusste nicht, ob diese toten Körper, die mit Schwarzer Magie versklavt wurden, überhaupt vernichtet werden konnten. Sie sich solange wie möglich vom Hals zu halten wurde wiederholt als einzige kurzfristige Verteidigung beschrieben: Jene, die bereits ihr Leben aushauchten, beeinträchtigt man nicht, in dem man ihr Bewusstsein beeinflusst, denn sie haben kein Bewusstsein mehr, seit das Leben ihren Körper verließ. Mit einem Schockzauber bewirkte sie also im Falle eines Falles gar nichts. Es sprach von der Bösartigkeit dieser Kreaturen, dass der Autor des Buches die Möglichkeit in Betracht zog, dass solch aggressive Mittel zur Verteidigung in Betracht gezogen müssten wie verletzende und verstümmelnde Zauber: Dem Zauberer sei davon abgeraten, sich zum Angriff auf einen Inferius hinreißen zu lassen, bei dem er die Leiche schädigt. Denn obwohl sie keinen Schmerz empfinden, bedeutet der Verlust von Körperteilen für einen Inferius, dass es die Befehle des schwarzen Magiers nichts mehr auszuführen imstande ist. Da er dies jedoch zuvor als den einzigen und alleinigen Zweck seiner Existenz begriff, nimmt er Rache und wird nicht ruhen, bis der Zauberer zu einer Kreatur wie es selbst wird. Das klang ganz nach … wie hießen diese Kreaturen doch gleich, die in Horrorfilmen der Muggel aus ihren Gräbern auferstanden und Jagd machten auf harmlose, künstlich hübsche, meist blonde junge Muggelfrauen?
In den Spätfilmen, die sie heimlich bei ihren Eltern in den Ferien gesehen hatte, ließen dämliche Regisseure irgendwo in der Kulisse eine Fackel auftauchen, mit der die Mädchen diese Kreaturen verscheuchten. Oder sie rammten ihnen die Holzpflöcke durchs kalte, stillstehende Herz, wie bei einem Vampir. Hermine lehnte sich gegen die Steinwand und muss unwillkürlich lächeln, als sie den nächsten Absatz las.
Im Gegensatz zum landläufigen Glauben kann ein Inferius nicht wie ein Vampir mit einem Holzpflock abgeschreckt oder gar getötet werden, denn der Tod ist nicht jenen zu geben, die ihm bereits begegnet sind.
Irgendwo draußen hörte sie die Turmuhr des Schlosses schlagen. Das Getuschel aus der Bibliothek war verstummt. Auch Madam Pince's Schuhe quietschten nicht mehr auf dem glatten Holzboden.
Zombies, dachte Hermine, das war es. So nannten die Muggel diese Kreaturen.
Ein Luftzug fuhr eisig durch die Gänge.
Aber wenn sie an die Horrorfilme dachte, dann traf doch zumindest ein Teil dieses Aberglaubens zu... passend zu ihrer Idee schien ihr Zauberstab ein wenig heller zu leuchten.
Wie alle Kreaturen, welche die Dunkelheit ihr Zuhause nennen, fürchten sie Wärme und Licht. Ihr Zauberstab leuchtete noch heller, doch sie zitterte nun vor Kälte. Irgendwo in der Nähe raschelte Stoff über den Boden. Der Zauberer setze also dem Inferius Feuer zur Verteidigung entgegen.
Ein zweites Licht blendete sie.
Sie sah auf und ließ vor Schreck das Buch fallen.
Sein Gesicht wurde vom fahlen Licht der Laterne in seiner Hand erhellt, das ihn so bleich aussehen ließ wie einen Inferius.
Die Glocken mussten seine Schritte übertönt haben.
