„Und
denk daran, immer aufzupassen ..."
„Natürlich."
„...,
damit du ein gutes Bild abgibst."
„Klar."
„Es
ist eine Ehre, dass du ausgewählt wurdest."
Urks.
Kein Kommentar.
„Aber
du bist ein kluges Kind ..."
Mein
Talent, bei Prüfungen zu schummeln sollte man nicht in den
Schatten stellen, finde ich. Aber das sage ich jetzt besser nicht
laut. Ansonsten rückt Hogwarts wieder in unerreichbare Ferne.
Und ich freu mich ja drauf.
„...
und deshalb vertraue ich darauf, dass du alles richtig machst."
„Werd'
ich, Mum."
Nicht, dass ihr jetzt denkt, ich wäre
eine Arschkriecherin. In den über siebzehn Jahren, die ich jetzt
gemeinsam mit meiner Mutter verbringe, habe ich einfach gelernt, dass
die ‚Ja und Amen'-Variante nicht unbedingt die schlechteste Idee
ist, wenn man mit ihr zu tun hat. Auf jeden Fall ist es einfacher und
auf die Dauer macht es auch keinen Spaß, mit ihr zu
diskutieren. Sie hat ja doch immer das letzte Wort.
Deshalb
wehre ich mich auch nicht, als sie mich in eine enge Umarmung zieht,
obwohl ich ihr Parfüm nicht ausstehen kann. Da ist Moschus drin
und wenn ich dieses Zeug rieche, wird mir immer ganz schlecht. Aber
meine Mutter steht drauf. Oder vielleicht hofft sie auch, dass die
Männer drauf stehen. Ansichtssache.
„...
soll einen neuen Schüler ein bisschen einführen. Er macht
hier sein siebtes Jahr.", höre ich in dem Moment jemand hinter
mir sagen.
Wie
– noch jemand neues? Großartig!
„Sein
Name ist Raven."
Gott!
Womit hab ich das verdient? Ich mag meinen Namen ja wirklich, aber in
manchen Situationen würde ich meine Eltern am liebsten erwürgen,
weil sie unbedingt so ein Unisex-Ding haben wollten. Vor allem, wenn
immer jeder zuerst an etwas Männliches dabei denkt. Warum auch
immer. Ich
finde, Raven hört sich weiblich an.
Als
meine Mutter mich endlich losgelassen hat, mache ich mir schon gar
nicht mehr die Mühe, mich überhaupt nach der Person
umzudrehen, die mich eben als Junge abgestempelt hat. Sie ist
vermutlich eh schon in dem Gewirr verschwunden, das hier auf dem
Bahnsteig herrscht. „Soll ich dir beim Suchen nach der
Schulsprecherin helfen, die dir hier alles zeigen soll?", fragt
meine Mutter in dem Moment. Hilfsbereit wie immer. Trotzdem würde
ich eher meinen Zauberstab aufessen. Ungewürzt.
„Nein,
danke, Mum. Ich find' sie schon alleine."
Also
mache ich mich mit meinem schweren Koffer und einem Katzenkorb auf
die Suche nach dem Abteil, vor dem angeblich diese Schulsprecherin
auf mich warten soll. Natürlich durfte ich vorher noch eine
mütterliche Umarmung und herzergreifender Schluchzer über
mich ergehen lassen. Irgendwer sollte mir mal erklären, wie sie
Schauspielerin werden konnte. Mir fällt es echt schwer, ihr die
Show abzukaufen, wenn ich ehrlich bin.
Als
ich mich endlich dem Abteil nähere, das mir in einem Brief vom
Schulleiter beschrieben worden war, sehe ich auch schon zwei Mädchen,
die sich in der Menschenmenge umsehen. Eine Beschreibung von dieser
Schulsprecherin wäre vielleicht nicht schlecht gewesen. Aber
daran kann ich jetzt auch nichts mehr ändern, also muss ich wohl
ins kalte Wasser springen.
„Lily
Evans?", frage ich, als ich mir sicher sein kann, dass sie mich
trotz des Lärms, der hier herrscht, hören können. Die
beiden Mädchen drehen sich tatsächlich um. Eine von ihnen
hat rotes Haar und ich muss nicht einmal genau hinsehen, um ihre
strahlend grünen Augen zu erkennen. Sie ist groß und
schlank – um eine typische Schönheit zu sein fehlen ihr nur
noch die blonden Haare, aber selbst auf den ersten Blick kann ich sie
mir nicht als Barbie-Püppchen mit gebleichten Haaren vorstellen.
Man muss wirklich kein hormongesteuerter Halbstarker sein, um zu
erkennen, dass dieses Mädchen vermutlich der Inhalt einiger
Jungenträume ist.
Das
Mädchen neben ihr ist der komplette Gegensatz. Sie erinnert mich
irgendwie an die Brasilianerin, die in Amerika in meinem Jahrgang
war: dunklere Haut und Haare von der gleichen braunen Farbe.
Ebenfalls eine Erscheinung, mit der sie den Kerlen hier vermutlich
den Kopf verdrehte. Lieber Gott, bitte mach, dass das keine Zicken,
sondern klischeehafte Schönheiten mit tollem Charakter sind!
Würde
mich wundern, wenn er mein Gebet erhört. Ich war ihm in den
letzten Jahren nicht sonderlich treu. Aber der Herr liebt schließlich
all seine Schäfchen, nicht wahr? Ich bin halt das schwarze Lamm
in seiner Herde!
„Das
bin ich. Kann ich dir helfen?", fragt die Rothaarige jetzt und
lächelt mich an. Die Stimme kenn' ich doch ...
„Ich
bin Raven. Die Neue. Aus Amerika.", helfe ich ihr weiter. Sehr
schön – sie sieht aus, als hätte ich sie damit
überrascht. Vermutlich hatte sie einen fetten Jungen erwartet,
der spricht, als hätte er einen Schwamm im Mund und so die
englische Sprache vergewaltigt. Aber was sie in Wirklichkeit bekommt
dürfte ja eigentlich besser sein. Zumindest auf den ersten Blick
bin ich mit meinen 1,70 m Körpergröße, langen,
schwarzen Locken und bronzefarbenen Augen bin ich wahrscheinlich auch
der bessere Fang. Ob man sich auf den zweiten Blick dann nicht doch
den übergewichtigen Texaner wünscht, wage ich zu
bezweifeln. Aber zum Glück kennen die mich und meine Macken ja
noch nicht richtig ...
Lily
hat sich inzwischen wieder gefangen und heißt mich herzlich in
England willkommen. „Gefällt es dir hier?", fragt sie.
Oh je. Schlechte Frage. Mein Blick
wandert unwillkürlich hoch zum wolkenverhangenem Himmel. Ich
habe zwar nur einen knielangen Rock an, friere aber trotzdem
erbärmlich an den Beinen. Meine Qualitäten, was die
Wettervorhersage angehen, waren schon immer erbärmlich und
deshalb ist die Sonne natürlich auch noch nicht hinter den
Wolken hervorgekommen, was ich eigentlich gehofft hatte.
„Das
Wetter ist nicht so schön, ich weiß, aber ..."
„Lily!",
höre ich plötzlich eine männliche Stimme hinter mir.
Noch bevor ich mich überhaupt umdrehen kann, tauchte neben mir
ein Junge auf, der etwa in meinem Alter sein musste. Auf seiner Nase
saß eine Brille, sein Haar war schwarz und sah aus, als hätte
er es seit einer Woche nicht mehr gekämmt.
„Was
willst du, Potter?", fragt Lily mit frostiger Stimme. Begeistert
scheint sie nicht unbedingt zu sein.
„Ich
wollte fragen, ob du nachher mit in unser Abteil kommst? Das wäre
echt toll!" Seine Augen leuchten richtig auf, während er sie
anblickt.
Herzergreifend.
Wie schade, dass ich noch nie ein Fan von Schnulzen war. Seine
Angebetete scheint der selben Meinung zu sein: „Nenn mir einen
Grund, warum ich mich zu euch Idioten setzen sollte?"
„Weil
... ich ... also" Sprach's und verlor jegliche Haltung. Armer
Kerl. „Also ... Ich würde mich echt freuen. Wir könnten
uns über unsere Ferien unterhalten und ... so." Noch ein
hinreißendes Lächeln für Lily hat er übrig und
schon trottet er wieder davon.
„Er
hat was von dem Golden Retriever meiner Nachbarin ..."
Verdammt!
Habe ich das wirklich laut gesagt?
Aber
gelogen ist es ja nicht. Es fehlen nur noch flauschige blonde Haare,
ein langer wuscheliger Schwanz und eine feuchte Nase, dann wäre
er der perfekte tierische Begleiter. Aber Lilys breitem Grinsen nach
zu urteilen nimmt die es mir auch nicht übel, dass ich ihren
Verehrer gerade mit einem Hund verglichen habe.
