„Und noch eine neue Meldung! Wir haben soeben erfahren, dass einige seltsam gekleidete Personen durch diese Gegend streifen. Vielleicht haben sie nicht mitbekommen, dass Fasnacht bereits vorbei ist. Wie dem auch sei, wir wünschen Ihnen weiterhin einen schönen Tag. Tschüss!", hallt es von einer jungen, geübten Frauenstimme aus dem Fernseher. Noch immer ist ein Bild von besagten Personen neben ihr zu sehen. Gerade als sie sich eine Strähne ihrer blonden Lockenmähne hinter ihr Ohr streift und sich den blauen Blazer zu Recht zupft, wird das Bild ausgeblendet und kündigt das Ende der heutigen Nachrichten an. Zumindest die, für morgens um zehn Uhr.
Anfangs sitzt Jennifer noch relativ ruhig und vor allem gelangweilt auf ihrer dunkelbraunen zwei-sitzer Couch. Die Ellenbogen auf ihre Knie gestützt und das Kinn in den Handflächen vergraben. Eine Strähne ihres rabenschwarzen Haares fällt ungezähmt in ihr Gesicht, doch sie macht sich nicht die Mühe, diese zu beseitigen. Viel mehr atmet sie tief ein und versucht sie weg zu pusten, jedoch misslingt dieser klägliche Versuch und sie gibt nach und streift sie hinter ihr Ohr. Ihre Konzentration liegt wieder auf dem Fernseher, ihre Schwester studiert und kommt erst diesen, Freitag, Abend wieder nach hause. Ihre Mutter ist auf der Arbeit und ihr Vater lebt schon lange nicht mehr bei ihnen, sie sind geschieden. Und Jennifer, oder Jenny wie sie meist genannt wird, sitzt Mitte Juli dank ihrer Schulferien alleine zu hause.
Seufzend steht die 16-jährige kurz auf um sich ausgiebig zu strecken, während der Sportmoderator wieder etwas über Handball erzählt. Ihre blaue Jeans bringt ihre sportliche Figur deutlich zur Geltung, ebenso wie ihr dunkelviolettes, langärmeliges Oberteil mit weiten Armen auf dem ein weißer Schmetterling aufgedruckt ist. Kurz darauf setzt sie sich wieder und hört mehr oder weniger interessiert den Nachrichten zu. In Gedanken ist schon wieder bei ihrem Lieblings-Manga ‚Naruto', ständig wägt sie ab, ob sie das letzte Kapitel noch ein Mal lesen soll. Warum sie überhaupt die Nachrichten im Fernsehen sieht? Weil um zehn Uhr morgens nichts Gescheites läuft. Zumindest sieht Jenny das so.
Fast hätte sie die Müdigkeit vollkommen eingeholt, doch dann kurz vor dem Vorspann des Wetters hört sie diese Nachricht über ‚seltsam gekleidete Personen'. Man kann machen was man will, aber Jenny mag seltsame Leute und so haben auch diese ihre Aufmerksamkeit auf sie gezogen. Sie widmet sich den Bildern, so wie sie es eigentlich immer macht, wenn sie irgendwo Bilder entdeckt. Wie in Mathematik, so hat auch sie sich eine Regel zu Recht gelegt: Bilder vor Text! Und daran hält sie sich, und zwar strickt.
Tiefe Falten bilden sich auf ihrer Stirn, als sie erkennt, wen oder was dieses Bild darstellen soll. Seltsam, aber mal ein toller Einfall. Man sieht ja viele Verkleidungen, aber sie haben die Naruto-Charaktere wirklich gut getroffen. Und das alles sogar noch in der Nähe, ich muss unbedingt mal einen von ihnen sehen., schießt es Jenny sofort durch den Kopf, während ihre smaragdgrünen Augen die Bilder regelrecht fixieren. Erst als diese ausgeblendet werden, wird sie zurück in die Realität geholt.
Eine halbe Stunde später …
Seit knapp zehn Minuten ist Jenny jetzt schon unterwegs, auf der Suche nach diesen Personen. Sie umschwirren ihre Gedanken und lassen sie nicht mehr los. Warum verkleidet sich gerade jemand als Naruto-Figur und dann noch so viele. Ich verstehe das nicht, aber ich muss jemanden finden. Dass will ich sehen! Mit jedem weiteren Gedanken, den sie über diese ‚kostümierten Personen' hegt, wird ihr Schritt schneller.
Nach weiteren zwanzig Minuten hektischen Suchens, will sie sich auf dem verlassenen Kinderspielplatz, etwas außerhalb des Dorfes, niederlassen. Die Wippe, die aus einem alten Baumstamm gemacht wurde, hat sich bereits modrig dunkel verfärbt und droht jeden Moment auseinander zu fallen. Die rote Plastikschaukel ist nur noch an einem einzigen porösen Strick befestigt, der andere ist bereits in der Mitte gerissen. Die ehemalige Affenschaukel ist schon nicht mehr als solche zu erkennen, kein Wunder, wenn der Reifen darin fehlt. Ein ebenso klägliches Bild bringt die Rutsche mit sich, auf der keine gewissenhafte Mutter ihre Kinder rutschen lassen würde. Ungefähr mittig auf der Bahn der Rutsche klafft ein breites, scharfkantiges Loch und die Stützen drohen ebenso bei dem nächsten Windhauch umzukippen. Das Gras, das auf dem Spielplatz ein wenig angenehme Atmosphäre bringen soll, ist schon 25cm hoch, auf dem kleinen Fußballfeld ist es mindestens genauso hoch, also untauglich für Spiele jeglicher Art.
Und dennoch, dieser verlassen wirkende Ort, ist immer ein Zufluchtsort für Jenny und ihre beste Freundin Marlene, hier können die beiden sich alles erzählen und gemeinsam schweigen. Denn die beiden verstehen sich ohne Worte und kennen die jeweils andere genau, und das schon seit Jennys achten Lebensjahres, also schon seit acht Jahren.
Seufzend folgt die Schwarzhaarige dem Weg an den über zwei Meter hohen Hecken, um zu dem schmalen, kaum noch sichtbaren, Eingang zu kommen. Als sie an dem Stromkasten, der unmittelbar daneben liegt, ankommt, vernimmt sie Stimmen. Sie sind ihr nicht gerade bekannt, aber sie kann auch nicht behaupten sie noch nie gehört zu haben. Diese wirken so nah und doch so fern, wie eine Erinnerung, oder ein Wunsch?!
Stirnrunzelnd nähert sie sich dem Eingang, an einer kleinen Stelle ist die Hecke ziemlich durchsichtig, sodass sie ohne Mühe einen Blick auf den Spielplatz erhaschen kann. Gerade als sie eine richtige Position gefunden hat, kann sie die Personen erkennen. Unwillkürlich stolpert sie einen Schritt zurück, einen Aufschrei unterdrückend und die Hände auf den Mund gepresst. Wow!, schießt ihr augenblicklich durch den Kopf. Schockgeweitete Augen starren noch immer auf die kleine Lücke zwischen den Zweigen.
Tief durchatmend lässt sie ihre Hände sinken und geht mit leisen Schritten wieder auf den Platz, auf dem sie zuvor gestanden hat zurück. Ihr Herz rast, schlägt ihr hart gegen Brust und lässt sie schon beinahe glauben, dass es meilenweit zu hören wäre.
Wieder muss sie tief durchatmen und versuchen ruhig zu bleiben, dann konzentriert sie sich genauer auf das Gespräch der beiden.
„Ich respektiere dich als Künstler, Sasori-no-danna, aber ich teile überhaupt nicht deine Ansicht was Kunst angeht. Kunst ist für einen Augenblick!", erklärt ein junger Mann, von um die zwanzig Jahren. Seine blonden langen Haare hat er zu einem hohen Zopf gebunden, eine vordere Partie verdeckt sein linkes Auge und reicht bis zu den Schultern. Seine grau-blauen Augen sind dabei stur auf sein Gegenüber gerichtet. Die Kleidung ist, für normale Verhältnisse, recht auffällig, ein langer schwarzer Mantel mit hohem Kragen, auf dem ein paar rote Wolken mit einer weißen Umrandung zu sehen sind. Als Schuhe dienen einfache Sandalen. Ungewöhnlicherweise sind die Zehennägel in schwarz lackiert.
Sein Gegenüber, der ein Stück kleiner ist, trägt dieselbe Kleidung, sein Blick hat jedoch einen deutlich sichtbaren, gelangweilten Ausdruck. Die kurzen roten Haare stehen ungezähmt ab und die braunen Iriden fixieren den scheinbar Jüngeren nahezu mahnend. Wie der Ausdruck seiner Augen, so ist auch seine Stimme vollkommen undeutbar, pure Langeweile könnte man meinen. „Du willst mir erklären was Kunst ist? Als ob man deine Explosionen als Kunst bezeichnen könnte, Deidara! Du musst noch viel lernen, denn Kunst ist für die Ewigkeit erschaffen, merk dir das!"
Jenny kann es nicht glauben, da laufen zwei junge Männer herum, die so aussehen wie zwei Personen aus ihrem Lieblings-Manga und dann verhalten sie sich auch genauso. Das ist genial, das ist perfekt! Sie kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus, zu fasziniert ist sie von dem Anblick der sich ihr bietet und so merkt sie auch nicht, dass sie schon längst bemerkt wurde.
