Ein launisches Schicksal

I

Das Telefon klingelte. Schwester Sandrine hoffte, dass sie wenigstens jetzt jemanden erreichte. Sie hatte die anderen vier Nummern versucht, aber die Kontakte waren tot. Diese fünfte Nummer hatte ihr der geheimnisvolle Unbekannte vor Jahren gegeben zusammen mit den anderen vier und dem Hinweis, sie nur zu benutzen, wenn es keine andere Alternative mehr gab. Sie würde die Abwehr aktivieren. Schwester Sandrine wußte nicht, um wen es sich dabei handelte, oder was genau passieren würde. Sie wollte es auch gar nicht wissen. Sie wußte nur, sie mußte handeln, um den geheimnisvollen Mönch zu stoppen, der zur selben Zeit unten in der Kirche sein Unwesen trieb. Bevor es zu spät war.

Es klingelte noch immer. Dann nahm jemand den Hörer ab. Schwester Sandrine war mehr als erleichtert. „Ja?", meldete sich eine Stimme auf der anderen Seite.

„Sie sind alle tot. Die Bodenplatte wurde aufgebrochen und alle, die ich notfalls anrufen sollte, sind tot. Hören Sie?", gab die Schwester verzweifelt Auskunft. Nach einer kurzen Pause kam die knappe Antwort von der anderen Seite.

„Ich habe verstanden." Dann wurde aufgelegt. Die Schwester hoffte, dass sie alles richtig gemacht hatte. Sie kniete noch immer neben dem Telefon in ihrem Zimmer in Saint-Sulpice, mit dem Hörer in ihrer Hand.

„Legen Sie den Hörer auf", sagte eine schroffe, tiefe Stimme hinter ihr. Schwester Sandrine fuhr herum und erstarrte vor Schreck. Im Türrahmen stand der geheimnisvolle Mönch, den sie heute Nacht in die Kirche gelassen hatte. Zitternd legte sie den Hörer auf die Gabel und sah ihn mit angsterfülltem Blick an. Er hatte einen schweren Kerzenständer in den Händen und kam langsam auf sie zu. Die Schwester überkam bei diesem Anblick eine böse Vorahnung.

20 km entfernt wurde der Motor eines schwarzen BMW gestartet. Am Steuer saß eine junge Frau. Sie war eine außergewöhnliche Erscheinung. Zu ihrer schwarzen Kleidung, bestehend aus einem leichten Rollkragenpullover, langer Hose und Kurzmantel sowie den schweren, kurzen, ebenfalls schwarzen Lederstiefeln stand ihre extrem helle Haut in starkem Kontrast. Ihr ebenmäßiges Gesicht wurde wen schwarzen, glatten, etwas längeren Haaren eingerahmt, und komplettiert durch große, klare grüne Augen, die aufmerksam dem Straßenverkehr folgten.

Dinah hatte diesen Auftrag bereits vor Jahren erhalten. Ebenso war die dafür geforderte Summe bereits vor Jahren auf einem gesonderten Nummernkonto eingegangen. Sie hatte es bis jetzt unberührt gelassen, nur für den Fall, dass es sich ihr geheimnisvoller Auftraggeber doch noch anders überlegte. Insgeheim hatte sie es gehofft. Dinah war es gewohnt, die seltsamsten Wünsche der zum Teil noch seltsameren Klientel auszuführen. Doch dieser Fall unterschied sich von allen bisherigen. Natürlich waren auch dieses Mal ihre besonderen Fähigkeiten gefragt. Sie sollte erneut eine Person endgültig ausschalten. Jedoch war es das Wo und Wer, was sie damals erst hatte zögern lassen, und dass sie auch heute Nacht mit leichtem Unbehagen erfüllte.

Der Unbekannte hatte sich mit ihr persönlich getroffen. Etwas, dass Dinah sonst nie tat. Für gewöhnlich nahm sie ihre Aufträge per Telefon entgegen. Es interessierte sie nur, Wer es sein sollte und Wieviel die Person wert war. Sie fragte nicht nach dem Warum. Sie hielt sich nur an einen Grundsatz, den man ihr vor Ewigkeiten beigebracht hatte: keine Frauen, keine Kinder. Heute Nacht nun hatte sie eine ganz delikate Afgabe zu erledigen.

Sie war von dem Unbekannten aus Sicherheitsgründen um ein persönliches Treffen gebeten worden. Telefone konnten abgehört werden. Und Geheimhaltung war bei diesem Unternehmen das oberste Gebot.Sie hatten sich im Beichtstuhl einer Kirche getroffen, jeder war durch die Trennwand vor den Blicken des anderen verborgen gewesen. Dinah war darüber informiert worden, sich nach Erhalt eines bestimmten Anrufs zu eben jener Kirche zu begeben und dort einen bestimmten Mann, oder auch mehrere Männer, möglicherweise Mönche, auszuschalten.

„Möglicherweise Mönche?", hatte sie damals irritiert und beunruhigt gefragt. „Und noch dazu in einer Kirche? Wissen Sie eigentlich, was Sie da von mir verlangen?" Dinah war nicht besonders gläubig, eigentlich glaubte sie nur an sich unud ihre besonderen Fähigkeiten. Aber einen Auftragsmord in einer Kirche durchzuführen, noch dazu an einem Diener Gottes, dass ging selbst ihr beinahe zu weit. Jedenfalls bereitete es ihr einiges Unbehagen.

„Nun, ihr müßt es ja nicht in der Kirche tun", hatte ihr Gegenüber vorsichtig vorgeschlagen. „Aber der Mann muß aufgehalten werden, endgültig. Er darf gwisse Informationen, die er hier erlangt hat, auf keinen Fall weitergeben. Die Wahrung des Geheimnisses ist von immenser Wichtigkeit. Sollten Sie Bedenken haben, so steht es Ihnen frei, den Auftrag abzulehnen. Allerdings sind Sie uns als die beste Adresse für derart heikle Aufträge empfohlen worden." Ja, der gute Ruf konnte manchmal wahrlich ein ziemliches Kreuz sein. Nach einigem Zögern hatte Dinah dann doch zugestimmt, wobei die für den Auftrag in Aussicht gestellte Summe sicherlich einen gewissen Ausschlag gab. Vielleicht war nicht jeder Mensch käuflich, aber jeder Mensch hatte definitiv seinen Preis. Niemand wußte das besser als sie.

Das Unbehagen war dennoch geblieben und begleitete sie auch jetzt auf ihrem Weg zur Kirche Saint-Sulpice, mitten in Paris. Das war nun alles schon ein paar Jahre her. Insgeheim hatte sie immer gehoft, dass sie diesen Anruf nie erhalten würde. Doch heute Nacht war es soweit gewesen. Sie fragte sich flüchtig, ob sie Mönche in ihren Ausnahmekatalog hätte mit aufnehmen sollen. Doch sie verdrängte den Gedanken schnell wieder und versuchte, sich auf die vor ihr liegende Aufgabe zu konzentrieren. Sie wollte zunächst herausfinden, mit wem sie es zu tun hatte und dann über das weitere Vorgehen entscheiden.

Als sie vor der Kirche ankam, bog sie auf den Place Saint-Sulpice ab, der sich vor der Kirche befand. Außer ihr war nur noch ein zweiter Wagen da, ein schwarzer Audi mit dem Kennzeichen eines Autovermieters parkte am Rande des ansonsten menschenleeren Platzes. Das mußte er sein. Anscheinend war die ominöse Person noch im Inneren der Kirche zu Gange. Dinah parkte ihren Wagen ein Stück entfernt ein, so das sie den Platz gut im Blick hatte, ohne selbst zuviel Aufsehen zu erregen. Sie wartete eine halbe Ewigkeit. Jedenfalls kam es ihr so vor. Als sie sich gerade mit dem Gedanken anzufreunden versuchte, doch noch in der Kirche nachsehen zu müssen, öffnete sich die Kirchentür. Der Mann, der heraustrat, war tatsächlich ein Mönch. Für den Bruchteil von Sekunden konnte sie einen Blick auf sein Äußeres erhaschen, bevor er sich die Kapuze tief über den Kopf zog. Er war ungewöhnlich groß und machte einen athletischen Eindruck, obwohl er durchaus sehr schlank zu sein schien. Das faszinierendste aber war seine gespenstisch bleiche Haut, die beinahe nahtlos in sehr helles, nahezu weißes Haar überging, dass ihm bis auf die Schultern reichte. Etwas an seiner Erscheinung weckte in ihr ein Gefühl der Erinnerung. Er kam ihr auf seltsame Weise bekannt vor, sie wußte nur nicht, woher.

Er ging tatsächlich auf den geparkten Audi zu, stieg ein und blieb reglos im Wagen sitzen. Dann startete er den Motor und fuhr los. Dinah folgte ihm in sicherer Entfernung. Er hielt schließlich vor einem großen Haus, stieg aus und ging hinein. Dinah parkte ein Stück weit dahinter ein. Sie sah sich um, und versuchte zu erkennen, wo genau sie war. Ein Schild neben dem Eingang des Hauses, in dem der Mönch verschwunden war, enthielt die Aufschrift, „Opus Dei – Ordenshaus." Dinah wußte nicht, wer oder was Opus Dei war, ahnte aber, daß das noch mehr Mönche bedeutete. Und das war etwas, dass sie nun wirklich nicht gebrauchen konnte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten, bis der geheimnisvolle Mönch erneut auftauchen würde. Sie hoffte, dass dies nicht zu lange dauern würde.

Sie sollte Recht behalten.