Jede Stufe fühlte sich an wie der Himalaya mit einem schweren Herzen in der Brust.
Eigentlich war alles gesagt, doch die dröhnende Stille in Sasukes Ohren trieb ihn vorwärts.
Sein Streit mit Naruto lag nun exakt einen Tag zurück und die Nacht im Büro war die Hölle gewesen.
„Naruto", rief er vorsichtig in die Wohnung, als er die Tür öffnete. Eigentlich sollte er nicht vorsichtig sein müssen, schließlich wohnte auch er hier.
„Deine Tasche steht neben der Tür."
„Naruto-" Sasuke stockte der Atem, bevor er richtig über Narutos Worte nachdachte. „Du warst an meinen Sachen?" Wut begleitete seine Frage.
Eigentlich war er nie richtig eingezogen. Alles, was in dieser Wohnung ihm gehörte, passte in eine Reisetasche. Dennoch hatte er keine eigene Wohnung mehr, hatte sie aufgegeben aus irgendeinem nun bescheuert erscheinenden Grund. Er hatte nichts mehr. Naruto hatte alles, als wäre er nie dagewesen. Es war nicht fair.
„Ich hätte es früher wissen müssen." Erst jetzt hörte Sasuke die Enttäuschung in Narutos Stimme.
„Wovon zur Hölle redest du?"
Warum war er bloß schon wieder so wütend? Keine zwei Sätze und schon stritten sie wieder.
Naruto betrat den kurzen Flur der Wohnung, sein Gesichtsausdruck niedergeschlagen.
„Suigetsu. Tu nicht so, als liefe da nichts!" Seine Stimme stockte kurz, dann fing er sich wieder. „Ich hätte es einfach wissen müssen. Sasuke Uchiha ist niemand für eine feste Beziehung."
Die Worte verletzten Sasuke, machten ihn gleichzeitig aber auch unendlich wütend ob der Anschuldigung.
„Du hast ja einen Knall!"
Endlich trat Sasuke ein und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Die Nachbarn hatten ohnehin schon genug gehört. „Niemals habe ich dich betrogen!"
„Lass die Tür ruhig offen, jeder soll es hören! Sasuke Uchiha ist ein untreues Arschloch!"
Er hatte gar nicht gemerkt, wie er die Distanz überwunden hatte, doch Narutos geschockter Blick machte ihm bewusst, dass er ihn gegen die Wand gedrückt hatte.
„Halt dein Maul", zischte Sasuke, als er ihn losließ.
Naruto sah ihn immer noch mit weit aufgerissenen Augen an.
„Hör zu, es tut mir leid, aber red' nicht so eine Scheiße." Er trat einen Schritt zurück und holte tief Luft. „Nie", begann er, „absolut nie bin ich dir fremdgegangen."
„Sakura hat dich gestern mit Suigetsu gesehen." Es war kaum mehr als ein Flüstern, doch die Anschuldigung klingelte in Sasukes Ohren.
„Ja, weil wir uns ja auch getroffen haben. Wo ist das Problem?"
Naruto biss sich vor Wut auf die Lippe und sah Sasuke direkt an. „Du bist danach aber mit zu ihm gegangen!"
„Ja, und? Danach bin ich ins Büro gefahren und dort habe ich geschlafen! Oder was man so nennen kann, denn bequem war es da nicht, aber das kannst du ja nicht wissen. Du hast ja schön im Bett geschlafen!"
Er musste sich zurückhalten, die Distanz zwischen sich und Naruto nicht wieder zu schließen.
„Ihr hattet doch eh Sex! Das kannst du mir nicht erzählen!"
Vielleicht taten seine Worte so weh, weil er eigentlich ins Schwarze traf. Sasuke war nach ihrem Streit in die Bar gefahren, hatte etwas mehr als nur einen Drink zu viel und dann war da Suigetsu. Im Anschluss endeten sie in Suigetsus Apartment, denn das war von der Bar aus zu Fuß zu erreichen. Und es wäre mehr zwischen ihnen gelaufen, hätte Suigetsu ihn nicht zurückgewiesen, weil er zu betrunken war, um Entscheidungen zu treffen. Eigentlich hatte Naruto recht, er hätte mit Suigetsu geschlafen und genau deshalb war er wütend. Wütend auf sich selbst für seine Schwäche. Wütend auf Naruto, weil er recht hatte.
Danach war er wutentbrannt zurück zur Bar gelaufen, hatte sich in sein Auto gesetzt und war zum Büro gefahren. Vermutlich hatten ihn lediglich die nachtleeren Straßen davor bewahrt, sich und andere in seinem Zustand zu gefährden.
„Ich habe recht, oder?"
Narutos Worte holten ihn aus seinen Gedanken.
„Nein. Ja. Nein. Nein!" Er musste tief durchatmen. „Da ist nichts gelaufen." Er musste seufzen. „Aber du hast recht, es lag nicht an mir."
Die Ehrlichkeit schien Naruto doch zu überraschen, seine Stimme begann zu beben. „Wie kannst du nur so sein?"
„Ich weiß nicht. Es tut mir leid." Ihm fiel tatsächlich nichts Besseres dazu ein. Dazu ließ die Wirkung der Aspirin allmählich nach und der Kater kam wieder durch.
„Nimm. Deinen. Scheiß. Und. Geh." Narutos Stimme zitterte und er wandte den Blick ab. Es fühlte sich einfach alles so falsch an. Sasuke wollte protestieren, ihn anbrüllen, sich verteidigen, aber seine Lippen ließen kein Wort passieren. Besser so vermutlich. Es wäre eh nichts Gutes dabei rumgekommen.
Wortlos trat er den Rückzug an und nahm auf dem Weg nach draußen die Reisetasche und damit jede Spur von sich mit.
Erst als er wieder in seinem Jaguar saß, brachen die Kopfschmerzen richtig durch. Ob das nun wirklich an seinem Kater lag oder daran, dass er sich so massiv aufgeregt hatte, konnte er nicht mal sagen. Vielleicht eine Mischung aus beidem. Er war wütend, genervt, enttäuscht und traurig. Wut und Enttäuschung – damit konnte er leben, aber Trauer war nichts für Sasuke Uchiha. Er war tatsächlich rausgeworfen worden. Naruto hatte ihn vor die Tür gesetzt. Es sollte eigentlich an seinem Stolz kratzen, aber stattdessen tat es einfach nur weh. Ein Gefühl, für dessen Bekämpfung Sasuke keine Strategie hatte.
Er war gekommen, um zu reden und musste nun gehen, ohne auch nur einen Bruchteil seiner Worte losgeworden zu sein. Ein scheiß Gefühl.
Beinahe schlimmer noch war, dass er jetzt in einer wesentlich schlechteren Lage war als die Nacht zuvor. Die Hoffnung, wieder in die Wohnung zurückkehren zu können, war sie auch noch so klein gewesen, war nun komplett gestorben und er hatte keinen Ort, an den er konnte. Noch eine Nacht auf der winzigen Ledercouch im Vorzimmer seines Büros und sein Rücken würde ihn umbringen. Suigetsu konnte er unmöglich um Unterschlupf bitten. Nicht nach der Blamage der letzten Nacht.
In dieser Situation war es wirklich ärgerlich, dass er seine Freunde an einer Hand abzählen konnte. Seine Arbeit ließ nicht viel Raum für Abende in Bars, Kinos oder Restaurants. Auch einer von vielen Punkten, die ihn und Naruto auseinander getrieben hatten. Sasuke hatte einfach zu wenig Zeit. Eine Freundschaft oder gar Beziehung mit ihm bedeutete zurückstecken können und nicht zu viel gemeinsame Zeit zu verlangen. Etwas, das Naruto nie gut gekonnt hatte.
Eigentlich hatten sie nicht gut zusammengepasst. Nie. Doch eigentlich waren sie zusammen auch perfekt gewesen.
Als er seine eigene Wohnung gekündigt hatte, war er sich so sicher gewesen, dass Naruto und er eine Zukunft hätten. Er hatte ein hübsches, möbliertes Apartment gehabt, deshalb besaß er nicht viel. Da er ohnehin nie viel Zeit zu Hause verbrachte, beschränkte er seine Ausstattung stets auf das Nötigste. Alles Wichtige hatte er im Büro, denn dort verbrachte er wesentlich mehr Zeit. Er machte eine mentale Notiz, die Couch auszutauschen. Hätte er mehr auf Komfort statt auf Stil gesetzt, hätte er nun nicht das Problem, eine Unterkunft zu finden.
Sasuke hatte die Nummer in seinem Handy bereits ausgewählt, doch er hasste sich selbst dafür, diesen Anruf tätigen zu müssen.
Er schloss die Augen, während es klingelte und seufzte, als der Anruf beantwortet wurde.
„Itachi."
