How do I live (without you)?
"Ruki,
meine Ruki..."
Zärtlich
strich Takato durch die Haare des Mädchens, was sich dadurch
auszeichnete auch diese Geste mit nicht mehr als einem kalten Lächeln
zu beantworten. Ihre Augen leuchteten und stießen eine tiefe
Traurigkeit und Melancholie aus.
"Ich
gehöre niemanden, nicht mal dir..."
Grenzenloser
Realismus gehörte für Ruki genauso dazu wie ihr
desillusioniertes, pessimistisches Denken. Kurz wunderte sich der
braunhaarige Junge, kratzte sich kurz am Kopf und verschob damit
seine "googles", die sie für mehr als kindisch
empfand.
"Aber
Ruki-chan... ai shiteru... was würde ich wohl ohne dich machen?"
Er
erwartete keine Antwort auf diese Frage und sah doch, dass sie
überlegte in dem sie sich von der Parkbank erhob und hin und her
lief. Der Herbst hatte schon lange Einzug erhalten in Tokyo und ein
kalter, fast stürmischer Wind wehte und ließ die
zahlreichen Blätter der Bäume umhertanzen. Ruki setzte zu
einer Antwort an...
"Nun,
was wärst du wohl ohne mich? Takato Matsuda, 14 jähriger
Junge, braune Wuschelhaare... du wärst niemand anderes, du wärst
genauso wie jetzt. Ohne mich bist du genauso dran wie ich, vielleicht
sogar besser dran als jetzt. Ich weiß es nicht..."
"Aber
Ruki..."
Takato
wollte ihr wiedersprechen, ihr sagen, dass sie nicht solch einen
Unsinn reden sollte und sie für ihn der wichtigste Mensch auf
der Welt ist, aber sie ließ es gar nicht erst zu, dass er ihr
ins Wort fiel und fuhr unbeirrt fort.
"Mag
sein, dass ich dich liebe, Takato... mag sein, dass du mich liebst,
aber, was wäre gewesen, wenn du dich nicht in mich verliebt
hättest? Was wäre gewesen, wenn wir nicht zusammen gekommen
wären? Was wäre passiert, wenn es mich nicht geben würde?
Wenn ich nie geboren wäre? Wärst du dann anders als jetzt?
Würdest du anders leben und lieben?"
Der
Tamer bekam gar keine Chance auch nur eine Antwort zu murmeln, Ruki
antwortete für ihn oder versuchte eine Antwort auf ihre Fragen
zu finden.
"Nun,
Takato... um ganz ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass du anders
wärst. Du würdest wahrscheinlich sogar glücklicher
sein. Ich vermute, du wärst mit Juri zusammen gekommen, hättest
sie geliebt. Du wärst genauso verspielt, genauso naiv, aber
genauso nachdenklich und liebesbedürftig wie jetzt auch. Du
brauchst mich nicht, Takato... ich bin genauso wie du, unbrauchbar
letzt endlich."
"Wie
meinst du das?"
Takato
nahm die spürbare Kälte, die diese Jahreszeit mit sich
brachte, wahr, aber auch diese, die sich langsam zwischen ihn und
Ruki schob. Er verstand sie nicht, vielleicht konnte er es nicht,
vielleicht wollte er es nicht. Er liebte sie doch... 'Ohne sie werde
ich niemals leben können... wenn sie stirbt, will ich auch
sterben...', dachte er und allein schon der Gedanke löste bei
ihm Schmerzen und Unwohlsein aus.
"Nun,
wir sind alle nur unbrauchbare Wesen. Ob ich nun lebe oder du spielt
doch überhaupt keine Rolle. Irgendwann sterben wir, stirbst du,
sterbe ich. Der Kreislauf ist unaufhaltbar. Wenn ich sterbe, wird
irgendwo ein anderer Mensch geboren. Das ist einfach so. Aber, was
wäre passiert, wenn ich nicht geboren werde? Wenn du nicht
geboren wärst? Nichts, einfach nichts oder denkst du, der
Kreislauf des Lebens lässt sich dadurch durchbrechen, dass
irgendwo zwei Kinder nicht geboren werden? Meinst du, es stört
irgendwen auf dieser Welt, wenn wir nicht geboren werden?"
Kurz
stoppte sie und schaute nach oben.
Wolkenberge
türmten sich auf und ließen ein heran nahendes Unwetter
verlauten. Leichter Nieselregen tropfte herab und der Park leerte
sich. Nur sie beide, Takato und Ruki, blieben zurück und
schauten sich an. Takatos Gesicht zeigte eine nachdenkliche, kurze
Regung und er sprach mit sanfter, ruhiger Stimme auf sie ein.
"Mich
würde es stören, denn ich liebe dich Ruki, ich liebe nur
dich und ich brauche dich. Mag es auch niemand anderes stören,
wenn du nicht geboren wärst, mich würde es stören. Für
mich bist du die Luft zum Atmen, mein Sonnenschein. Immer, wenn ich
an dich denke, kann ich aufstehen, kann ich aus Träumen,
Illusionen erwachen und bin doch nur ein Mensch. Ich weiß, dass
ich nur das bin und das ich auf der Stelle sterben kann, ohne, dass
es jemanden, den ich nicht kenne stören würde. Ich weiß
es... aber, wenn mir der Gedanke kommt, ein Leben ohne dich zu
führen... dann möchte ich sterben Ruki... ich möchte
nicht ohne dich leben..."
Takato
wusste nicht wieso, aber er hatte zu weinen begonnen. Vielleicht war
es der schmerzhafte Gedanke, Ruki irgendwann zu verlieren oder, dass
sie irgendwann sterben würde, genauso wie er und wie alle
anderen Menschen. Er wusste es nicht, ja, er wollte es gar nicht
wissen.
Aus
dem Nieselregen war im Laufe der Zeit ein kräftiger Platzregen,
der sich seinen Weg zur Erde bahnte, geworden. Trotzdem, beide
konnten sich nicht bewegen, konnten sich weder umarmen noch nahe
sein. Rukis Gesicht zeigte keine Regung auf Takatos Worte, keine auf
sein Weinen. Zunächst. Mit einer kurzen Bewegung strich sie sich
durch die Haare und entfernte eine Haarsträhne aus ihrem
Gesicht.
"Takato..."
Mehr
brachte sie nicht hervor und fing, ohne dagegen anzukämpfen,
auch zu weinen an. Sie wollte stark sein, ihren Freund allerdings so
zu hören, der Gedanke gebraucht und geliebt zu werden, waren neu
für sie. Die Tamerin wollte ihm etwas entgegnen, wollte ihm
wiedersprechen und brachte doch nicht mehr raus als ein klägliches,
trotzdem sehr sanftes
"Ai
shiteru, Takato-kun."
"Ai
shiteru, Ruki-chan."
Nun
traute er sich näher zu kommen, sie anzufassen und ihr zärtlich
die Wange zu streicheln und zum ersten Mal während ihrer
Unterhaltung, lächelte Ruki. Sie hielt Takatos Hand sanft fest
und küsste ihn auf die Lippen. Takato erwiderte diesen Kuss und
beide verloren sich in ihrer vollkommen schönen Welt...
Die
Nacht hatte sich über Tokyo gelegt und ein runder voller Mond
stand am sternenklaren Himmel. Der Regen hatte aufgehört,
trotzdem zogen stürmische Winde über die Stadt und ließen
die Blätter umhertanzen und die Fensterläden auf - und
zuklappen.
Takato
bemerkte diese Kälte jedoch nicht. Nur mit einer dünnen
Jacke über dem blauen T - Shirt bekleidet, ging er fröhlich
pfeifend durch die Straßen. Auch die riesigen Menschenmassen,
die sich an ihm vorbeidrängten, große Leuchtreklamen, die
sich durch die gesamte Innenstadt zogen und auch der mehr als laute
Stadtverkehr wurden von ihm nicht erfasst.
In
seinem Kopf herrschte nur Ruki... wie sie ihn küsste und
streichelte und ihm immer wieder "ai shiteru" ins Ohr
flüsterte; das war seine Ruki. Seine süße Ruki...
gleich würde er sie treffen und wieder in die Arme schließen
können, ihre Wärme spüren.
Leichtfüßig
bannte er sich seinen Weg über die Straßen und konnte den
heran nahenden Autos nur kaum entkommen. Seine Gedanken drehten sich
nur um sie.
Wie
vereinbart wartete er an einer Laterne im Park; der Ort, wo sie sich
das erste Mal geküsst haben. Glücklich lächelnd setzte
sich Takato auf eine Parkbank in der Nähe, immer diese Laterne
beobachtend. Er lehnte sich zurück und schaute auf seine Uhr.
"Ich
bin zwei Minuten zu früh, sie dürfte gleich kommen."
Aber
sie kam nicht, auch nach 30 Minuten war sie nicht in Sicht und er
begann sich Sorgen zu machen.
"Sie
kommt doch sonst nie zu spät, ich schau mal bei ihr zu Hause
vorbei."
Mit
voller Sorge und einer dunklen Vorahnung, dass etwas nicht in Ordnung
war, lief er die Straßen entlang. Langsam zogen sich Wolken vor
den Mond und nur einige Laternen erhellten die Straße. Takato
wusste nicht wieso, aber unwillkürlich lief er schneller; es
rannte fast. Über seine Stirn zog sich der Schweiß.
"Ich
mache mir bestimmt nur unnötige Sorgen, vielleicht hat sie den
Bus verpasst oder ist zu Hause eingeschlafen...", murmelte er
ungläubig. Er wusste, dass es schwachsinnig war so etwas zu
glauben und diese Unwissenheit, nicht zu wissen, was mit ihr war,
ließ sein Herz schneller schlagen. Takato spürte schon
längst nicht mehr, dass er rannte, Häuser und Straßen
hinter sich ließ. Er wollte nur noch zu ihr...
Plötzlich
blieb er stehen.
"Nein,
nein... das kann ich nicht sein, das darf nicht sein..."
Die
Straße vor ihm bot ein fürchterliches Bild. Renamon lag
auf der Seite, überall blutend, hatte es doch versucht Ruki vor
der Gefahr zu beschützen und musste für seine Loyalität
bezahlen. Ein Auto stand quer über der gesamten Straße,
Menschen sammelten sich nicht nur um dieses merkwürdige Wesen,
sondern auch um ein am boden liegendes Etwas... ein Mädchen...
Ruki.
Takato
wollte dorthin laufen, wollte zu ihr und konnte sich doch nicht
bewegen. Wie versteinert stand er da, starr vor Schreck, starr vor
Angst. Er konnte nur immer wieder murmeln: "Ruki-chan...
Ruki-chan..."
Sein
Gesicht nahm die Farbe einer weißen Wand an.
Nur
von Weiten konnte er erkennen, wie die Leute traurig seufzten und
jemand eine Jacke über Rukis Gesicht legte. Nur von weiten
konnte er Sätze wie "Das arme Mädchen..." - "Sie
rannte wie gedankenverloren auf die Straße..." - "So
früh schon zu sterben..." hören.
Dann
sackte er zusammen...
Noch
Monate später schloss sich Takato in seinem Zimmer ein; er hörte
auf zu leben und somit auch auf zu lächeln. Wenn er nicht
weinte, saß er einfach nur traurig am Fenster, schaute zu, wie
die Jahreszeiten, Monate und Wochen an ihm vorbei zogen und bemerkte
nichts mehr um sich herum.
Anfangs
versuchten ihn seine Freunde aufzuheitern und besuchten ihn oft,
selbst Juri kam oft genug vorbei, um mit ihrer Handpuppe vor seinem
Gesicht herum zu fuchteln und ihn aufzuheitern. Jedoch Takato
reagierte nicht mal auf die Besucher, bekam keine freundlichen Worte
heraus und beließ es bei den förmlichen Höflichkeiten;
halb hervor gepresst aus lauter Freundlichkeit, nicht aus Freude.
Jenrya hatte das Gefühl, dass Takato mit sich schon
abgeschlossen hatte, als wollte er nicht mehr leben und jeder Tag,
den er leben müsste, sei eine Qual für ihn. Er sprach nicht
mehr weder mit seinen Freunden noch mit seinen Eltern.
Und
wenn er sprach, so schien es, als wenn ein anderer Takato reden
würde. Nicht mehr das fröhliche, liebesbedürftige,
junge Kind, wofür ihn alle gehalten hatten, auch nicht mehr der
Tamer, der gute Freund. Jenrya wusste nicht, was es war, aber er
spürte die Kälte, den inneren Tod, die Stille, die seinen
Freund umgab.
Als
wollte der Junge nicht mehr "normal" leben, als wolle er
sich abschotten für eine gesamte Zeit. Diese Kälte
beschlich Jenrya immer wieder, wenn er das Zimmer betrat. Einst
herrschte Freude und Fröhlichkeit in diesem Zimmer, jetzt nur
noch Einsamkeit und innerer Tod.
Er
mied den Kontakt zu seinen ehemaligen Freunden und bald gaben diese
es auf, ihn aufzuheitern und fröhlich stimmen zu wollen. Auch
Jenrya hatte keine Kraft mehr, spürte er doch, dass Takato Zeit
brauchte, viel Zeit.
Auch
an der Beerdigung nahm er nicht teil, es hätte ihn wohl
innerlich zerrissen.
"Mein
armes Kind...", konnte seine Mutter nur immer wieder flüstern,
bevor sie sich tränen erstickt in ihr Zimmer zurück zog.
Takato
jedoch, war mit dem Gedanken ganz woanders. Bei Ruki-chan... er
konnte und wollte sie nicht vergessen. Niemals würde er sie
vergessen.
Eines
Abends konnte er nicht mehr. Mehrere Male hatte er auf ein Blatt
Papier geschrieben "ai shiteru" und "Ich kann nicht
ohne dich leben, meine Ruki... Komm zu mir zurück..."
Er
vermisste sie so sehr und jedes Mal zog sich sein Herz zusammen, wenn
er die gemeinsamen Fotos anschaute. Zärtlich strich er noch
einmal über sein Lieblingsfoto: Ruki im Sommerkleid, das einzige
Mal, wo sie es getragen hatte.
"Ich
kann nicht mehr, ich will nicht mehr... ich will zu meinem Engel, nur
noch zu ihr... Sie hatte recht, es wird niemanden auf der Welt
stören, wenn ich weg bin, niemanden.", dachte er, während
er sich fast zärtlich mit der Rasierklinge über den Arm
strich.
"Ruki-chan,
ai shiteru, gleich bin ich bei dir... für immer bei dir..."
Noch
ein letztes Mal blickte er auf das Foto, auf die lächelnde Ruki,
die ihn fast bestärkte, wie ihm schien.
Dann
schnitt er sich, tief und schmerzhaft.
"Gleich
bin ich bei dir, meine Süße..."
Ein
zweiter Schnitt. Die Welt um ihn verschwand und einer weißer
Schleier zog sich über seine Augen. Er merkte nicht, wie er zur
Seite kippte, wie warmes Blut von seinen Arm lief, wie sein Boden
sich färbte.
Er
bemerkte irgendwie, dass sich seine Lippen noch bewegten und ein:
"Gleich... Ruki-chan... ich bin gleich da..." formten...
Kurz röchelte er, sein Körper schüttelte sich... Dann
nichts mehr...
The End
© by Glawar am 12.10.2003 um 03:39 Uhr
