Das Kätzchen lässt das Mausen nicht
oder
Ein Kätzchen in fremden Revieren
Eine Erzählung
von
Eosphoros
nach Ideen, Motiven und Personen der Harry-Potter-Serie
J.
Die Handlung beginnt etwa einen Monat nach den Begebenheiten in
„Ein Kätzchen in der Torte" und findet hauptsächlich Ende November 1979 statt.
Disclaimer:
Alles gehört Rowling, bis auf Carissa, das ist meine. Rowling würde einen Rappel kriegen, wüsste sie, was wir mit Remus, Sirius und dem Rest der Bagage machen. Ich verdiene kein Geld mit der FF, sondern schreibe sie, um Freunden, Bekannten und anderen Lesern eine kleine Freude zu machen und natürlich, weil ich selbst einen Heidenspaß daran habe.
Rating:
Da es die Fortsetzung zu „Ein Kätzchen in der Torte" ist, natürlich an 18.
Pairing:
? Wird die Zukunft zeigen.
Warnung
Es gibt einige Slash-lastige Andeutungen. Aber nichts Explizites, Slash kann ich nicht schreiben. Ansonsten alles Het.
Vorläufer:
„Verlobung zu Beltaine"
„Eine etwas andere Ostergeschichte"
„Ein Kätzchen in der Torte"
Inhalt:
Sirius' Vater hat seine Drohung ernst gemacht und Carissa in ein Bordell verfrachtet, noch dazu hat er sie mit einem Schweigezauber belegt. Von ungeahnter Seite bekommt Carissa nicht gerade uneigennützige Unterstützung im Bordell. Und auch Sirius kann sich nicht vollständig der Suche nach seinem Kätzchen widmen. Denn mit einem Mal hat er Narzissa am Hals, die sich einfach nicht abschütteln lässt und ihn mit Informationen über Carissas Aufenthalt um Hilfe erpresst. Sirius willigt ein und hat mehr als einen Grund, diese Entscheidung zu bereuen. Ob sie ihre Stimme wieder bekommt und endlich doch aus Sirius und ihr ein Paar wird, wird die Geschichte zeigen.
Die Dunkelheit lichtete sich allmählich. Irgendwann musste sie während ihres Martyriums ohnmächtig geworden sein. Ihre Glieder schmerzten. Sie war wund, egal an welche Stelle ihres Körpers sie auch dachte, jeder war ein Hort des Schmerzes. Sie betrachtete ihren Körper, doch erkannte sie keine äußerlichen Anzeichen dafür, dass sie vergewaltigt worden war. Nur ihr Verstand wusste es genau.
„Du bist ja wach, dann kann es ja los gehen!", dröhnte eine rauchige Stimme, die trotz der tiefen Tonlage eindeutig einer Frau gehörte.
Sie wollte protestieren und sich weigern, doch nichts kam aus ihrer Kehle außer einem Keuchen. Entsetzt erkannte sie, dass sie noch immer unter dem Schweigezauber stand.
„Permanenter Schweigezauber, Herzchen. Du musst jemanden sehr geärgert haben. Na, lass mal gut sein. Jeder gewöhnt sich daran. Ein wenig Zuvorkommenheit, ein wenig Herzlichkeit und schon schnurren sie alle wie die Katzen. So hübsch wie du bist, wird es dir leicht fallen, sie dazu zu bringen, dich nicht wie Dreck, sondern wie eine Prinzessin zu behandeln!"
Wenige Augenblicke später sah sich Carissa in knappen Höschen, oben ohne und zu stark geschminkt zwischen Männern, die nicht nur Getränke bei ihr bestellen wollten, sondern sie auch kniffen, begrapschten und Geld zusteckten, um sich ihre Gunst zu erkaufen.
Sie war in der Nokturn Gasse in einem jener Etablissements, vor denen Sirius' Vater sie gewarnt hatte, und ohne Hoffnung Sirius je wiederzusehen.
Oktober/November 1979
1. Chez Mère Griseldis
Es hätte sie auch bedeutend schlimmer treffen können. Sie hätte eine strengere Chefin haben können, die von ihr erwartete, sich allen möglichen Wünschen zu fügen. Genauso gut hätte sie sich auch die Beine auf der Straße in den Bauch stehen und sich mit windigen, stinkenden, unsympathischen Freiern in dunklen Häuserecken herumschlagen müssen. Doch dem war nicht so. Sie hatte eine – den Umständen entsprechend – nette Chefin und genoss das Privileg, sich nicht bei Wind und Wetter draußen herumtreiben zu dürfen. In der Tat hätte Carissa Carter nach dem ersten schockierenden Abend in Mère Griseldis' gleichnamigen Etablissement Ärgeres erwarten müssen,als hinter der Theke zu stehen und Gäste zu bedienen. Generell unterschied sich ihre derzeitige Tätigkeit nur unwesentlich von ihrer letzten Anstellung in Keepers schäbigem Muggelpub. Sie trug ähnliche Arbeitskleidung, musste sich ähnlich derbe Kommentare gefallen lassen und gute Miene zum bösen Spiel machen. Wieder war ihr Make-up zu dick aufgetragen, wieder war das Serviertablett ihr bester Freund und wieder hatte sie blaue Flecken am Gesäß, weil derbe Hände sie derb kniffen und zwickten.
Der wesentlichste Unterschied zu Keepers Pub war ihr Klientel: Zauberer. Dass sie zum Schweigen verflucht war, versuchte Carissa, so gut es ging, zu ignorieren. Es war viel leichter, zu lächeln und durch Mimik ihre Wünsche zum Ausdruck zu bringen, als sie vermutet hatte. Ein weiterer, nicht minder wesentlicher Unterschied bildete das Haus an sich. Von außen hatte Carissa es noch nie gesehen, doch das Innere genügte ihr bereits, um zu wissen, dass dieses Etablissement keines der schäbigen Niederlassungen war, mit denen Mr. Orion Black ihr gedroht hatte. Das ganze Gegenteil war der Fall. Es handelte sich um ein recht großes Gebäude, dessen vorderer Bereich, ausgestattet mit großen geteilten Fenstern, große Ähnlichkeit mit einer typischen Londoner Gaststube hatte. Carissa hätte sie liebend gerne Bar genannt, doch traf dieses es nicht ganz. Der Barbereich war nur ein Teil des vorderen Bereichs, ein weiterer war mit Tischen und gemütlichen Stühlen bestückt, sodass der Gast sich definitv wohl fühlte. Hätten nicht merkwürdige Lampen aus den Tischen gestanden und Nummern neben diesen, so wäre Carissa – wäre sie denn unwissend – niemals der Gedanke gekommen, dass sich im hinteren Bereich ganz anderen Vergnügungen hingegeben wurde, als nur Trinken und Singen. Im hinteren Bereich befand sich nun der kuschlige Teil des Etablissements.
Nach ihrem ersten grauenvollen Abend – ihrem Schwimm-oder-Geh-unter-Erlebnis, wie sie es nannte – hatte in diesem Bereich ein junger Russe seinen 21jährigen Geburtstag orgiengleich gefeiert. Carissa war mit Kniffen und blaue Flecken davongekommen und der Gewissheit, in der Hölle zu sein. Dass diese Hölle sich als Plüsch bezogen und ein Mischung aus weinrot und schwarz-weiß entpuppen würde, hätte sie sich niemals träumen lassen. Mittlerweile schockierte sie dieser Stilbruch zwischen der urig und dennoch gemütlichen Atmosphäre im vorderen Bereich des gastlichen Hauses und dem dekadenten verruchten Flair des Hinterzimmersnicht mehr. Weiter als bis in dieses Hinterzimmer war Carissa bisher noch nicht vorgedrungen und hoffte, dass sie es auch nicht musste. Sie betete inständig, ihre Chefin möge sie weiterhin Gläser polieren und Whiskey ausschenken lassen. Dafür würde sie liebend gern mit den Herren und wenigen Damen flirten und sie ins hintere Zimmer geleiten, ihnen dort etwas Gesellschaft leisten, sie durchaus auch küssen und ihnen das Warten auf die eigentliche Gefährtin für die Nacht erträglich machen, solange sie nicht zu einer solchen Gefährtin wurde. Bisher hatte ihre Chefin es stets verhindert, dass Carissa einem der Kunden zu Diensten zu sein hatte.
Ihre Chefin, Mère Griseldis, die Dame mit der rauchigen Stimme, die sie am ersten Abend sozusagen ins kalte Wasser geworfen hatte, hatte sich als Dame unbestimmten Alters entpuppt, von der allgemein nur bekannt, dass sie die besten Jahre bereits lange hinter sich hatte. Modisch gesehen war sie in den Zwanziger Jahren hängen geblieben, trug glitzende Stirnbänder mit fluffigen Puscheln, die ihr entweder im Auge hingen oder das Ohr bedeckten, sodass es angebracht schien, lauter zu sprechen als üblich. Sie verfügte über eine Art von burleskem Charme, dem sich niemand lange entziehen konnte. Carissa hatte Mère Griseldis nie ohne Zigarette gesehen, die sie lasziv mit Zigarettenspitze zu rauchen pflegte. Sollte doch einmal der Fall eintreten, dass Mère Griseldis zwei freie Hände brauchte, landete die Zigarettenspitze samt brennendem Inhalt in ihrem ausladenden Dekolletee. Nicht selten hatte Carissa es bereits miterlebt, dass der Flammengefrierzauber zum Einsatz kommen musste, um das nicht ganz so überraschende Malheur zu beheben.
An Mère Griseldis, so hatte Carissa rasch festgestellt, war alles falsch, was an einer Frau nur falsch sein konnte. Der Busen war magisch vergrößert, die Wimpern künstlich verlängert, das Haar von Natur aus nie rot gewesen, die Fingernägel waren das Produkt des magischen Kosmetikers „Üffes Roschtee"... von den Zähnen ganz zu schweigen. Ein solches Weiß konnte die Natur gar nicht hervorbringen aus Angst davor, dass der Rest ihrer mit Augen ausgestatteten Schöpfung durch die Reflex des Sonnenlichts auf solch ein Weiß erblinden könnte. Sogar Name und Herkunft waren an Mère Griseldis falsch, neben dem Muttermal, das die Eigenschaften einer Wanderdüne hatte: Mal links, mal rechts, mal oben, mal unten, mal nicht vorhanden.
Was den Schweigezauber anging, hätte es Carissa nicht schlimmer treffen können. Es war ungeheuer schwiegrig, sich mit Händen und Füßen bei einer Frau verständlich zu machen, die nicht einmal die Geduld und den Willen aufbrachte, densprechendenMädchen zuzuhören. Da Carissa aufgrund dieses Makels nun einmal der Inhaberin des Etablissements nicht widersprechen konnte und sie auch nicht zu unterbrechen vermochte, avancierte sie rasch zu deren Vertrauten. Natürlich unfreiwillig, wie sich Carissa immer sagte. Doch war es ab und an recht interessant, wenn Mère Griseldis von der guten alten Zeit sprach und damit tatsächlich die Zwanziger Jahre meinte. Mère Griseldis gab sich gerne den Anschein Französin zu sein, doch ihr starker Akzent, wenn sie denn einmal Französisch sprach, deutete auf Schottland hin, während ihr Englisch einen harten deutschen Unterton hatte, den sie einfach nicht los wurde. Bei der erst besten Gelegenheit war der zu stark geschminkten Dame herausgerutscht, dass sie bei der Geburt Charlotte Pfeiffer geheißen habe. Ein solch bürgerlich klingender Name wäre ihrem Geschäft einfach abträglich gewesen. So war aus Charlotte Pfeiffer Griseldis La Mauve geworden, ein Revuestar, der schließlich zur Inhaberin eines Bordells in der Nockturn Gasse in London avancierte.
All das genügte, um Mère Griseldis' schützende Hand über sich zu spüren. Carissas gutes Verhältnis zu Mère Griseldis hatte sie innerhalb kürzester Zeit in diesen Genuss gebracht: Eine Ausnahmestellung, die sie nicht nur hervorhob, sondern auch isolierte. Die anderen Mädchen schnitten sie und tuschelten hinter ihrem Rücken, was Carissa natürlich mitbekam. Sie war ja nicht taub, sondern lediglich stumm. Die Tatsache schienen die Mädchen zu vergessen oder sie wollten sie absichtlich verletzten. Sie sprachen von Carissa nicht als Carissa, sondern nannten sie „die stumme Neue!" Verstehen konnte sie die Mädchen schon. Da kam eine verfluchte Neuerscheinung, die sich verbal nicht zur Wehr setzen konnte und wurde mir nichts dir nichts zum Liebling der Chefin und das, obwohl sie dem Geschäft nichts brachte.
Carissa hatte innerhalb der ersten Woche gelernt, damit umzugehen und die Mädchen als Schnepfen abgestempelt.
Dass ihr sorglosen Leben nach dem ersten schrecklichen Abend so nicht hatte weitergehen können, hätte ihr eigentlich klar sein müssen, dennoch traf es sie wie ein Schlag, als sie nun diejenige war, die von Mère Griseldis sanft am Arm genommen und auf eines der Zimmer im hinteren Teil des Hauses gebracht wurde.
Mit sanfter Gewalt schob die Inhaberin sie lächelnd durch den kuscheligen Salon. Bisher hatte Carissa diesen Teil nur recht selten zu Gesicht bekommen. Nun gut, sie hatte geflirtet und gelacht und die Herren dann in diesem Bereich des Bordells an eine andere abgegeben und war in den Schankraum zurückgekehrt. Nun jedoch wurde sie durchgeschoben und die Haupttreppe hinaufgezwungen. Lachen im Hintergrund ließ sie erschaudern. Sie warf einen Blick über die Schulter zurück und konnte die gehässigen Mienen der Mädchen erkennen.
„Die Schonfrist ist vorbei, Süße!", meinte eines der Mädchen, deren Haarpracht mit der Mère Griselis' anstandslos konkurrieren konnte. Schon hatte sie sich wieder ihrem Freier gewidmet und diesem das Champagnerglas an die Lippen gesetzt.
Carissa schluckte.
„Keine Angst, Liebes. Es ist ja nicht so, dass du zum ersten Mal so was machst."
Carissa musterte die alte Dame mit entsetzt aufgerissenen Augen. „Ich meine, du bist ja keine Jungfrau mehr, also wird es auch nicht so schlimm. Ich habe mich immer geweigert, Mädchen in mein Etablissement aufzunehmen, die nicht wissen, worauf sie sich einlassen. Der Mann, der dich brachte, vergewisserte mir, dass du genau weißt, wie's geht und nicht nur in der Theorie."
Carissa bekam beinahe einen Krampf bei dieser Pseudomoral. Ehe Carissa es sich versah, stand sie in einer der noblen Suiten der ersten Etage und starrte auf das größte Himmelbett, dass sie je gesehen hatte. In einer Ecke des Zimmers befand sich ein dunkelgrün gepolsteter Sessel neben einem einbeinigen Tischchen. Eine Karaffe Wein, zwei Kristallkelche, eine Schale mit Obst... alles war für eine Liebesnacht bereitet. Verunsichert wanderte Carissas Blick weiter. Ein Paravent verbarg die gegenüber dem Sessel liegende Ecke. Das rosafarbene Gebilde über einem der Segmente erweckte Carissa ganze Aufmerksamkeit.
„Zieh dich um, Herzchen. Jemand hat Interesse an dir bekundet und wird in Kürze hier sein. Du solltest vorbereitet sein. Hinter dem Paravent findest du alles, was du brauchst: Wasser, Parfüm, Dessous, Negligé... einfach alles. Mach dich bemerkbar, wenn du Hilfe benötigst!"
Mit einem Strahlen im Gesicht kniff Mère Griseldis ihr in die Wangen und jauchzte beinahe, als sie meinte: „Hach, er war schon so lange nicht mehr hier, und ausgerechnet dich leckeren Bissen will er haben. Das ist eine Ehre. Immerhin ist er ein Investor. Nun beeil dich!"
Schon stand Carissa alleine im Raum. Ihr Magen rebellierte und sie befürchtete, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Sich der Ausweglosigkeit ihrer Lage bewusst, folgte Carissa der Anweisung ihrer Chefin und machte sich zurecht. Die bange Frage blieb: Für wen?
„Madame, Madame, bei die Neuen sischt etwas niescht in Ordnüng!", kreischte eines der Mädchen bereits, bevor es die Treppe in alle Eile hinunterlief und erst in Griseldis' Armen hielt.
„Lass dieses dämlichen Akzent sein! Ich versteh' ja kein Wort!", herrschte Mère Griseldis das Mädchen an.
Die kleine Brünette sah sich hastig nach allen Seiten um. Griseldis war beinahe am Ende ihrer Geduld. Endlich stellte sich das Mädchen auf die Zehenspitzen und kam ganz nahe an ihr Ohr.
„Bei der Neuen, Madame", flüsterte sie kaum hörbar. „Ich bin im Zimmer neben ihr und muss auch gleich wieder zum Kunden hoch. Sie schreit und er schreit. Es klang nach Schlägen und... und ich weiß doch, dass Sie das nicht dulden, Madame!"
Mère Griseldis nickte. Ihr Gesicht nahm einen harten Ausdruck an, dass die kleine Brünette rasch die Treppe wieder hinaufeilte. Als kurze Zeit später eine Tür knallte, war es nicht unschwer zu erraten, auf wessen Kappe diese Unartigkeit ging. Mère Griseldis zählte in Gedanken bis zehn. Ob Investor oder nicht. Sie duldete in ihrem Haus keinerlei unerwünschte Gewalt. Stets legte sie Wert darauf, dass ihre Mädchen relativ unbeschadet aus den Zusammentreffen mit ihren Kunden herausgingen. Was brächte es ihnen sonst, unter ihrem Schutz zu stehen und in einem Bordell zu arbeiten? Duldete sie Gewält wäre sie nicht besser als ein Zuhälter und Mère Griseldis verwahrte sich gegen Vergleiche wie diesen.
Sie raffte ihren Rock, steckte die Zigarettenspitze samt brennendem Inhalt in ihr Dekolletee und stapfte die Treppe hinauf. Bereits auf dem Gang war das laute Organ des Kunden zu hören und den Schreien nach zu urteilen, leistete er ganze Arbeit. Vereinzelt tauchten die Köpfe einiger Mädchen aus den Zimmern auf. Griseldis versuchte deren teils verwirrten und teils verängstigten Mienen durch ein entschuldigendes Lächeln zu beruhigen.
Doch dann erreichte der Schrei der Neuen eine bisher ungeahnte Höhe.
„Was macht dieser Kerl mit ihr!", rief sie empört und stürmte auf das Zimmer zu. Kaum hatte sie die Klinge gedrückt und den Raum betreten, bot sich ihr ein Anblick, den sie nie würde vergessen können.
Die Kissen lagen in Fetzen, eines der Segmente des Paravents hing nur noch halb in den Angeln, der Wein hatte sich über den hellgrauen Teppich ausgebreitet, die Kristallgläser standen zwar noch, doch wies eines von ihnen Bruchstellen auf. Griseldis atmete tief durch und richtete ihren Blick auf die andere Seite des Zimmers.
Carissa stand mit dem Rücken an der Wand. Sie hielt eine Holzkonstruktion wie eine Waffe vor sich, die ursprünglich einmal die Lehne eines Stuhles gewesen sein musste. Ihr Haar war zerzaust, ein böser Bluterguss machte sich bereits an ihrem Kinn und unter einem der flehendlich auf Mère Griseldis gerichteten Augen bemerkbar.
„Orion!", brüllte Griseldis. „Sie wollten..."
Doch Mère Griseldis kam nicht weiter. Carissa hatte das Holzgebilde fallen lassen und starrte ihren Peiniger wie paralysiert an. Noch ehe Mère Griseldis reagieren konnte, packte dieser die junge Frau bei der Kehle und riss sich die Maske vom Gesicht. Die Bordellchefin hatte schon Vieles erlebt, doch nie in ihrem Leben hatte sie mehr Angst in den Augen eines Menschen gesehen wie in diesem Augenblick.
Carissa hätte beinahe innerlich jubiliert, Mère Griseldis in der Tür stehen zu sehen, wäre da nicht die Furcht gewesen, ihren Angreifer aus den Augen zu verlieren. Sie wusste, welches Bild das Zimmer abgab, welch Chaos und Verwüstung herrschte. Sie warf der Chefin einen flehendlichen Blick zu. Ihre Beine zitterten und Carissa ahnte, wie kurz sie vor einem Schock stand. Noch einmal würde sei eine Tortur wie in der Nacht, in der sie entführt wurde, nicht überstehen. Tränen sammelten sich in ihren Augen und sie bebte vor Angst. Ihre Wangen und Lippen brannten. Doch wagte Carissa nicht, mit den Fingern über die geschundene Haut zu fahren. Das hieße, ihren Angreifer aus den Augen verlieren, das hieße, die Kontrolle über die Reste des Louis-Seize-Stuhls aufgeben.
Nein, Carissas Augen huschten zwischen ihrem maskierten Peiniger und Mère Griseldis hin und her.
„Orion! Sie wollten...", brüllte ihre Chefin gerade, doch hielt sie mitten im Satz inne.
Orion! Der Name änderte alles, er hallte in ihrem Inneren wider und wider, wie ein mehrstimmiges Echo, das ihr den Verstand zu nehmen drohte. Carissa atmete schwer. Ihr Blick glitt zu ihrem Gegenüber.
Orion?, formten ihre Lippen stumm. Die ramponierte Lehne des Stuhlen entglitt ihren Händen und brach am Boden gänzlich auseinander. Noch ehe die junge Frau zu einer weiteren Reaktion fähig war, hatte sich Orion Black die Maske vom Gesicht gerissen. Schon fand sie sich an die Wand gepresst wieder, ihre Kehle festumschlossen von der Hand des Mannes, den sie so abgrundtief verabscheute.
Seine Augen glitten gierig über ihr Gesicht. Hektisch huschten sie hin und her, auf der Suche nach etwas, das Carissa nicht benennen konnte. Er leckte über ihre blutigen Lippen. Angewidert schloss Carissa die Augen und wandte den Kopf zur Seite. Übelkeit stieg in ihr auf. Lediglich die Hand an ihrem Kehlkopf verhinderte, dass sie sich übergab.
„Wie ich sehe, hast du nichts dazugelernt!", zischte er und drängte seine Hand zwischen ihre Beine.
Carissa keuchte. Es konnte nicht wahr sein, dass es wieder passierte. Sie öffnete die Augen und ihr Blick kreuzte sich mit der höhnisch grinsenden Venezianischen Maske. Kalt und emotionslos. Ein einziger Hohn.
„Dummes Mädchen! Du bist doch hier, um zu lernen. Je eifriger, desto eher bist du wieder daheim, bei mir. Im Schoße der Familie!", krächzte Orion. Seine Hand war unerbittlich, doch nicht geschickt genug, die raffinierten Verschnürungen der Dessous zu bezwingen. Leichtes Triumphgefühl machte sich in Carissa breit und sie gestattete sich einen herausfordernden Blick in seine Richtung. Seine Hand landete schmerzhaft auf ihrer bereits geröteten Wange. Der metallische Geschmack von Blut lag ihr auf der Zunge. Sie bekämpfte erfolgreich das Bedürfnis vor ihm auszuspucken.
Ihre Hände legten sich um sein Handgelenk und mit ganzer Kraft versuchte sie seine Hand von ihrem Hals zu lösen.
„Jammerschade!", spottete Orion Black und seine Mundwinkel zuckten dabei amüsiert. Ihr vergeblicher Befreiungsversuch hatte ihn zum Lachen gereizt; allerdings pflegte ein Black in der Öffentlichkeit nicht aus Vergnügen zu lachen. „Du bist noch immer so wunderschön wie damals, als meine Frau dich einstellte und du meinem nichtsnutzigen Erstgeborenen den Kopf verdreht hast. Du warst damals schon so ein kleines gerissenes Luder. Deine Blick zeigten eindeutig, aus welchem Holz du geschnitzt bist. Stets bereit die Beine... Ich hätte dir alles gegeben, dir meinen Reichtum zu Füßen gelegt." Er machte eine Pause und streichelte mit der freien Hand über ihre notdürftig bedeckte Brust. Angeekelt schloss Carissa die Augen.
Sie widern mich an!, wollte sie schreien, doch brachte sie nichts als unverständliche Laute heraus.
Er grinste überheblich. „Was ein Schweigezauber so alles ermöglicht. Endlich eine Frau, die zuhören kann und einem Mann nicht ins Wort fällt. Endlich eine Frau, die weiß, wo ihr Platz ist."
Carissa warf ihm einen bitterbösen Blick zu und versuchte ihn zu treten, wo er am empfindlichsten war. Black reagierte und fixierte ihren Unterkörper mit seinem Bein. „Ein Black genügte dir ja nicht, den du um den Finger wickeln konntest. Es mussten zwei sein! Ich werde dir wirklich vergeben, meinen Sohn verdorben zu haben, wenn du endlich lernst zu gehorchen und weißt, wo dein Platz ist! Zeige dich willig und ich werde verhindern, dass du irgendwann dieser Hure von Griseldis gleichst!"
Ein empörtes Aufkeuchen war zu hören, doch Mr. Orion Black ließ sich nicht beirren. Er packte mit der freien Hand Carissas Kinn und zwang sie ihn weiter anzusehen. Er strich ihr mit dem Daumen über die Lippen und lachte, als sie versuchte, danach zu schnappen. Schließlich ließ er ihre Kehle los, holte er aus, schlug ihr erneut ins Gesicht. Er packte sie bei den Schultern und ergriff mit den Lippen von ihrem Mund Besitz. Carissa schmeckte das eigene Blut und versuchte sich zu wehren, doch Blacks Gewicht und ihre eigene Benommenheit hielten sie in dieser Zwickmühle gefangen.
Endlich löste er sich und leckte sich die Lippen. Als Carissa angewidert die Augen schloss, lachte er kalt und verschwand mit wehendem Umhang aus dem Raum. „Überlege es dir dir, Carter, bevor es zu spät und dein Glanz auf ewig dahin ist!", brüllte er vom Flur aus. Carissa sank an der Wand zusammen und fand sich wenige Augenblick später weinend an Mère Griseldis' Brust wieder.
„Armes Schätzchen, keine Angst, er ist schon weg. Er kommt nicht wieder."
Sie glaubte nicht, was sie da hörte. Aber was war mit der Investition? Sie hatte ihr doch gesagt, dass ihr Freier ein Investor sei? Mère Griseldis würde doch niemals ihrem Geschäft Schaden zufügen?
„Mein Kredit?", fragte Griseldis schmunzelnd mit rauer Stimme. Sie hatte die stumme Frage offenbar richtig gedeutet. „Ach, Herzchen, weißt du denn nicht, dass eine kluge Frau sich in dieser Branche nur über Wasser halten kann, wenn sie neben eigenen Rücklagen nicht wenigstens zwei besser noch drei Investoren hat? Glaubst du, Orion Black sei mein einziger Geldgeber? Ich werde ihn einfach auszahlen und schon sind wir ihn los. Die anderen werden schon dafür sorgen, dass Mère Griseldis' Geschäft blüht. Zum Glück weiß keiner vom anderen, sonst wäre hier Mord und Totschlag", gackerte sie.
Carissa wischte sich die Augen und sah die ältere Dame prüfend an. Das gierige Funkeln in deren Pupillen wollte ihr einfach nicht gefallen. Doch Carissa Carter kam nicht dazu weiter darüber nachzudenken. Ehe sie reagieren konnte, hatte Mère Griseldis ihr die Stofffetzen, der einmal ein Negligé gewesen war, aus den Händen gewunden und meinte: „So und nun lass dich ansehen! Ich muss mir schließlich ein Bild machen, ob er dich verletzt hat."
Die ältere Dame zischte, als sie die zarte weiße Haut begutachtete, auf der sich an einigen Stellen bereits rote Flecken zeigten, die im Zentrum bereits blau wurden. Carissa hielt den Blick abgewandt und errötete. Ihre Glieder schmerzten, obwohl er ihr noch wirklich nicht zunahegetreten war. Es war wie eine Erinnerung aus dem tiefen Dunkel ihres Herzens. Schmerz und hilfloser Zorn vereinigten sich in ihrer Seele. Sie hasste es wie ein Ding hin und her geschoben zu werden. Sie war ein Mensch, der fühlen und denken konnte. Wer konnte das in Zeiten wie diesen noch von sich behaupten? Sie schniefte und so rasch ihre Tränen gekommen waren, so rasch versiegten sie auch wieder. Sie hasste ihn! Sie hasste ihn abgrundtief und würde alles tun, ihm zu zeigen, dass sie sich nicht wie Dreck behandeln ließ. Orion Black würde für das, was er ihr angetan hatte, büßen, schwor sie sich.
Nun war es Griseldis, der das mutwillig entschlossene Funkeln in Carissas Pupillen nicht gefallen wollte. Sie befürchtete, dieses Mädchen nicht kontrollieren zu können. Griseldis erkannte in diesem Augenblick erst, dass Carissa sich nicht für dieses Gewerbe eignete. Die ältere Dame hatte einen untrüglichen Sinn fürs Geschäft und musste sich eingestehen bei Carissa Carter falsch entschieden zu haben. Sie hätte sich weigern müssen das Mädchen aufzunehmen. Dieses hier musste sie, so rasch es ging, loswerden. In ihren Gedanken formten sich Lösungen und deren Konsequenzen, doch keine hatte das optimale Ergebnis. Auf die Straße konnte sie das Mädchen nicht setzen. Ewig konnte es auch nicht hinter der Theke stehen oder servieren. Irgendwann würde ein Kunde auf den Geschmack kommen. Schweigend kümmerte sich Griseldis um ihren Schützling und schwor sich, ihn nicht ein zweites Mal mit einem Freier allein zu lassen, egal ob Geldgeber oder nicht. Vorsichtig bestrich sie die geschwollenen Stellen mit einer Paste, die sofort ihre Wirkung tat. Es war wahrlich ein Dilemma.
Sirius' Vater hatte in der Tat ganze Arbeit geleistet. Carissa seufzte. Mère Griseldis sprach noch einige Zauber, sodass die Haut wieder den makellosen Ton feinsten Alabasters besaß. Doch die Schmerzen blieben. Griseldis war eine lausige Hexe, wenn es um Zauberkunst ging. Ihre Stärke war das Brauen von Zaubertränken und die Herstellung von Pasten. Mère Griseldis ordnete kurzerhand an, Carissa in ein Hauch von Nichts in Schwarz zu stecken, das dennoch achbarer war, als das geschnürte Höschen und das „Sonst-Nichts", was sie momentan trug.
Als Carissa ihrer Arbeitgeberin die Treppe hinunter folgte und den hinteren Salon betrat, wurde sie sich der Blicke bewusst, die auf sie gerichtet waren. Trotzig schob sie das Kinn vor und ging mit stolz erhobenem Kopf hinaus in den Schankraum. Wispern und Gelächer folgte ihr, doch sie ignorierte es. Sollten diese Dirnen, doch über sie lachen. Diese Frauen waren dumm und ohne Moral. Dieses kurze Intermezzo mit Orion Black hatte ihren Kampfgeist geweckt. Sie war lange genug fortgelaufen. Sie hungerte nach Rache und würde sie bekommen. Carissa stellte sich an die Theke, nahm von Mère Griseldis ein Tablett entgegen und brachte es zum entsprechenden Tisch. Verwundert nahm sie das Zwinkern ihrer Arbeitgeberin wahr, als sie zurück zur Theke stöckelte, doch glaubte sie im nächsten Moment, sich geirrt zu haben. Sie ahnte nicht, dass ihr eisblaue Augen folgten, seit sie den Schankraum betreten hatte.
Carissa bemerkte erst nach und nach, dass sich Griseldis' Verhalten ihr gegenüber geändert hatte. Die anderen Mädchen, die sie noch zu Beginn des Monats offen angefeindet hatte, beobachteten sie nun heimlich mit einer Mischung aus Neid und Mitleid. Als besonderer Schützling und behüteter Augapfel der Inhaberin besaß sie eine Sonderstellung, die zugleich Auszeichnung und Fluch war. Besuche auf den Zimmern waren vorerst gestrichen, sodass Carissa die Attraktion – schließlich war sie neu – im Schankraum war. Sie hatte stets präsent zu sein, hatte die Gäste zu beruhigen, sie zu unterhalten – was angesichts ihrer Sprachlosigkeit eine Kunst war – und musste aber auch als Sündenboch herhalten, wenn die Dinge im Pub nicht so liefen, wie sie sollten. Carissa lernte, wie sie zu flirten hatte und liebte es sogar, auf diese Art im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Meistens fand sie sich mit einem potentiellen Freier im Salon wieder, auf einer der plüschigen Canapees und hörte zu, wie diese sich vor ihr aufplusterten. Sie lachte an den richtigen Stellen, tat entsetzt, wenn es das Thema erforderte und tröstete mit streichelnden Bewegungen, wenn ihr Gönner des Trostes bedurfte. Doch auf die Zimmer ging sie nicht mit ihnen. Sie reichte sie an andere Mädchen weiter und kehrte ins Pub an die Theke zurück. Also kaum ein Unterschied zur Zeit vor ihrem Erlebnis mit Orion Black, dennoch war es anders. Carissa war anders. Sie war sich mittlerweile ihrer Wirkung auf die Kundschaft vollauf bewusst; und ebenso wie Mère Griseldis einen Plan gefasst hatte, hatte Carissa ein bestimmtes Ziel vor Augen.
Sie würde die erste beste Gelegenheit nutzen, diesem Etablissement und diesem Gewerbe den Rücken zu kehren. Noch konnte sie mit Fug und Recht behaupten, nichts Unrechtes getan zu haben. Sie war vor Orion Black in Sicherheit und zeigte aus Dankbarkeit der Inhaberin gegenüber mehr Engagement, als beide es für möglich gehalten hätten. Carissa entwickelte sich zum süßen Sonnenschein, den die meisten Kunden gerne zum Lächeln brachten, doch konnte sie auch die mysteriöse, nicht leicht zu beeindruckende Diva spielen. Dass es ihr, ohne ein Wort zu sagen, gelang, beeindruckte nicht nur Mère Griseldis, sondern auch den Besitzer der eisblauen Augen.
Carissa hatte es besonders auf einen jungen Mann abgesehen, der ihr das perfekte Opfer zu sein schien. Er kam aus gutem Hause, wie seine Kleidung verriet. Er hieß Igor, sprach mit leicht russischem Akzent und mit viel Fantasie könnte sie sogar Ähnlichkeiten zwischen ihm und Sirius entdecken. Mit ihren Gedanken war sie fast ausschließlich bei Sirius. Es vergingen nicht ein Abend, nicht ein Morgen, nicht ein Tag, nicht eine Nacht, ohne dass sie an ihn dachte. Die Gefühle für ihn, die sich allmählich durch schmerzende Sehnsucht intensiviert hatten, verbarg sie im Innersten ihres Seins. Genauso wie die sogenannte gute Gesellschaft, die im schmusigen Salon und lauschigen Hinterzimmern ihren Lustbarkeiten frönten, trug sie eine Maske.
Igor Karkaroff junior war einfach nur süß und recht kommunikativ. Er redete in der Tat sehr gerne und Carissa erfuhr mehr von den russischen Weiten Sibiriens als ihr lieb war. Sie verarbeitete diese Informationen und hatte ausreichend beeindruckt darauf reagiert. Sie wusste nach einer Woche mehr über die Geschichte Moskaus und Leningrads als andere Hexen. Karkaroff wäre zum Studium seltener magischer Praktiken in England, wie er ihr erklärte, und sei von seinem Meister mehr als beeindruckt. Er hoffte, bald in den internen Kreis aufgenommen zu werden, wie er ihr flüsternd gestand. So mitteilungsbedürftig Igor Karkaroff junior auch war, nie trat er ihr nahe. Mehr als eine flüchtige Berührung und begehrliche Blicke, die auf ihr Dekolletee gerichtet waren, hatte sie nicht von ihm bekommen. Beinahe schon zweifelte sie an ihrem Charme. Doch sie hatte rasch gelernt, dass Geduld und geschickte Planung getarnt als Spontaneität alles waren. Karkaroff würde sie hier herausholen, dessen war sie sich sicher. Doch nachts, wenn sie vor dem Spiegel stand und die komplizierte Frisur auflöste, sich Strähne für Strähne das Haar kämmte, fragte sie sich, wer die Frau war, die sie ernst anstarrte. Sie war eine Fremde, wo war Carissa Carter geblieben? Warum hatte sie ihr Gewissen mitgenommen?
Als Igor wieder einmal erzählte, wie interessant die außergewöhnlichen magischen Praktiken waren, ergriff sie einfach seine Hand und warf ihm einen besonders interessierten Blick zu. Sie ließ ihre Lider flattern und presste ihre Finger sacht um seine.
„Findest... findest du es wirklich spannend, dass Zähne aus dem Mund der Hydra theoretisch ihrem Besitzer die Macht über Knochenkreaturen verleihen?", fragte er verblüfft.
Carissa nickte und lächelte leicht. Irgendwie schaffte sie es sogar aus Verlegenheit zu erröten. Sie fand es tatsächlich interessant. Könnte sie sprechen, würde sie fragen, welcher Art die Knochenkreaturen sein würden. Igor machte den Eindruck weiterreden zu wollen. Das begeisternde Funkeln in seinen dunklen Augen verfinsterte sich jedoch. Er klappte den Mund wieder zu und lächelte stattdessen. Er beugte sich rasch zu ihr herüber und küsste sie. Danach verließ er fluchtartig das Etablissement und erschien am nächsten Abend mit einem blauen Auge. Carissa hatte es mit den Fingerkuppen berührt und zärtlich auf die verfärbte Haut gepustet, als er erneut davonstürzte und sich mit einem anderen Mädchen auf die Zimmer zurückzog. Verduzt blickte sie ihm nach und wollte achselzuckend in den Schankraum zurückkehren. Hatte sie den Bogen überspannt? Hatte sie ihn zu sehr unter Druck gesetzt? War er ihr nun entglitten? Es war dieser Augenblick, in dem Carissa ihndas erste Mal bewusst wahrnahm.
Erwar einer von den jungen Männern, die aus den allerhöchsten magischen Kreisen Englands kamen. Ihr schien es, als sei er Sirius ebenbürtig und vor allem ähnlich. Dieser Mann hatte zwar nicht Sirius' temperamentvolle, sprudelnde Art doch umgab ihn eine ähnlich mystisch dunkle Aura. Dieser Mann war das, was man glatt nannte. Seine Bewegungen, seine Gesten waren sparsam. Sein ganzes Verhalten schien reduziert. Kein Fussel verunzierte seine elegante Kleidung. Der einzige Farbtupfer seines dunklen Anputzes erstreckte sich auf die Accessoires. Ein flaschengrünes Einstecktuch, ein ebensolcher Schal nicht mehr. Ein silberner Ring in Schlangenform mit Smaragden als Augen und eine silberne Uhrenkette, die unter dem Umhang hervorlugte, waren alles, was er an Schmuck trug. Während Sirius es fertig brachte auch in der elegantesten Kleidung auf charmante Art und Weise unordentlich auszusehen, vermutete Carissa, dass dieser blonde Schönling auch in zerrissenen Jeans oder engen Lederhosen und lässigem Oberteil wie aus dem Ei gepellt wirken würde. Das einzige, was Carissa außer seiner Kleidung und diesem fantastisch hellen Haar noch zu sehen bekam, waren seine Augen, die durch die Schlitze seiner venezianischen Maske blitzten. Viele der Kunden, die den Salon aufsuchten, maskierten sich. In der Bar war dies nicht üblich. Nach außenhin warChez Mère Griseldis ein normales Pub, wie es sie in der Nokturn Gasse und der näheren Umgebung einige gab. Doch hier... Diese Augen verwirrten sie. Helleres und gleichzeitig kälteres Blau hatte sie nie zuvor gesehen. Beinahe schien Blau unzutreffend zu sein. Grau, es war helles Grau, anderes Grau als Sirius'.
Carissa fühlte sich bloß unter diesem Blick. Sie fühlte sich gemustert, eingeschätzt, abgeschätzt und schließlich für gut befunden. Sein undeutbarer Blick verwirrte sie und erregte sie zugleich. Beinahe glaubte sie, die Umgebung um sie herum verlöre ihre Konturen. Dieses Gefühl hatte sie das letzte Mal bei diesem folgenschweren Junggesellenabend gehabt, als Sirius sie vor den Augen aller über die Schulter geworfen und den Blicken seiner Freunde entzogen hatte.
Carissa wand sich innerlich unter dem Blick. Die flaumigen Härchen in ihrem Nacken sträubten sich, als wollten sie sie vor einer Gefahr warnen. Doch es gab nichts Gefährliches in ihrer Nähe. Carissa schluckte. Dieser große Mann faszinierte sie. Wäre wenigstens sein Mund erkennbar, dann wüsste sie, ob er lächelte und welcher Art dieses Lächeln war, so jedoch mischte sich unter das Gefühl der Verwirrung und Erregung ein geringes Maß an Unsicherheit.
Carissa blinzelte und stand wie paralysiert da, als dieser Mann langsam mit den geschmeidigen Bewegungen eines Raubtiers auf sie zukam. Ihr Instikt riet ihr die Flucht zu ergreifen, Beuteverhalten an den Tag zu legen, doch es kostete große Anstregung auch nur einen Finger zu rühren. Er war groß, größer als Sirius und größer als Igor. Carissa zwang sich, nicht aufzublicken, sondern sturr den Durchgang zum Pub zu fixieren. Sie wollte schon aufatmen, da sie glaubte, er würde an ihr vorbei zur Hintertür gehen und so den Bann brechen. Doch er blieb direkt neben ihr stehen und beugte sich zu ihr hinunter, ohne sie zu berühren. Carissa atmete heftig. Er roch so unglaublich gut. Sie schloss die Augen und glaubte zu wanken. Dieser Duft war betörend, faszinierend, er schlug sie in seinen Bann. Unbewusst biss sie sich in die Unterlippe und grub die Fingernägel in die Handflächen.
Der blonde Schönling, es musste ein schöner Mann sein, redete sie sich ein, schwieg. Seine Nähe war beängstigend und elektrisierend zugleich. Carissa blinzelte und bekam aus den Augenwinkeln mit, wie er seinerseits ihren Duft einsog. Seine Augen waren geschlossen, soviel erkannte sie. Sie keuchte auf. Die Nase seiner Venezianischen Maske berührte beinahe ihre Haut. Ein Schauer jagte ihr über den Rücken, als er seine behandschuhte Hand hob und sie nur wenige Millimeter von ihrer Wange entfernt verharren ließ. Er legte den Kopf schief und sein intensiver Blick ließ sie erbeben. Kurzzeitig versenkten sich ihre Pupillen ineinander. Ihre Augen weiteten sich. Er schien auf den Grund ihrer Seele blicken zu können. Für einen Moment vergaß sie alles. Sie wollte diesen Mann. Sie wollte sich ihm hingeben, sich von ihm besitzen lassen. Es war ihr egal, wenn er sie am nächsten Morgen Hure nennen und sie für ihre Dienste bezahlen würde. Sie glaubte förmlich seine Hände auf ihrer nackten Haut zu spüren. War es eine Vision oder war es schlicht Wunschdenken? Carissa war es egal.
Denk an deinen Plan!, flüsterte das drängende Stimmchen der Vernunft tief in ihrem Inneren verborgen. Plan? Welcher Plan? Ich will ihn!, erwiderte das Begehren in ihr.
„Bezaubernd. Einfach bezaubernd und betörend!", flüsterte der geheimnisvolle Maskierte in ihr Ohr. Seine Stimme hatte keinerlei Färbung. Keinerlei Gefühl war ihr zu entnehmen. Seine Hand zog die Linien ihrer Wange nach, ohne die Haut zu berühren. Dennoch glaubte Carissa zu verbrennen, so sehr erregte sie dieseNichtberührung.Allein die Vorstellung daran, ließ sie heftiger atmen und erröten. Ein Kribbeln in ihrer Magengegend, das sich langsam in ihren Unterleib drängte, erschreckte und erfreute sie zugleich. War sie bereits so verrucht, sich von einem fremden, offenbar zahlungskräftigen Gast allein durch Blicke erregen zu lassen?
Als Carissa aus ihrer Trance erwachte, war der Maskierte verschwunden und der Bann gebrochen. Sein Duft jedoch hing wie ein verhängnisvolles Omen in der Luft. Dies war definitiv kein Traum gewesen. Verwirrt verließ sie den schmusigen Salon und bemerkte nicht, dass Mère Griseldis sich vergnügt die Hände rieb. Sie witterte Profit und die Lösung all ihrer Probleme, kannte sie den Maskierten doch bereits seit Jahren und wusste, dass sie sein Vertrauen genoss.
Nur wenige Tage später hatte Carissa den Vorfall verdrängt. Er schien ihr so unwirklich wie ein Traum, obwohl sie sich mehrmals am Abend und in der Nacht dabei erwischte, wie sie nach dem Unbekannten Ausschau hielt. Manchmal glaubte sie, seinen Geruch in ihrer Nähe wiederzuerkennen. Manchmal glaubte sie, die Flut seines herrlichen hellen Haars vorbeirauschen zu sehen. Manchmal glaubte sie, dass eine Venezianische Maske im Schankraum auftauchte. Doch stets fühlte sie sich beobachtet. Carissa trieb diese Unwissenheit beinahe in den Wahnsinn. Sie glaubte, im gestreckten Galopp auf einen Abgrund zuzureiten, ohne die Hoffnung auf Rettung. Verstärkt rief sie sich daher die wenigen wundervollen Stunden mit Sirius ins Gedächtnis zurück. Sie spielte in ihren Gedanken immer und immer wieder durch, wie sie ihm die Haare geschnitten, wie sie gestritten und sich schließlich wieder versöhnt hatten. Sie dachte an die subtile Raffinesse seinerseits, wie er vom Verführten zum Verführer wurde und ihr den Wind aus den Segeln genommen hatte. Der Gedanke an ihn und die Alltäglichkeit, die ihre Arbeit in der Bar ausmachten, drängten die Erinnerung an den Maskierten in den Hintergrund. Igor reizte sie nicht mehr. Die Gedanken an Sirius waren wie schöne Erinnerungen, denen sie sich nach wie vor hingab. Allmählich verklärte sich das Bild, das sie von ihm hatte. Er war der Ritter in strahlender Rüstung und sie die „Jungfer" in Nöten. Aber war dies kein Märchen, sondern bittere Realität.
Einmal im Vierteljahr fand im Chez Mère Griseldis ein Poker-Turnier nach Muggelart statt und Mitte November war es wieder so weit. Nicht, dass Glücksspiel dieser Art nicht illegal gewesen wäre, doch das berührte niemanden in der Nokturn Gasse. Überraschenderweise hatte Griseldis Carissa zugeflüstert, dass dieses Turnier trotz seiner Ungesetzlichkeit neben den zwielichtigen Gestalten sogar ehrbare anziehen würde. Sogar Mitarbeiter des Ministerium waren bereits in ganz kurriosen Verkleidungen unter den Teilnehmern entdeckt worden, ohne dass sie verdeckte Ermittler oder dergleichen gewesen wären. Magische Tricks wie der Vielsaft-Zaubertrank oder Tarnumhänge, selbst die noch selteneren Tarnkappen, waren verpönt. An diese Regel hielten sich sogar die Zwielichtigsten unter den Zwielichtigen. An diesem Abend sollte dieses Großereignis stattfinden. Noch waren nur wenige Plätze besetzt und die Luft im Chez Mère Griseldis war noch einigermaßen annehmbar. Dennoch gab es in einer der Ecken bereits einen Tisch an dem Poker „geübt" wurde. Vor zwei Stunden hatten sie begonnen und einer von Carissas Beinahekunden war unter diesen Übenden zu finden.
„Carry, Schätzchen, bring Onkel Ralph doch noch eine Runde Feuerwhiskey!", brüllte ein grauhaariger gemütlich wirkender Mann – ihr Beinahekunde. Carissa lächelte und nickte. Sie stellte sieben Gläser auf ein Tablett und füllte diese mit dem Alkohol. Als Mère Griseldis in jedes noch einige Tropfen eines Zaubertrankes gab, sah Carissa betont gleichgültig weg. Sie interssierte nicht, was es war, doch würde dieses Gebräu positive Wirkung auf Griseldis' Geschäft haben. Carissa wusste, dass bis zum offiziellen Start des Turniers noch Zeit genug war, Gold zu scheffeln. War das Spiel erst einmal im Gange, würden sich nur die ausgefuchsten Spieler den Genuss eines starken Drinks gönnen.
Carissa eilte mit dem Tablett zum Tisch und verteilte die Gläser mit einem freundlichen Lächeln. Sie wollte sich schon zurückziehen, als der grauhaarige Alte sie am Handgelenk zurückhielt. Er legte ihr einen Arm um die spärlich verhüllte Taille und zog sie zu sich auf den Schoß.
„Was meinst du, soll ich um fünfzig Galleonen erhöhen oder einfach mitgehen", fragte er sie. Carissa blickte dem sympathischen Mann in die Augen und legte den Kopf schief. Sie wusste, dass sein Blatt einfach eine Katastrophe war. Lediglich ein Pärchen auf der Hand und die offenen Karten ermöglichten ihm nur eine Steigerung zu drei Gleichen. Dennoch hatte sie die Erfahrung gemacht, dass die wenigsten Gäste Frauen überhaupt Verstand zubilligten. Sie musterte kurz die Spieler. Keiner von diesen schien sonderlich viel Erfahrung beim Pokern zu haben. Carissa erkannte, dass Ralph nur mit diesen Jüngelchen spielte, um genügend Bares für das eigentliche Spiel zu haben.
Wenn du spielst, dann niemals mit deinem eigenen Gold. Unterm Strich musst du mit der Summe heimgehen, mit der du gekommen bist, hatte er ihr zwinkernd zu verstehen gegeben, nachdem er sie das erste Mal um ihre Meinung gebeten hatte.
So riss Carissa staunend die Augen auf, legte die Hand auf den Mund und lächelte verschmitzt, als sie fünfzig Galleonen nahm und auf den Stapel warf. Sollten die Jüngelchen doch ruhig glauben, dass sie dem guten alten Ralph keinen Gefallen tat. Bluffen und Reizen, waren in diesem Fall der richtige Weg.
Der grauhaarige Mann zog sie näher an sich und küsste ihren Nacken. Carissa fiel es nicht schwer, sich genießerisch an ihn zu schmiegen. Er war einer der harmlosesten Männer, die sie je kennen gelernt hatte. Sie lehnte sich vertrauensvoll gegen ihn und stützte sich mit der Hand auf seinem Schenkel ab.
„Du riechst so gut, Carry! Wenn ich nur zehn Jahre jünger wäre, wenn ich nicht dein Großvater sein könnte, würde ich dir zeigen, wozu Zauberer in meinem Alter noch fähig sind", flüsterte er in ihr Ohr. Eigentlich sollte es Flüsternsein, doch dieser Mann konnte nicht leise sprechen. Selbst wenn er sich in normaler Lautstärke äußerte, brüllte er noch.
Carissa kicherte leise, drehte ihr Gesicht ein wenig und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Er kniff ihr in den Po und liebkoste mit der Zunge ihren Mund.Tu mir einen Gefallen und lass deine Reize spielen und bring sie aus dem Konzept, wenn ich Feuerwhiskey bestelle! Das hatten sie am Vorabend verabredet. Carissa tat ihr Möglichstes. Als die ersten Goldstücke zu Boden gingen, wusste sie, dass sie erfolgreich war. Eine Entschuldigung stammelnd sammelte einer der Pokerpartner die Münzen wieder auf. Carissa unterdrückte ein Lachen. Mit unschuldigem Blick bat sie ihn um Verzeihung. Das jungenhafte Grinsen hätte sie sich am liebsten eingerahmt.
Sie mochte Ralph, den alten Zausel, gerne. Seine Methoden waren zwar nicht sehr moralisch, doch sollten Fragen nach der Moral nicht in einem Laden wie diesem gestellt werden. Ralph küsste sie gerne und gut, schmuste gerne mit ihr herum, verwöhnte sie, brachte ihr Geschenke mit und dennoch gehörte er zum Kundenkreisen des Etablissements. Die meisten die sich bisher für Carissas Körper interessiert hatten, waren einmal gekommen und dann nie wieder. Ralph war der einzige, der nicht spurlos verschwunden war. Sogar Igor suchte das Etablissement nicht mehr auf. Es überkam sie der dringende Verdacht, dass jemand verhinderte, dass sie sich verkaufte. Gegen Küssen schien dieser ominöse Schutzgeist jedoch nichts zu haben. Die Küsse honorierte Ralph mit einem enormen Trinkgeld, von dem Carissa keinen Knut zu sehen bekam.
Aufmerksam verfolgte sie das Spiel und ließ sich von den erstaunlich flinken Fingern des Mannes nicht ablenken. Sie hatte ihre Hand mittlerweile in Nähe seines Schritts liegen und wusst genau, warum er sie lediglich küsste und liebkoste. Nichts geschah. Sein Schritt war wie der Llano Estacado, nämlich wüst und beinahe ohne Leben. Magisch herbeigeführte Impotenz, weil er es mit der Treue in seiner Ehe nicht so genau genommen hatte, hatte er ihr in einem ruhigen Augenblick erklärt.
„Willst du wirklich einer Nutte deine Galleonen anvertrauen, Ralph?", fragte einer der Mitspieler, deren Goldhaufen ein beträchliches Ausmaß angenommen hatte.
„Das Schätzchen weiß genau, was es sieht und was es tut, nicht wahr Carry?"
Carissa hob schläfrig die Lider und musterte Mitspieler. Sie kannte ihn nicht und wollte ihn auch nicht kennen lernen. Sie setzte ein Lächeln auf und warf betont lässig der fünften offenen Karte, die der Geber gerade offenbart hatte, einen Blick zu. Sie musterte die Spieler und bediente sich von Ralphs üppigen Galleonenhaufen. Sie warf zehn weitere in die Mitte und schmiegte sich erneut an Ralph. Er grinste in ihren Nacken, entdeckte er doch, dass ihm die fünfte offene Karte vier Gleiche beschert hatte. Er schob seine Hand unter ihren kurzen Rock und streichelte sie zart, so zufrieden war er mit ihrer Entscheidung. Aus den Einsätzen hielt sie sich nun mehr raus. Erst als Ralph die Runde gewann – alle bis auf einen hatten aufgegeben – und ihr eine Galleone in den Ausschnitt stopfte, war ihre Pflicht getan. Sie löste sich von seinem Schoß, drehte den anderen ihren Hintern zu und gab Ralph einen langen Kuss. Dann wandte sich wieder der Theke zu, nahm das Tablett vor die Brust und stöckelte hinüber.
Doch mitten im Saal erstarrte sie in der Bewegung. Lässig an den Tresen gelehnt, stand ein großer gutaussehender Mann mit langem silbrig blondem Haar. Seine elegante dunkle Kleidung, die wenigen farbigen Accessoires und seine distinguierte Haltung passten nicht in den Schankraum. Carissa keuchte auf. Sie umkrallte das Tablett mit beiden Händen und hielt es wie einen Schutzschild vor sich gepresst, als seine Augen ihren begegneten. Helleres und kälteres Blau beinahe Grau hatte sie noch nie gesehen, doch genau dieses erkannte sie. Sie hatte den Maskierten vor sich, den sie beinahe vergeblich aus ihren Gedanken hatte verdrängen wollen. Ein kurzes spöttisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel und Carissa fühlte sich erröten. Sie löste sich aus ihrer Erstarrung und stakste hinter die Theke.
„Scotch!", verlangte er.
Carissa nickte und betete inständig, ihre Hände mögen nicht zittern, als sie den Drink fertig machte.
„Eine sehr... nette Show, die Sie dort abgezogen haben!"
Carissa zuckte zusammen und warf einen unsicheren Blick in Ralphs Richtung, der lachend die gewonnenen Galleonen in ein Ledersäckchen schob und sich erhob. Die enttäuschten Mienen seiner Mitspieler erzeugten in Carissa ein schlechtes Gewissen. Andererseits, sie hätten ja nicht zu spielen brauchen.
„Diese Jungen verdienen es nicht anders, als dass ihnen das Geld aus der Tasche gezogen wird. Sie haben hier nichts zu suchen. Lieber sie machen jetzt die Erfahrung, als dass sie später Haus und Hof verspielen", gab der Blonde von sich. Überrascht blickte Carissa auf und fühlte sich von diesen sagenhaften Augen nahezu durchbohrt. Selten hatten Männer wie er, etwas dieser Art in ihrer Gegenwart geäußert. Dabei stand er den jungen Männern, die sich rasch aus dem Pub stahlen, altersmäßig recht nahe.
Sie stellte ihm das Glas vor die Nase und wollte sich rasch aus seiner beunruhigenden Gegenwart entfernen. Doch er packte ihr Handgelenk, zog sie an die Theke und drehte die Innenfläche ihrer Hand nach oben, um sie ansehen zu können. Mit federleichten Bewegungen fuhr er ihre Lebenslinie entlang und murmelte: „Fasziniernd, was Hände über uns erzählen. Ihre Lebenslinie ist interessant. Viele Steine lagen in Ihrem Weg. Viele Schwierigkeiten wurden Ihnen bereitet, doch bald werden diese nicht länger wichtig sein. Denn bald werden Sie diesem hier den Rücken kehren können und", er stutzte und setzte rau fort, „Erfüllung und Liebe bringen!"
Carissas Verstand hatte bereits ausgesetzt, als er begonnen hatte sanft die Linien ihrer Hand nachzuzeichen. Sie hörte nicht auf die netten Floskeln, die er von sich gab. Sie lauschte nur auf den Klang seiner herrlichen Stimme. Er respektierte sie offenbar. Er siezte sie. Kalte Schauer liefen der jungen Frau über den Nacken. Unwillig wollte sie ihm nach einer Weile die Hand entziehen. Sie beging den Fehler, ihm erneut in die Augen zu sehen und schon war es um sie geschehen. Sie gab ihre Abwehr auf und verharrte bewegungslos hinter der Theke. Alles woran sie denken konnte war, seine Finger an anderen Stellen zu spüren als auf ihren Händen.
° tbc °
AN:
Llano Estacado
wüstenhaftes, etwa 1500 m hochgelegenes Sandsteinplateau in New Mexiko und Texas (Spielt bei Karl May eine Rolle)
