Dying to Win
„Mensch, Lisa, was soll denn der Scheiß? Das war echt unter aller Sau! Es gibt Mädchen in den Kindergruppen, die das besser können als du!", brüllte ein Mann mit starkem osteuropäischen Akzent. „Tut mir leid", murmelte Lisa, wobei sie schwerfällig versuchte, von der Matte, auf der sie mit dem Hintern zu erst gelandet war, aufzustehen. „Erst wochenlang verletzt und jetzt unförmig wie eine Backpflaume", schimpfte der Trainer seinem Schützling hinterher. „Unförmig wie eine Backpflaume", moserte Lisa vor sich hin. Was für eine dämliche Redewendung war denn das bitte? Wo ihr Trainer das nur wieder aufgeschnappt hatte… „Wo willst du denn jetzt hin?", fauchte die Stimme des Mannes. „An den Stufenbarren", entgegnete Lisa. „Nachdem du nicht einen Sprung gestanden hast? Kommt gar nicht in den Korb! Du springst sofort wieder und zwar so lange, bis zu diesen verfluchten Sprung stehst."
„Der hat dich ja echt hart rangenommen", bemitleidete eine Trainingspartnerin Lisa in der Umkleide. „Hm", brummte diese den Tränen nahe. „Naja, aber er hat ja Recht. Ich hatte sechs Wochen diesen Gips und habe einfach zugelegt. Das wirkt sich jetzt eben auf meine Flugphasen aus." – „Ich finde, es steht dir gut. Es lässt dich fraulicher wirken." – „Danke, Flora, das ist lieb, aber… es ist nun einmal nicht meine Wettkampffigur. Damit schaffe ich es nie ins Olympiateam." – „Und da wollen wir ja alle hin", seufzte Flora verständnisvoll. „Hey, ich bin auch so ein guter Futterverwerter. Ich denke nur an Schokolade und schon werden meine Hüften breiter. Ich habe das aber ganz gut im Griff. Wenn du also ein paar Tipps brauchst…" – „Das ist wirklich nett von dir. Ich würde von diesem Angebot glatt Gebrauch machen."
„Hey, guck mal, der ist aber süß", deutete Lisa auf einen jungen Mann, der vor der Trainingshalle wartete. „Hm, das stimmt und er gehört zu mir", grinste Flora. „Echt jetzt?" – „Jup, und zwar für immer." Ein Hauch von Enttäuschung huschte über Lisas Gesicht. „So ist das eben mit großen Brüdern – die wird man einfach nicht los", lachte Flora ausgelassen. „Und weil ich dich so gequält habe, stelle ich dich ihm vor oder willst du nicht?" – „Doch, doch, unbedingt", versicherte Lisa. „Ey, Kowalski!", rief Flora dem jungen Mann entgegen. „Hey, Olympia-Hoffnung", lächelte er seine kleine Schwester an. „Rokko, darf ich dir Lisa vorstellen? Wir trainieren zusammen." – „Sehr erfreut", deutete Rokko amüsiert eine Verbeugung an. „Dann hast du jetzt gar keine Zeit für mich?", wandte er sich dann an seine Schwester. „Kommt drauf an, was du vorhast." – „Ich habe Papa das Auto aus dem Kreuz leiern können und dachte, wir fahren eine kleine Runde. Wir können deine Freundin auch mitnehmen oder sie nach Hause fahren", bot er Lisa dann an. „Oh ja", freute Flora sich. „Lisa, setzt dich doch auf den Beifahrersitz. Nachdem dein gebrochenes Bein gerade erst verheilt ist, ist das wohl besser. Da ist mehr Platz." – „Das muss nicht…", verstand Lisa offensichtlich Floras Intention nicht. „Doch, das muss sein. Du hast den Trainer gehört: Je eher du dich davon erholt hast, desto eher kannst du wieder voll trainieren. Also setz dich vorne hin und streck dein Bein aus", presste Flora durch die Zähne.
„Und an welchem Gerät turnst du am liebsten?", versuchte Rokko ein Gespräch mit seiner Beifahrerin aufzunehmen. „Ähm… Balken, glaube ich", druckste Lisa verschüchtert herum. „Lisa ist im Gegensatz zu mir eine echte Sprungspezialistin", krähte Flora von der Rückbank. Ihr ging es ziemlich auf die Nerven, dass Lisa sich so ungeschickt anstellte. Dabei war das doch die Chance schlechthin, Rokko kennen zu lernen und sich dabei von der besten Seite zu zeigen. „Naja, im Moment eher nicht… wegen des Beinbruchs und so. Heute war mein erstes Training seit dem Ermüdungsbruch", gab Lisa sich bescheiden. „Sprung, he? Ich werde nie verstehen, was am Sprung so toll sein soll", grübelte Rokko laut. „Ich meine, es ist weder sonderlich schön anzusehen, noch leicht nachzuvollziehen für den Zuschauer… so von wegen Wertung und so. Und gefährlich ist es obendrein. Wie hieß diese kleine Amerikanerin, die sich Ende der 80er Jahre am Sprung das Genick gebrochen hat?" – „Julissa Gomez", wusste Flora zu berichten. „Sie ist vor zwei Jahren gestorben", fügte sie betreten hinzu. „Seht ihr", fühlte Rokko sich bestätigt. „Ja, aber ein Risiko gibt es immer", gab Lisa zu bedenken. „Du kannst über die Straße gehen und dich überfährt ein Bus oder du stürzt unglücklich beim Turnen." – „Aha, aber was ist denn nun so faszinierend am Sprung, he?", wollte Rokko wissen. „Es ist… wie… wie Fliegen. Du bist einen Augenblick lang völlig schwerelos." – „Und warum fliegst du dann nicht in bequemen Positionen über das Pferd?" – „Weil es schön aussehen soll und weil ich gute Wertungen dafür bekommen will und…" – „… Medaillen natürlich", ergänzte Rokko schmunzelnd. „Nun gut, also die Damen, wohin soll es denn gehen?"
