TITEL: 100 tears away
TEIL: 1/3
FSK: PG-13
GENRE: Romanze, Allgemein, Krimi
CHARAKTER(E)/PAAR(E): Garret Macy, Annie Capra
SPOILER: 5. Staffel (einschließlich „Luck be a Lady")
INHALT: Garret schmeißt seinen Job in Boston und geht nach Detroit, um noch einmal neu anzufangen und Abstand zu gewinnen. Doch dort muss er erkennen, dass die Vergangenheit oft näher ist als man denkt …
DISCLAIMER: Nichts gehört mir, alles gehört Tim Kring. Ich borge mir die Figuren und Orte nur aus und werde alles ordentlich gewaschen und gebügelt wieder zurückgeben! Nur die Handlung gehört mir …
BEMERKUNG: Mein Beitrag zur Challenge in der Livejournal Community jcareathon. Das Zitat, das in irgendeiner Art verwendet werden sollte, lautet A woman wears her tears like jewelry.
Ich möchte diese Geschichte Mariacharly widmen, weil heute ihr Ehrentag ist! Außerdem bin ich ihr und Mel sehr dankbar für die Korrekturen und kompetente Hilfe!
You're a long way from somewhere you call home
There's a place in your heart you're not alone
(written by Paul Gordon and Vonda Shepard)
„Gefällt es dir, Garret?"
Garret sah von seinem Bier auf und in ein Paar strahlender Augen, die im gedämpften Kerzenlicht munter glitzerten. Im Hintergrund lief leise Musik, und obwohl das Lokal gut besucht war, war eine Unterhaltung in normaler Lautstärke möglich - nur ab und an war leises Gelächter zu hören.
Er nickte. Ja, er fühlte sich wohl – so wohl wie schon seit langem nicht mehr.
Noch vor ein paar Tagen hätte er es niemals für möglich gehalten, dass er hier sitzen und sich amüsieren würde. Unbegreiflich, dass es erst fünf Tage her war, dass ihn dieser nagende Alptraum aus dem Schlaf gerissen und ihn daran hatte zweifeln lassen, ob es richtig war, Boston zu verlassen oder nicht.
Und nun saß er hier, mit dieser hübschen, netten Frau, in der gemütlichen kleinen Bar, trank Bier und lauschte den Klängen von „Pale Blue Eyes", das die kleine Jazzband am anderen Ende des Raumes gerade zum Besten gab.
5 Tage vorher...
„Herzlich Willkommen in Detroit, Dr. Macy." Ein kleiner dunkelhaariger Mann mit Halbglatze und Bierbauch schüttelte Garret die Hand. „Wir sind alle sehr froh, dass Sie da sind."
„Ja, das bin ich auch", sagte Garret wenig überzeugt und versuchte ein freundliches Gesicht zu machen. Der kleine Mann vor ihn war Dr. James Duncan, der Leiter der Gerichtsmedizin hier in Detroit und quasi sein Amtsvorgänger. Duncan war schon fast siebzig und wollte Ende des Jahres nun doch endlich in den Ruhestand treten – ob ganz freiwillig oder doch gezwungenermaßen, konnte Garret nicht sagen. Er vermutete aber, dass er aufgrund seines Alters gehen musste.
„Sie werden Ihre Entscheidung nicht bereuen", fuhr Duncan fort. „Detroit ist eine schöne Stadt mit vielen netten Menschen. Sie werden sehen. Bevor Sie es überhaupt bemerken, haben Sie sich schon eingelebt."
„Davon bin ich überzeugt", murmelte Garret und befreite sich aus Duncans schwitziger Hand, die die seine immer noch umklammert hielt. Überzeugt war er ganz und gar nicht von der Vorstellung, dass es in Detroit so schön war. Der Weg vom Flughafen zu seinem neuen Appartement vor zwei Tagen hatte gereicht, um ihm zu bestätigen, dass es nirgendwo so schön sein konnte wie zu Hause. Boston war sein Zuhause gewesen, und er fragte sich immer noch, was um alles in der Welt ihn dazu getrieben hatte, dieser Stadt den Rücken zu kehren.
Doch wenn er ganz ehrlich war, kannte er die Antwort nur zu gut: Er hatte sich einfach nicht mehr wohl gefühlt, er hatte dringend einen Tapetenwechsel gebraucht, und da war ihm das Angebot aus Detroit gerade recht gekommen.
Seit er seinen Job wiedergehabt und Slokum damit besiegt hatte, war er nie wieder ganz der Alte geworden. Die zwei Monate, die er alleine zuhause mit sich und seinen Gedanken verbracht hatte, waren die schlimmsten Wochen seines Lebens gewesen; schlimmer als die Zeit nach seiner Scheidung, schlimmer als damals, als er erfahren hatte, dass sein Vater ihn und seine Mutter verlassen hatte, schlimmer als er sich jemals hätte vorstellen können. Er hatte in den acht Wochen viel Zeit gehabt, um sich mit sich und seinem Leben auseinander zu setzen und hatte dadurch viel über sich gelernt.
Vor allem hatte er gelernt, was er in der Vergangenheit alles falsch gemacht hatte.
Er hatte oft kopflos reagiert, wo Nachdenken von Nöten gewesen wäre. Und in Situationen, wo seine Spontanität gefragt gewesen wäre, hatte er zu lange gezögert und die unangenehmen Dinge vor sich her geschoben. Letzteres vor allem in Bezug auf Renee.
Staatsanwältin Renee Walcott, eine Frau, die wusste, was sie wollte. Eine Frau, die ihm am Anfang das Leben zur Hölle gemacht hatte, um ihm im Anschluss daran zu zeigen, was es heißt, begehrt zu werden, nur um ihn dann eiskalt fallen lassen zu können.
Eiskalt. Ja, das war sie oft gewesen – vor allem an dem Tag, als sie ihm verkündet hatte, dass sie schwanger war und das Kind nicht von ihm sei; an den Tag, ab dem sein Leben kontinuierlich den Bach herunter gegangen war – und nicht nur wegen ihr, nein, hauptsächlich wegen ihm selber. Weil er ebenfalls eiskalt sein konnte, weil er, wenn es um Gefühlsdinge ging, die Schuld sehr gerne auf andere abwälzte und sich in Selbstmitleid ertränkte.
Dieses Selbstmitleid war es dann auch gewesen, was ihm den Blick darauf versperrt hatte, dass Renee gar nicht so eiskalt war wie er glaubte, im Gegenteil. Sie hatte versucht, ihn zurück zu gewinnen, hatte – wie davor so oft - versucht, ihn dazu zu bringen, den ersten Schritt zu tun, auf sie zuzugehen, ihr zu zeigen, dass ihm etwas an der Beziehung, an ihr als Partnerin lag.
Vergebens.
Er war blind gewesen für ihre Hilferufe und hatte sich stattdessen in Lilys Liebesleben eingemischt, sich versucht zwischen sie und Matt Seely zu drängen, der in seinen Augen nicht wert war, von Lily geliebt zu werden.
Doch was hatte ihm das Recht gegeben, so zu handeln? Wer gab ihm das Recht, sich in Lilys Leben einzumischen? Er war es doch schließlich gewesen, der Lily Jahre zuvor verlassen hatte, um mit seiner Exfrau zusammen zu sein. Doch nach Renees Rückzug hatte er sich wieder an Lily geklammert, in der Hoffnung, dass sie noch für ihn da sein würde – so wie früher auch.
Und sie war für ihn da gewesen. Sie hatte versucht mit ihm zu reden, ihm die Augen zu öffnen für das, was wirklich zählte. Und er hatte es nicht angenommen, es einfach verdrängt … Bis zu jenem Tag, an dem Slokum im Institut aufgetaucht war und ihn suspendiert hatte.
In diesen Wochen hatte er viel nachgedacht – auch darüber, was Lily ihm gesagt hatte.
Und er hatte versucht sich zu ändern, er hatte versucht, mit Renee zu reden. Ohne Erfolg. Sie hatte ihn wieder eiskalt abblitzen lassen und ihn aus ihrem Privatleben ein für alle Male verbannt.
Er hatte daraufhin Trost in seinen Büchern gesucht, hatte versucht, der Realität zu entfliehen. Ebenfalls nur mit mäßigem Erfolg.
Als Oliver Titleman dann wieder zugeschlagen und Jordan eines Tages vor seiner Tür gestanden hatte, um ihn zurückzuholen, hatte er gehofft, dass es mit seinem Leben wieder aufwärts gehen würde. Doch auch hier hatte er sich getäuscht. Er hatte zwar seinen Posten als Leiter der Gerichtsmedizin wiederbekommen und war von seinen Mitarbeitern genauso herzlich empfangen worden wie zuvor. Doch irgendetwas hatte sich verändert. Er war einfach nicht mehr der Alte.
Die Arbeit machte ihm nach wie vor Spaß und er verbrachte genauso viele Stunden im Institut wie vor seinen Zwangsurlaub. Aber trotzdem war es nicht mehr so wie früher. Seine Nerven spielten verrückt und er schaffte es einfach nicht mit seinen Gefühlsschwankungen klar zu kommen, die er versuchte mit Scotch zu besänftigen und doch immer mehr an seinen Mitarbeitern ausließ. Er war aufbrausend, ungerecht … schlicht unausgeglichen, wie Dr. Stiles ihm bei seinem letzten Besuch ziemlich deutlich gemacht hatte.
„Sie brauchen einen Tapetenwechsel, Garret", hatte Stiles ihm mit ernster Miene gesagt. „Sonst wird das ein böses Ende mit Ihnen nehmen. Glauben Sie mir."
Er hatte es dem Psychologen, den er nach wie vor für einen Spinner hielt, nicht geglaubt. Bis zu jenem verhängnisvollen Morgen im Mai, als er direkt vor dem Institut von einer Streife angehalten und zum Alkoholtest gebeten worden war. Er hatte zwei rote Ampeln überfahren und es war nur dem Zufall und der frühen Morgenstunde zu verdanken gewesen, dass nichts passiert war. Der Morgen in der Ausnüchterungszelle hatte ihm den Rest gegeben und er hatte gemerkt, dass es so nicht weitergehen konnte und er etwas ändern musste – und das so schnell wie möglich. Die Anzeige am Schwarzen Brett des Präsidiums, dass in Detroit ein neuer Leiter für die Gerichtsmedizin gesucht wurde, kam ihm da gerade gelegen und das Empfehlungsschreiben, das Renee ihm gütigerweise noch ausgestellt hatte, hatte gereicht, um den Job zu bekommen.
Und so hatte er dann schweren Herzens seinen Hut genommen und sich nach Detroit versetzen lassen – aber nicht ohne dafür so sorgen, dass er jederzeit wieder zurückkehren könne und – zur Freude seiner Mitarbeiter – dass jeder andere, nur nicht Slokum seinen Posten übernahm.
Es hatte viele Tränen gegeben und es war nicht leicht gewesen, aber es war das Beste – das redete er sich zumindest immer wieder ein.
„Darf ich Ihnen den für uns zuständigen Staatsanwalt vorstellen, Dr. Macy?", fragte Duncan und riss Garret aus seinen Gedanken. „Larry Paul. Dr. Garret Macy, mein Nachfolger."
„Freut mich, Sie kennen zu lernen", sagte Garret mechanisch und streckte seine Hand aus, um die des Staatsanwaltes zu schütteln. Wenigstens war es ein Mann, dachte er, blickte auf und sah in die fröhlich funkelnden Augen eines mittelgroßen Mannes mit schwarzem Haar, das ihm frech in die Stirn fiel. Paul war höchstens Mitte dreißig und Garret fragte sich augenblicklich, wie er es so jung schon so weit gebracht hatte.
„Willkommen in Detroit, Dr. Macy", sagte Paul fröhlich und schüttelte die Hand. „Sie kommen aus Boston?"
Garret nickte.
„Ja, da habe ich auch mal ein paar Monate lang gelebt." Die Stimme des Staatsanwaltes klang mit einem Male traurig und nachdenklich, und Garret fragte sich, welche traurigen Erinnerungen er wohl mit Boston verband. Eine verflossene Liebe? Ein verlorener Job? Oder beides?
Garret beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Erstens ging es ihn nichts an und zweitens hatte er genug eigene Probleme.
„Tja, dann wollen wir mal zur Tagesordnung übergehen, oder?", fragte Duncan, der sich in Gegenwart des jungen Staatsanwaltes sichtlich unwohl fühlte. „Ich habe auch direkt schon den ersten Fall für Sie, Dr. Macy", erklärte er und drückte Garret eine Akte in die Hand, auf deren Vorseite nicht das gewohnte Wappen von Massachusetts, sondern das des Staates Michigan aufgedruckt war, wie Garret sofort feststellte.
„In einem Park wurde eine Leiche gefunden, die möglicherweise im Zusammenhang mit den letzten fünf Morden in der Gegend dort stehen könnte. Sie haben von dem ‚Tränenschmuck-Mörder' gehört, nehme ich an."
Ja, das hatte er. Vor zwei Tagen auf der Fahrt vom Flughafen zum Hotel hatte der Taxifahrer ihm von Detroits aktuellem Serienmörder erzählt.
Jemand brachte Frauen, und zwar vornehmlich reiche Frauen um, raubte ihnen jeglichen Schmuck und ritzte ihnen stattdessen mit einem feinen Messer Ketten und Anhänger in den Hals und malte ihnen mit einem schwarzen Stift Tränen in Form von Diamanten auf die Wangen. Bis auf einen Zettel mit dem Worten Eine Frau trägt ihre Tränen wie Schmuck hatte man nichts an den Leichen finden können, was auf den oder die Täter hätte hinweisen können. Die Polizei tappte im Dunkeln und die Presse warf ihnen und der Staatsanwaltschaft bereits Versagen vor.
Ein heikler Fall – und ein schlechter Einstieg für den ersten Arbeitstag, fand Garret.
-o-
Es war ein nebliger Morgen und für September ziemlich kalt, als Garret mit Billy Owens, seinem neuen Kollegen und Mitarbeiter, in den kleinen Weg abbog, der zum Fundort der Leiche führte. Billy Owens war ein schräger, aber anständiger Kerl, der Garret an eine Mischung aus Nigel und Bug erinnerte – eine Kombination, die für Erfolg sprach. Während der Fahrt hatte er sich ein wenig mit Billy unterhalten und erfahren, dass eine der heißesten Detectives der Stadt sie erwarten würde. Garret musste bei diesen Worten schmunzeln, bezweifelte aber, dass sein Altherrengeschmack mit dem des jungen Kollegen kompatibel war.
Doch Owens sollte Recht behalten.
Als Garret aus dem Wagen stieg, zum Kofferraum ging und seine Tasche holte, sah er eine Frau mit langen blonden Haaren, mit Handy und Notizblock bewaffnet, eifrig am Tatort auf und ab laufen und Fragen stellen. Er war jedoch zu weit entfernt, um ein Urteil über ihre vielleicht vorhandene Schönheit fällen zu können. Doch das, was er sah, gefiel ihm auf Anhieb. Vielleicht war er doch noch nicht so alt, dachte Garret und machte sich am Kofferraum zu schaffen.
„Da seid ihr Jungs ja endlich." Ohne sich herum zu drehen, erkannte Garret die Stimme sofort und erstarrte.
Das konnte doch nicht sein. Oder etwas doch?
Nein, oder?
Er richtete sich auf und drehte sich langsam herum. Und da stand sie, der letzte Mensch, den er hier erwartet hätte.
„Dr. Macy? Garret Macy aus Boston?" Die Stimme klang überrascht und begeistert zugleich. „Na, wenn das kein Zufall ist. Willkommen in Detroit, Garret."
Ehe er sich versah, fand sich Garret in den Armen der Frau wieder. Blonde Haare kitzelten ihn im Gesicht und der Geruch eines angenehm duftenden Parfums stieg ihm in die Nase, während zwei Arme ihn umklammerten als wollten sie ihn niemals wieder gehen lassen. Es erinnerte ihn an den klammernden Griff eines Ertrinkenden, der im letzten Moment gerettet wurde. Es tat gut, so umarmt zu werden und er erwiderte diese Geste nur allzu gerne.
„Annie Capra. Wer hätte das gedacht", meinte Garret schmunzelnd, als die Polizistin sich wieder von ihm gelöst hatte, und er frei atmen konnte. Während er seine Gedanken sortierte, betrachtete er Annie von oben bis unten. Sie sah gut aus, noch hübscher als früher, wie Garret feststellen musste. Sie trug ihr Haar länger, was ihr gut stand und sie wirkte noch aufgeweckter als damals.
Er lächelte sie an. Die Umarmung war zwar nur kurz gewesen und doch hatte Garret aus ihr soviel Kraft gewonnen, dass Detroit mit einem Male nicht mehr ganz so trist und grau aussah wie noch vor wenigen Momenten. Endlich hatte er etwas Vertrautes, Bekanntes gefunden in dieser Einsamkeit.
Annie musterte Garret. Er hatte sich kaum verändert in den letzten eineinhalb Jahren, seit sie sich zum letzten Mal gesehen hatten. Seine wenigen Haare waren noch lichter geworden und an einigen Stellen schimmerten sie grau. Dünn war er, viel dünner als sie ihn in Erinnerung hatte. Aber er sah immer noch gut aus, vielleicht sogar noch besser als früher. Und doch war da etwas, was ihn älter aussehen ließ, dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, die sie müde und auf seltsame Art traurig ansahen – auch, wenn er jetzt lächelte.
Sie hatte zwar nicht mehr viel Kontakt zu den alten Kollegen in Boston, doch sie hatte ein paar Mal mit Woody telefoniert, und so erfahren, dass man Garret suspendiert hatte. Warum hatte Woody nicht sagen wollen, und so hatte es Annie dabei belassen. Doch sie hatte lange darüber nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass da nur ein Irrtum vorliegen konnte – ein Mann wie Garret Macy war doch zu nichts fähig, was eine Suspendierung rechtfertigen würde.
Sie wurde sich der Blicke bewusst, die ihre Kollegen, die Schaulustigen und auch Billy Owens ihr zuwarfen und räusperte sich.
„Wir sprechen nachher, ok?", flüsterte sie Garret leise zu und sagte dann laut: „Dann kommen Sie bitte mir. Die Tote liegt dort drüben."
Sie führte Garret und Billy zu einem kleinen Busch, der am Rand eines Trampelpfades lag und deutete auf die abgesperrte Stelle.
„Dort hat man sie gefunden. Allison Schneider, 36 Jahre alt. Sie hat dort drüben gewohnt." Sie zeigte auf eines der Appartementhäuser am Ende des Parks. „Mr. Buchanan dort drüben hat sie gefunden, als er wie immer beim Joggen an dieser Stelle vorbeikam. Wie es aussieht, ist sie ein weiteres Opfer unseres Serienmörders."
Garret hatte sich Annies kurzen Bericht angehört und versucht, sich auf die Fakten zu konzentrieren, obwohl seine Gedanken immer wieder zu der Umarmung von vorhin und Annies plötzlichem Erscheinen abdrifteten. Er freute sich, Annie zu sehen, was ihn auf seltsame Art und Weise beunruhigte. Er mochte Annie, er hatte sie und ihre erfrischende Art schon vom ersten Moment an gemocht. Doch ihr plötzliches Auftauchen beunruhigte ihn noch aus einem anderen Grund: Er hatte Boston hinter sich lassen wollen. Doch mit ihr in der Nähe war das nahezu unmöglich. Zu sehr war ihm noch die Erinnerung an ihre gemeinsamen Fälle, speziell der Maldenfall im Gedächtnis; und mit dieser Erinnerung wurden auch Renee, Jordan und all die anderen, die er hinter sich lassen wollte, automatisch wieder in sein Gedächtnis katapultiert.
Doch dies hatte ihm Moment keine Priorität. Vor ihm lag sein erster Fall und den wollte er nicht gleich vermasseln.
Er nahm verschiedene Geräte aus seiner Tasche und untersuchte die Leiche routiniert. Dann richtete er sich auf.
„Nach der ersten Untersuchung würde ich sagen, sie ist seit mindestens zehn Stunden tot", informierte er Annie. „Auf eine Todesursache möchte ich mich noch nicht festlegen, aber ich vermute, sie wurde erdrosselt und dann hier abgelegt."
Annie blickte von ihrem Notizblock auf.
„Sie ist nicht hier gestorben?", fragte sie.
„Nein." Garret schüttelte den Kopf und deutete auf die Schleifspuren im nassen Gras. „Ich würde sagen, jemand hat sie umgebracht, hierher geschleift und dann abgelegt." Er bücke sich wieder und bedeutete Annie, es ihm gleich zu tun.
„Und die Verschönerungen am Hals", er drehte den Kopf der Leiche in wenig und fuhr über die Wunden, „sind ihr eindeutig nach ihrem Tod zugeführt worden. Sehen Sie", er deutete auf den Hals der Toten. „Kein Blutaustritt. Sie war also schon tot, als er ihr die Verletzungen zugeführt hat. Das Herz hat nicht mehr geschlagen."
„Interessant." Annie dachte einen Moment nach und machte sich schnell ein paar Notizen, während Garret sich schon wieder erhob und Billy beauftragte, die Sachen zusammen zu packen.
„Wissen Sie, Garret", sagte Annie und stand ebenfalls auf. „Ich bin sehr froh, dass Sie hier sind. Wann können Sie mit der Autopsie fertig sein?"
Garret überlegte. Normalerweise würde er sich sofort an die Arbeit machen oder jemanden wie Jordan oder Nigel damit beauftragen, die sofort loslegen und in kürzester Zeit die ersten Ergebnisse vorlegen würden. Aber die Beiden waren nicht hier. Und da es sein erster Tag war, wusste er nicht, wie das hier in Detroit gehandhabt wurde.
„Wenn Sie wollen, können Sie ins Institut kommen", sagte er. „Sagen wir in einer Stunde? Dann können Sie bei der Autopsie dabei sein." Und bis dahin habe ich das Gefühlschaos vielleicht wieder einigermaßen unter Kontrolle, fügte Garret in Gedanken hinzu.
„Einverstanden", sagte Annie erfreut und klappte ihr Notizbuch zu. „Dann sehen wir uns in einer Stunde, Doc." Sie lächelte ihn freundlich an und verschwand dann, um mit einem Kollegen zu sprechen.
-o-
Eine Stunde später lenkte Annie ihren Wagen in den für Detectives reservierten Parkbereich des Instituts. Sie stieg aus und betrat das Gebäude, um nach Garret zu suchen. Die letzte Stunde hatte sie damit verbracht, sich darüber zu freuen, endlich ein bekanntes Gesicht zu sehen, einen Menschen, mit dem sie vielleicht öfter reden konnte. Jemand, der sie und das akzeptierte, was sie tat und nicht nur ihr Aussehen bemerkte, wie die meisten ihrer Kollegen es taten.
Es war keine leichte Entscheidung gewesen, Boston zu verlassen und hierher nach Detroit zu wechseln. Sie kannte die Stadt, sie war hier aufgewachsen und hatte sich eigentlich schnell wieder zurecht gefunden und eingelebt. Doch Boston hatte sie nie ganz vergessen können. Sie vermisste ihre Kollegen und die wenigen Freunde, die sie in den wenigen Monaten dort kennen gelernt hatte. Sie vermisste Woody und seinen unverwechselbaren Charme. Sie hatte ihn vom ersten Moment ins Herz geschlossen und war froh gewesen, dass er ihr das kleine Spielchen im Maldenfall nicht übel genommen hatte. Sie hatten sich, nachdem die Missverständnisse erst einmal aus dem Weg geräumt waren, gut verstanden und auch einige Fälle gemeinsam gelöst – allen voran der Fall von Oliver Titleman, diesem kleinen Psychopathen, der von dem perfekten Mord träumte; ein Fall, an dem auch Garret Macy nicht ganz unbeteiligt gewesen war.
Sie vermisste die Kollegen aus der Gerichtsmedizin, besonderes Jordan Cavanaugh. Auch ihr hatte sie anfangs ein paar Steine in den Weg legen müssen, als es um ihren verschwundenen Vater und den vermeintlichen Stiefbruder ging. Aber im Prinzip hatte sie keine Sekunde lang daran gezweifelt, dass Jordan mit dem Mord an Captain Malden nichts zutun gehabt hatte. Als es um die entführte Mary Strand ging, hatte sie mit Jordan und Nigel prima zusammengearbeitet.
Ja, Nigel vermisste sie auch, ebenso wie Bug.
Sie betrat den Fahrstuhl, um in den dritten Stock zu fahren, wo die Gerichtsmedizin untergebracht war. Sie war alleine im Fahrstuhl und genoss diesen seltenen Moment der Stille, die nur durch das leise Summen des Fahrstuhls unterbrochen wurde.
Während sie dem Summen lauschte, wanderten ihre Gedanken wieder nach Boston zurück.
Wenn sie es sich genauer überlegte, vermisste sie sogar Matt Seely, den eingebildeten blonden Detective, der sich für den schönsten und unwiderstehlichsten aller Männer hielt. Wie sie von Woody gehört hatte, war er wohl etwas von seinem hohen Ross heruntergekommen, dank des Einflusses einer gewissen Trauerbegleiterin, Lily Lebowski.
Sie hatte zwar nicht viel mit Lily zutun gehabt, aber die wenigen Male, die sie aufeinander getroffen waren, hatten gereicht, um festzustellen, dass Lily einer der liebenswertesten Menschen war, den sie jemals getroffen hatte.
Nur eine, die vermisste sie gar nicht: Staatsanwältin Renee Walcott. Sie hatte sie vom ersten Moment an nicht gemocht, was wohl auf Gegenseitigkeit beruhte. Walcott war einer der Menschen, den man entweder mochte oder hasste; dazwischen gab es nichts. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken konnte, hatte Garret Macy sich wohl für die erste Möglichkeit entschieden, was sicherlich auch von Vorteil gewesen war; eine gute Beziehung zur Staatsanwaltschaft war eine wichtige Grundvoraussetzung, wenn man in ihren Jobs Erfolg haben wollte.
Zum Glück hatte sie hier in Detroit mit Larry Paul ein besseres Los gezogen. Paul hatte zwar auch seine Macken, aber er war offen und ehrlich und wenn man ihn nicht linkte, dann legte er einem auch keine Steine in den Weg.
Der Fahrstuhl blieb stehen und als die Türen aufglitten trat Annie hinaus auf den Flur. Hier war alles viel beengter als in Boston. Die Flure waren schmal, die dunklen Teppiche verschlissen und die Wände hatten auch dringend einen neuen Anstrich nötig. Trotzdem fühlten sich die Mitarbeiter hier wohl und man war eine kleine Familie – fast so wie in Boston.
Annie fand Garret in seinem Büro, wo dieser gerade telefonierte. Als er Annie bemerkte, winkte er ihr kurz zu und deutete auf einen Stuhl vor seinem mit Papieren überladenen Schreibtisch. Annie nahm ein paar Akten von besagtem Stuhl, hielt sie einen Moment unschlüssig in Händen und legte sie dann auf den Boden, bevor sie sich setze.
„Kann ich Sie später wieder anrufen, Jordan?", fragte Garret in den Hörer und lächelte Annie gequält an. „Ja, ich verstehe, dass Sie mit Jack nicht so gut klar kommen … ja … aber Jordan. HÖREN SIE MIR DOCH MAL ZU! … NEIN, ich schreie nicht … Jordan, Jack ist der beste Nachfolger, den ich finden konnte und … Lassen Sie mich ausreden! Ich werde mit ihm sprechen, ok? … Ja. Auf Wiedersehen, Jordan."
Garret legte den Hörer auf und fuhr sich seufzend durch die wenigen Haare auf seinem Kopf.
„Jordan Cavanaugh", erklärte er Annie. „Sie hat Probleme mit meinem Nachfolger und ruft jede halbe Stunde an, um mich zu bitten, zurückzukommen." Annie nickte. Sie kannte Jordans Dickkopf zu genüge.
„Und warum gehen Sie nicht zurück, Garret?", fragte sie. „Offensichtlich werden Sie in Boston schmerzlich vermisst; und das schon nach einem Tag."
„Ich habe meine Gründe", war alles, was Garret dazu sagte.
„Okay", sagte Annie langsam und musterte ihn kurz fragend. Dann zuckte sie mit den Schultern und klappte ihren Notizblock auf. Offensichtlich wollte er nicht darüber sprechen und da wollte sie auch nicht weiter nachfragen. Wenn er nicht reden wollte, ging es sie auch nichts an.
„Reden wir also über den Fall", meinte sie. „Was haben Sie herausgefunden?"
Garret wollte sie unterbrechen und sich entschuldigen, dass er sich wohl im Tonfall vertan hatte. Er wollte Annie nicht den Eindruck vermitteln, dass es sie nichts anging. Es war nur so, dass es einfach zu viele Gründe gab, über die er momentan nicht sprechen konnte und wollte. Als Annie jedoch direkt das Thema wechselte, beschloss er, dass jetzt die falsche Zeit war, um es ihr zu erklären.
„Billy hat mit der Autopsie schon angefangen", sagte er stattdessen. „Wir haben einen Fingerabdruck auf dem Zettel, der neben der Leiche lag, gefunden und lassen ihn gerade durch den Computer laufen. Wenn Sie möchten, können wir zusammen rüber gehen."
Gemeinsam verließen sie das Büro und gingen in den Autopsiesaal, wo Billy gerade dabei war, die inneren Organe zu untersuchen.
„Ihr seid aber schnell", sagte Annie verwundert.
„Tja, Sie wollten schnelle Ergebnisse, also bekommen Sie auch schnelle Ergebnisse", antwortete Garret grinsend. „Was haben wir, Billy?"
„Der Fingerabdruck passt zu einem gewissen James Fisher", las Billy vom Monitor ab. „Er ist wegen mehrerer kleinerer Delikte und Drogenbesitzes vorbestraft. Momentan scheint er keinen festen Wohnsitz zu haben, arbeitet aber halbtags in einer wohltätigen Einrichtung in der Michigan Street – zumindest zahlen die seine Krankenversicherung."
„Okay, den nehme ich mir später vor", sagte Annie und notierte den Namen. „Sonst noch etwas?"
„Ja", sagte Billy schnell. „Die Wunden am Hals. Sehen Sie." Er zeigte auf die Schnitte an Hals und Dekolleté. „Die Schnitte wurden ihr eindeutig nach ihrem Tod zugeführt und sie passen auch nicht zu dem Muster, das der Täter sonst immer verwendet." Er hielt ein paar Bilder von früheren Opfern hoch und verglich sie mit Hals der Toten. „Das wird auch ein Grund sein, warum wir kein Blut am Tatort gefunden haben – was sehr merkwürdig ist, wie ich anmerken muss."
„Glauben Sie, wir haben es mit einem Trittbrettfahrer zutun?", fragte Annie seufzend.
„Ja, davon ist auszugehen."
„Gut, dann werde ich mal zu Mr. Fisher fahren und ihn fragen, was er mit Miss Schneider zutun hatte."
Sie war schon auf dem Weg zur Tür, blieb aber nochmal stehen und drehte sich um.
„Wie unhöflich von mir, einfach zu gehen", sagte sie grinsend. „Bis später, Doc. Billy."
„Ja, bis später", sagte Garret und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Erst, als er sich des Blickes bewusst wurde, den Billy ihm zuwarf, setzte er seine gewohnte, ausdruckslose Maske wieder auf und räusperte sie.
„Also, worauf warten wir noch? Machen wir weiter!"
Er zog sich selber ein Paar Gummihandschuhe über und trat an die Leiche heran. „Je schneller wir etwas finden, umso besser." Und umso zufriedener wird der Staatsanwalt sein – und Annie auch, fügte er in Gedanken hinzu. Annie hatte sich ihre Enttäuschung nicht anmerken lassen wollen, aber Garret hatte sie gespürt. Er selbst hatte schon an genügend Fällen von Serientätern mitgearbeitet, um zu wissen, wie enttäuschend es war, eine viel versprechende heiße Spur wieder zu verlieren.
-TBC-
Und, schon den Täter gefunden? ;-)
Drückt den kleinen Knopf da unten und schreibt es mir…
