Dank an J.K.Rowling für das Ausleihen von Personen und Plot.

Der Schwarze Mann

Eines Tages im April war er aufgetaucht und von da an sah ihn Conny immer, wenn sie im Park ihre Runden lief. Meistens saß er auf einer Bank zwischen dem Spielplatz und dem Teich, las in einem Buch oder blickte einfach nur vor sich hin. Wenn das Wetter zum Sitzen zu schlecht war, ging er spazieren, langsam, mühsam hinkend und auf einen Stock gestützt. Er fiel auf, jeder, der an ihm vorbeiging, musterte ihn unwillkürlich. Auch in einer Stadt, in der es an schrägen Typen nicht mangelte, erregte seine Erscheinung Aufsehen: Er war ganz in schwarz gekleidet und seine Sachen sahen aus, als stammten sie aus dem Kostümfundus. Gehrock nannte man das wohl, was er da anhatte. Zusammen mit der bleichen Hautfarbe, dem finsteren Gesichtsausdruck und den ungepflegten, langen schwarzen Haaren ergab es keinen vertrauenerweckenden Eindruck. Bald hatte er seinen Spitznamen weg: Der schwarze Mann. Man zeigte auf ihn, tuschelte über ihn und die Mütter, die den Spielplatz besuchten, nahmen ihre Kinder an die Hand, wenn sie an ihm vorübergingen. Dabei tat er nichts als Dasitzen oder Spazieren gehen, er pöbelte niemanden an, bettelte nicht und war nicht betrunken, so wie andere Männer im Park. Er war immer allein, auch die Cliquen von Jugendlichen, die im Park herumlungerten und mit Vorliebe Schwächere drangsalierten, ließen ihn in Ruhe.

Dann, im Hochsommer, kam der Abend, an dem Conny mit einem kleinen Jungen zusammenstieß, der gerade das Radfahren lernte. Das Kind hatte die Kontrolle über sein Rad verloren und schlingerte den Weg entlang, krampfhaft bemüht nicht umzufallen. Conny bog um die Kurve und bemerkte es zu spät. Zugegebenermaßen hatte sie auch nicht besonders gut aufgepasst. Sie war heute länger gelaufen als sonst, angetrieben von ihrer Wut und Enttäuschung. Michael war weg, nach zwei Jahren hatte er sie sitzen lassen, war einfach übers Wochenende mit Sack und Pack ausgezogen, konnte ihr ewiges Gemecker und ihre spitzen Bemerkungen nicht mehr ertragen, sagte er. Hatte wohl eine Frau gefunden, die ihn anhimmelte. Ach, verdammt, warum ließ sie sich immer wieder mit irgendwelchen Männern ein, die sie dann doch enttäuschten. „Nichts passiert", versicherte sie dem weinenden Knaben und stabilisierte das Rad. Der Vater kam gerannt und entschuldigte sich wortreich. Conny versicherte auch ihm, dass ihr nichts fehle und rieb sich heimlich die schmerzende Stelle über dem Knie, wo ihr Bein mit dem Lenker kollidiert war. Dabei traf sich ihr Blick mit dem des schwarzen Mannes, der auf seiner Bank die Karambolage beobachtet hatte. Er zog eine Augenbraue hoch – belustigt, wie es schien – und Conny lächelte zurück. Von da an lächelte sie immer grüßend, wenn sie sich trafen und er entgegnete den Gruß mit einem leichten Nicken. Nichts weiter, nur das, ein halbes Jahr lang.

Es war ein Sonntag im Januar und frostig kalt. Draußen lagen die gefrorenen Schneereste des Silvesterwintereinbruchs. Ein klarer, kalter Nachmittag, die Sonne versank rot hinter den gegenüberliegenden Häusern. Conny kämpfte gegen ihren inneren Schweinehund. Viel zu kalt zum Laufen. Ach was, wunderschöne klare Luft und denk an das Kilo Weihnachtsspeck.

Seufzend zog sie ihre Laufsachen an und ging hinunter.

Sie war auf ihrer letzten Runde, es wurde langsam dunkel, der Park war so gut wie menschenleer. Nicht einmal der schwarze Mann war heute da gewesen. Klar, nicht jeder war so verrückt wie sie selber. Aber es hatte gut getan, wie sie sich jetzt auf eine heiße Dusche freute! Da rutschte plötzlich ihr rechter Fuß auf einem Schneeklumpen aus, sie knickte um und landete schmerzhaft auf dem Boden. „Scheiße!" entfuhr es ihr. Vorsichtig versuchte sie wieder aufzustehen, aber der Fuß tat weh, sie konnte ihn nicht belasten, sie kam nicht hoch.

„Sind Sie verletzt? Brauchen Sie Hilfe?"

Die Stimme hinter ihr war angenehm und hatte eindeutig einen englischen Akzent. Sie drehte sich um. Der schwarze Mann! Heute trug er einen dicken grauen Strickschal und graue fingerlose Wollhandschuhe zu einem schweren dunkelgrauen Umhang und sah nun endgültig aus wie einem früheren Jahrhundert entsprungen.

„Ich bin ausgerutscht."

„Ja, das ist offensichtlich."

Spott. Genau das, was sie jetzt brauchte!

„Können Sie aufstehen?"

Er reichte ihr seinen Arm und mit seiner Hilfe kam Conny auf die Beine.

„Mein Fuß, ich glaube, ich habe mir den Knöchel verstaucht."

Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte sie einen Schritt und zog schmerzhaft die Luft ein. Das tat vielleicht weh! Wie sollte sie so nach Hause kommen?

„Soll ich es mir ansehen? Ich kann Ihnen vielleicht helfen?"

Sie zögerte und sah sich um. Keine Menschenseele sonst und es wurde jetzt wirklich dunkel. Sie blickte ihn an. Zum ersten Mal sah sie ihn von so nah. Er war offenbar noch nicht so alt, wie sie seinem mühsamen Gang nach immer gedacht hatte. Aber attraktiv konnte man sein Gesicht nicht nennen. Mager, bleich und zerfurcht, die Nase war zu groß; faszinierend waren nur seine Augen, schwarz und irgendwie gut. Sie beschloss diesen Augen zu vertrauen und nickte. Er half ihr die paar Schritte zur nächsten Bank. Mittlerweile war ihr kalt und sie zitterte unwillkürlich. Offenbar spürte er es, denn er nahm seinen Umhang ab und legte ihn ihr um die Schultern, ihren Protest mit einer Handbewegung abwehrend.

„Sie werden sonst krank. Es ist überhaupt großer – wie sagt man? – Unsinn, bei diesem Wetter draußen herum zu rennen."

Stirnrunzelnd betrachtete er sie und Conny zuckte mit einem verlegenen Lächeln die Achseln. „Ich bin Tanz- und Gymnastiklehrerin, ich muss fit bleiben."

„O ja, sicher."

Sein Mundwinkel verzog sich spöttisch, er hob ihren Fuß auf sein Knie und befreite ihn vorsichtig von Schuh und Socken. Conny fröstelte und kuschelte sich dankbar in den warmen Stoff. Dann hielt er plötzlich einen kurzen schwarzen Holzstab in der Hand und bewegte ihn langsam über ihrem Fuß hin und her. Conny beobachte ihn kritisch. Was sollte das nun? War sie einem Verrückten in die Hände gefallen? Starr vor Erstaunen war sie unfähig ihren Fuß zurückzuziehen und ließ den schwarzen Mann gewähren.

„Er ist nicht gebrochen. Ich kann es heilen, wenn Sie wollen."

Er war völlig ernst. Conny schüttelte heftig den Kopf.

„Nein, halb so schlimm. Ich kann morgen zum Arzt gehen."

Sie machte Anstalten ihr Bein zurückzunehmen.

„Wollen Sie so nach Hause – eh - humpeln?"

Er lachte leise.

„Keine Angst, ich tue Ihnen nicht weh. Der Fuß bleibt dran und Sie können ihn danach auch wieder benutzen."
Resigniert zuckte Conny die Achseln. Schaden konnte es ja wahrscheinlich nicht.

„Na gut, dann machen Sie mal."

Er hob wieder den Holzstab und bewegte ihn über ihrem nackten Fuß. Gleichzeitig murmelte er irgendeinen Singsang vor sich hin. Conny verspürte plötzlich ein Gefühl der Wärme im Knöchel und dann war der Schmerz verschwunden. Sie bewegte versuchsweise den Fuß, ja, der Schmerz war fort. Sie holte tief Luft.

„Wie haben Sie das denn gemacht? Das ist ja wie Zauberei."

Wieder das leise Lachen.

„Es ist Zauberei. Ich bin ein Zauberer. Wirklich", bekräftige er in Reaktion auf ihren ungläubigen Gesichtsausdruck.

„Sie sollten den Fuß aber trotzdem ein paar Tage schonen."

Sie nickte und zog Socken und Schuh wieder an, schälte sich aus seinem Umhang und stand auf. Sie konnte problemlos auftreten. Sie schaute ihn herausfordernd an.

„Jetzt mal ehrlich, wie haben Sie das gemacht?"

„Ich sagte doch schon, ich bin ein Zauberer. Wir können solche kleinen injuries, eh, Verletzungen leicht heilen."

„Wir? Heißt das, es gibt mehr von Ihrer Sorte?"

„Ja," er war ebenfalls aufgestanden und hatte seinen Umhang wieder angelegt, „in England gibt es eine ganze, eh, community..." „Gemeinschaft," half sie ihm aus, immer noch nicht so recht glaubend, was sie da hörte.

„Sie sprechen gut Deutsch. Liegt das auch daran, dass Sie ein Zauberer sind?"

Er lachte.

„Nein, Sprachen müssen Zauberer genauso lernen wie andere Leute - the hard way."

Er nahm seinen Stock in eine Hand und bot ihr die andere.

„Gibt es auch Verletzungen, die Zauberer nicht heilen können?" fragte sie und zeigte auf den Stock. Er drehte sich zu ihr um und sah sie an. Seine Augen zogen Conny in ihren Bann, ganz kurz hatte sie den Eindruck eines Abgrunds aus Trauer, Verzweiflung und Einsamkeit.

„Ja", sagte er einfach, „die gibt es."

Langsam machten sie sich auf den Heimweg, er brachte sie bis zur Tür.

„Danke", sagte sie und streckte ihm die Hand hin, „ich weiß gar nicht, wie ich mich..."

Er schüttelte den Kopf. „Es ist gut."

„Ich heiße übrigens Cornelia - Conny Stein."

„Severus Snape."

Er verbeugte sich leicht und ging davon.

In den folgenden Wochen wechselten sie ein paar Worte, wenn sie sich im Park begegneten.

Belangloses meist: Das Wetter, das Grünerwerden der Bäume, die anderen Parkbesucher. Conny waren sein trockener Humor und seine immer leicht ironische oder gar sarkastische Betrachtungsweise sympathisch. Er konnte das noch besser als sie selbst. Sie wunderte sich über den Gegensatz zwischen seiner gebildeten Sprechweise und seinem fast altmodisch anmutendem höflichen Benehmen einerseits und seinem schäbigen Aussehen andererseits, denn seine Kleidung erwies sich im hellen Licht des Frühlings als zunehmend abgetragen, die Schuhe abgetreten und das Leder rissig. Conny überlegte, wovon er wohl lebte, wagte aber nie, ihm eine solch persönliche Frage zu stellen.

Im Mai irgendwann erschien er einige Tage lang nicht. Sie begann schon sich Sorgen zu machen, aber am nächsten Tag sah sie ihn wieder auf seiner gewohnten Bank sitzen und beschloss, ihre Lauferei für heute zu beenden. Sie hatte schon mit Kopfschmerzen begonnen, und diese waren entgegen ihren Hoffnungen nicht besser geworden.

„Hallo, Mr Snape." Sie ließ sich neben ihn auf die Bank fallen.

"Hallo, Frau Stein."

Er musterte sie mit erhobener Augenbraue.

„Sind sie schon fit genug für heute?"

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich bin heute gar nicht fit, ich habe Kopfschmerzen."

Er nickte und fasste in die Tasche seines Gehrocks.

„Hier, trinken Sie einen Schluck davon."

Er hielt ihr eine kleine Flasche hin, die mit einer rötlichen Flüssigkeit gefüllt war.

„Was ist das?" Conny beäugte die Flasche misstrauisch.

„Ein Trank gegen Kopfschmerzen. Ich hatte auch welche. Es ist kein Gift, vertrauen Sie mir", fügte er hinzu, als Conny immer noch zögerte. Er entkorkte das Fläschchen und hielt es ihr hin.

„Ein Schluck sollte reichen."

Sie nahm einen und verzog das Gesicht.

„Brrr, schmeckt scheußlich!"

„Das ist leider nicht zu ändern. Aber es hilft."

Stimmt, dachte Conny und bewegte versuchsweise den Kopf. So ein schnell wirkendes Mittel hatte sie noch nicht erlebt.

„Kann man das kaufen?" fragte sie ihn.

"Ja, an der Ecke neben dem großen Supermarkt gibt es einen kleinen Laden..."

"Naturkosmetik, Esoterik, Edelsteine und so?"

"Ja, ich mache die Tränke und Salben für sie."

"Sie? Für diesen Kramladen?"

Sie war einmal drin gewesen, aber das Getue der Verkäuferin hatte sie schnell wieder vertrieben. Übersinnliches war nicht ihr Ding.

„Sind das dann Zaubertränke und Wundertinkturen?" fragte sie leicht spöttisch.

"Ja", antwortete er, völlig ernst.

Also damit verdiente er sein Geld, besonders gut schienen sie ihn nicht zu bezahlen.

Zauberer, Zaubertränke – das war wohl eine fixe Idee von ihm. Ein bisschen verrückt was er schon, aber sie mochte ihn und offenbar war er harmlos.

"Ihre Vorräte waren zu Ende, deshalb ich musste viel arbeiten in den letzten Tagen und hatte keine Zeit für den Park, das wollten Sie doch wissen, nicht wahr?" Er grinste spöttisch. Verdammt, kann er Gedanken lesen? dachte Conny und wurde verlegen. Er war immer noch ein Fremder, sollte sie jetzt zugeben, dass sie sich Sorgen gemacht hatte um einen Mann, von dem sie nicht mehr wusste als den Namen?

Sentimentale Kuh! schalt sie sich und stand abrupt auf.

„Ich geh dann mal."

Seine Hand war auf ihrem Arm. „Nein, warten Sie, es tut mir leid, ich wollte Sie nicht verletzen."

Da war wieder die Verzweiflung in seinen Augen. Dann wandte er den Blick ab und betrachtete eingehend seine Schuhe.

„Ich bin es nicht gewöhnt, dass sich jemand um mich Sorgen macht", sagte er leise.

Conny setzte sich wieder hin. Er war schon ein komischer Zeitgenosse und offenbar vom Schicksal nicht gerade verwöhnt.

„Schon gut, aber ich muss wirklich gehen, ich muss heute Abend noch unterrichten. Bis morgen dann."

„Bis morgen."

Von diesem Tag an beendete Conny ihre Runden immer an seiner Bank und saß noch eine Weile bei ihm oder ging ein Stück mit ihm spazieren. Sie kümmerte sich nicht um die neugierigen Blicke, die das ungleiche Paar provozierte: Die zierliche, sportliche blonde Frau in bunten Laufklamotten und der große, dünne Mann ganz in Schwarz. Es war einfach nett, sich mit ihm zu unterhalten. Er war belesen und gebildet, ein guter Beobachter und ein guter Zuhörer. Conny mochte es, wenn er lächelte, dann erschien sein Gesicht um Jahre jünger und seine Augen funkelten. Von sich selbst gab er nicht viel preis: Conny erfuhr, dass er einen Nachholbedarf - - er war stolz auf dieses Wort - an frischer Luft und Sonne hatte, dass seine Wohnung aber so wenig davon bekam, dass es ihn täglich in den Park trieb. Eine vage Handbewegung über seine Schulter zeigte die Gegend an, in der er wohnte. Mehr verriet er nicht. Sie sprachen auch nicht mehr über seine Behauptung, ein Zauberer zu sein, dieses Thema war Conny nicht geheuer.