Die Dunkelheit schützt
ihn vor den wachsamen Augen der Dienstboten. Angespannt blickt Erik
in das einzige noch erleuchtete Fenster des Chateau Chagny.
Der blasse, magere
Mann, der es sich in dem Ohrensessel bequem gemacht hat, hat nur noch
wenig Ähnlichkeit mit dem gutaussehenden Vicomte. In den
vergangenen drei Wochen scheint er um Jahre gealtert zu sein.
Zweifellos ist dies seinen Erlebnissen in der Folterkammer zu
verdanken. Mit beiden Händen hält er das Glas fest
umklammert und seine Haltung lässt Erik vermuten, dass es nicht
der erste Cognac an diesem Abend ist.
Auf den hellen Kacheln
vor dem Kamin liegen Papierfetzen, doch jedes Mal, wenn der
Hausdiener Anstalten macht, sie zu entfernten, herrscht ihn Raoul mit
ungewohnt rauer Stimme an. Auf einem der Fetzen liegt ein unförmiger
Gegenstand – der Schüssel zu seinem Haus unter der Oper.
Wo zum Teufel ist sie?
Hatte er ihm nicht versprochen, auf sie zu achten?
Es ist der Vorabend
ihrer Hochzeit. Er ist nur gekommen, um sie ein letztes Mal zu sehen.
Um zu wissen, dass es richtig war, sie mit diesem Jungen gehen zu
lassen. Doch irgendetwas ist nicht so, wie es sein sollte. Wo ist
Christine?
Mit einem Ruck wendet
er sich ab, erklimmt behände die Fassade, klettert auf Balkons
und starrt in leere Zimmer. Doch er findet sie nicht. In einem der
vielen Räume hängt ein weißes Satinkleid. Es hat
nicht einmal entfernt Ähnlichkeit mit dem schlichten, eleganten
Brautkleid, das er für Christine hat anfertigen lassen. Das
Diadem wie das Kleid sind besetzt mit kleinen glitzernden Steinen.
Ohne Zweifel – sie wird darin wie eine Prinzessin aussehen.
Im Salon unter ihm hört
er ein Glas klirren. Als er das Fenster wieder erreicht, starrt Raoul
blicklos auf den feuchten Fleck an der Wand, wo der Cognacschwenker
zerschmettert ist.
Lautlos schiebt Erik
sich durch das geöffnete Fenster, tritt an Raouls Seite und legt
blitzschnell die Hände um den Hals des jungen Mannes.
„Wo ist sie?"
Raoul fährt
zusammen, doch nach einer Schrecksekunde, die ihn noch einiges an
Farbe gekostet hat, kann er sich wieder soweit fassen, dass es ihm
gelingt, zu sprechen.
„Sie hält sich
an das Versprechen." Mit zitternder Hand deutet er auf die
Papierfetzen am Boden.
Erik fixiert den
Schlüssel für einen Augenblick.
„Ich habe Sie für
einen vernünftigen jungen Mann gehalten. Ich war mir sicher, Sie
würden ihr verbieten zu gehen - ich hätte es getan."
Stöhnend versucht
Raoul seinen Kopf zu drehen.
„Ich habe es
versucht. Ich habe ihr gedroht, es würde keine Hochzeit geben,
wenn sie jetzt zu Ihnen geht. Sogar die Einladung habe ich zerrissen
und ihr die Schüssel abgenommen. Aber sie ist trotzdem gegangen.
Sie liebt mich nicht!" Sein Blick wandert ins Leere, als würde
ihm nun die Aussage seiner Worte erst selbst bewusst. Schließlich
nickt er und wiederholt noch einmal mit fester Stimme: „Nein,
Christine liebt mich nicht."
Erik schnaubt, lockert
seinen Griff, als sich seine Hand schmerzhaft zu verkrampfen beginnt.
Der Schüssel…
Der Schmerz kommt
plötzlich, breitet sich über seinem linken Arm im ganzen
Körper aus und scheint in seiner Brust zu explodieren. Einen
kurzen Moment lang sieht er schwarz.
Als er wieder zu sich
kommt, ist er dabei Raoul zu würgen.
„Sie verfluchter
Idiot! Warum haben Sie sie gehen lassen?" Erst als Raoul leblos
zusammensinkt, lässt er ihn los. Keuchend klaubt er den
unförmigen Schüssel vom Boden.
Der Schüssel zur
Rue Scribe liegt unweit von ihm.
„Verflucht!"
Wenn Christine das Tor
nicht öffnen kann, kennt sie nur einen anderen Weg, um in seine
Wohnung zu gelangen. Er darf nicht zu spät kommen!
Die Hitze in der
verspiegelten Kammer erreicht sehr bald ein unerträgliches
Ausmaß. Christine kauert auf dem Boden, den Kopf gegen eine der
verspiegelten Wände gedrückt, in der Hoffnung, die glatte
Fläche würde ihr etwas Abkühlung schenken. Ihre Zunge
scheint Zentner zu wiegen und klebt an ihrem Gaumen. Sie wird bald zu
schwach sein, um nach ihm zu rufen.„Erik! Hilf mir!"
wiederholt sie noch einmal. Aber natürlich rührt sich
nichts. Sie hebt den Blick, aber erkennt sie nur sich selbst, hundert
– nein tausendfach - zurückgeworfen. Eine bleiche schwitzende
Frau, zitternd vor Angst.
Als die Spiegel um sie
herum zu glühen begannen, hatte sie noch versucht einen Ausweg
zu finden, einen Mechanismus, der die Folterkammer außer Kraft
setzt. Sie hat in unbändiger Wut und Angst, gegen die Spiegel
geschlagen, nach ihm gerufen – doch er ist nicht da.
Vielleicht ist er für
immer gegangen, weil er nicht daran geglaubt hat, dass sie ihr
Versprechen einhält.
„Wollen Sie mir
versprechen, sie am Tag vor der Hochzeit zurückzubringen und mir
diese Einladung zu überreichen?"
Eriks Worte hallen
dumpf in ihrem Kopf wieder. Sie ist zurückgekommen. Und das
nicht, um ihm eine Einladung zu überbringen. Es ist noch nicht
zu spät, hat sie gedacht. Sie kann ihm immer noch sagen, dass
sie ihn liebt, dass sie sein Gesicht nicht erschreckt.
Raoul hat es geahnt –
als sie mit der Einladung vor ihm stand, wusste er, dass sie ihn für
immer verlassen wird, um zu Erik zurückzugehen. Und er tat, was
jeder Mann an seiner Stelle getan hätte. Er hat versucht sie
aufzuhalten. Aber trotzdem ist sie gegangen. Zum ersten Mal in ihrem
Leben hat sie sich durchgesetzt, um das zu tun, was ihr richtig
erscheint.
Sie keucht und hebt den
Blick. Erik ist nicht mehr da, er hat nicht gewartet, dass sie
zurückkommt und nun kann er sie nicht befreien. Niemand wird sie
hier finden. Hinter ihrem Rücken, jedem Rücken der tausend
Christines, ist dieser Baum. Ein Eisengebilde, das einem Baum ähnelt,
der nur einen einzigen Ast hat. An ihm hängt das Pundjablasso…
Als Erik das Haus am
See erreicht, hört er schon das unheilverkündende Schrillen
seiner Alarmglocke. Wütend schreit er auf, als es ihm erst nach
dem dritten Versuch gelingt, mit zitternden Händen den
unförmigen Schlüssel im Schloss zu versenken. Die Tür
springt mit einem leisen Klicken auf, und im selben Augenblick
verstummt die Alarmglocke. Er hätte nie gehen dürfen. Hat
er ihr tatsächlich niemals erzählt, dass die Folterkammer
immer dann aktiv ist, wenn er seine Wohnung verlässt? Nur mit
diesem Schüssel hätte sie unbeschadet hierher kommen
können! Er verliert keine Zeit, das Gaslicht zu entzünden,
sondern eilt mit sich überschlagenden Schritten zur
Folterkammer.
„Christine!
Christine!"
Niemand antwortet.
Vielleicht hat er sich geirrt, vielleicht ist es nur einer der Heizer
oder Stallburschen und Christine wartet am Tor der Rue Scribe. Seine
linke Hand ist taub, als er den kleinen Schalter drückt, der das
Glas der Folterkammer öffnet. Sengende Hitze schlägt ihm
entgegen und nun entzündet er doch eine einzige Lampe, um mit
ihr die Kammer zu betreten.
Dort sinkt er mit einem
gequälten Aufschrei zusammen.
„Nein! Nein!"
Christines schönes
Gesicht ist unnatürlich verzerrt, die Augen weit geöffnet.
Weinend schleudert er
seine Maske von sich, vergräbt sein Gesicht in den Händen.
Seine schöne Christine… Er ist zu spät gekommen, er
konnte sie nicht retten.
Schließlich
gelingt es ihm aufzustehen, und das Lasso um ihren Hals zu lösen.
Ihr Körper ist
noch warm, sie ist noch nicht lange tot.
Schluchzend bricht er
zusammen, wiegt ihren leblosen Körper in seinen Armen. Immer
wieder streicht er über ihre dunklen Locken, küsst
vorsichtig ihre Stirn. Sie sieht aus, wie Schneewittchen, aber sie
wacht nicht mehr auf, als er sie küsst.
Noch einmal lässt
er sie los, um den Mechanismus wieder zu aktivieren und die Tür
der Folterkammer hinter sich zu schließen. Sofort umgibt ihn
eine lähmende Hitze, die Spiegel beginnen zu glühen.
Erik schließt
Christines Augen und presst sie an sich.
„Meine schöne
Christine… meine schöne Christine." murmelt er
ununterbrochen. Bevor er seine Augen endgültig schließt,
fällt sein Blick auf ihre Hand. Es ist sein
Ehering, nicht der von Raoul, den sie trägt.
