Der dritte und letzte Teil der Nebeltrilogie. Viel Spaß beim Lesen und wenn ihr am Ende eine Minute Zeit habt, lasst mir eure Meinung da. Ich freue mich über jede Rückmeldung!
Delirium
Die Stiefel des großen Mannes hallten in langgezogenen Echos von den Wänden des Korridors wider, den er mit langen Schritten entlangging. Sein Gesicht war gekennzeichnet von buschigen, bereits etwas silbrigen Augenbrauen über einem strengen Blick und einem ebenfalls ins Weiß wechselnden Schnurrbart. Ordentlich gekämmte Haare zierten sein Haupt und eine schlichte, strenge Brille saß auf seiner Hakennase.
Die im klassischen Tarnmuster der Army gehaltene Jacke des Mannes zeigte eine Reihe an Orden und Abzeichen direkt über dem Herzen. Einen hatte er in Afghanistan verdient, einen anderen im Irak und wieder einen anderen im südchinesischen Meer. Rechts daneben gab es das typische Namensschild.
„Robert H. Morrison", stand dort in schlichten Blockbuchstaben geschrieben, während auf seinen Schultern die vier silbernen Sterne den Rang eines Generals verkündeten.
Energisch legte er eine Hand auf die Türklinke, als er das Ende des Korridors erreicht hatte und trat in einen schmucklosen Raum. Es war ein Besprechungszimmer. Drei Personen befanden sich bereits in der Kammer, von denen eine auf einem Stuhl vor einem Schreibtisch saß.
„Agent Baker", nickte Morrison und der rundliche Mann stand hastig auf.
„General"
„Bleiben Sie ruhig sitzen", sagte Morrison und bedachte ihn mit einem scharfen Blick. Dann drehte er sich um.
„Mein Interesse gilt viel mehr diesen beiden Herrschaften hier. Rühren."
Die zwei Soldaten, die sich vorerst im Hintergrund gehalten hatten, nahmen nun ihre zum Salutieren an die Stirn gelegten Hände wieder nach unten. Beide trugen sie eine etwas dunklere Uniform als Morrison selbst und ihre Hautfarbe entsprach ebenfalls nicht der des typischen Amerikaners.
„Sie müssen die Spezialisten sein, die Six mir empfohlen hat", sagte Morrison und reichte zuerst dem Größeren der beiden die Hand.
„Adriano Martello", stellte sich der bärtige Mann vor: „Gruppo d´Intervento Speciale della Repubblica Italiana, seit einer Woche Team Rainbow Operator"
Morrison nickte und ging dann einen Schritt nach rechts.
„Und sie sind, meine Dame?"
„Aria de Luca", antwortete die Soldatin. Der Blick des Generals glitt kurz über die Abzeichen an ihrer Brust, schoss dann zur italienischen Flagge an ihrem Oberarm und ging schlussendlich wieder zurück zu Baker.
„Maestro", nannte der ehemalige FBI Abteilungsleiter ihre Codenamen: „und Alibi"
„Gut", sagte Morrison, ging hinüber zum Schreibtisch und legte die Akte, die er bisher unter dem linken Arm getragen hatte, auf die hölzerne Fläche.
„Ich mach´s kurz. Team Rainbow hat sie beide abgestellt, um dem FBI bei einer prekären Lage beizustehen. Sie wurden ausgewählt aufgrund ihrer vergangenen Leistungen in Missionen, die mit dem Aufspüren und Eliminieren von Zielpersonen zu tun hatten."
Aria, die Soldatin, die Baker Alibi genannt hatte, trat einen Schritt nach vorne und nickte. Aufmerksame Augen stachen unter einer dunkelbraunen Haarsträhne hervor.
„Früher waren ihre Ziele Mafiosi, die Drahtzieher hinter Menschenhändlerringen und Drogenbosse. Ihre jetzige Mission, fürchte ich, könnte sich selbst für sie als Neuland erweisen. Nur zu."
Aria hob die Akte vom Schreibtisch und nun trat auch Adriano nach vorne, um selbst einen Blick auf die Datei werfen zu können.
„Das ist eure Zielperson. Der Auftrag lautet definitiv Eliminierung, nicht Gefangennahme. Sobald ihr ein klares Schussfeld habt, macht ihr sie nieder, ist das klar?"
„Si", bestätigte, Adriano, während Aria ihren Blick über die angegebenen Personaldaten gleiten ließ.
„Wo befindet sich diese Person?"
„Das wissen wir nicht", antwortete Morrison: „Wir vermuten, dass sie sich in den USA aufhält, womöglich in der Nähe der Stadt Waltonfield, aber bisher gibt es noch keine Spur. Der gesamte Sicherheitsapparat der westlichen Zivilisation steht ihnen zu Verfügung, um sie aufzuspüren. Agent Baker wird sie mit den näheren Informationen versorgen. Wenn sie irgendwelche Fragen haben, wenden sie sich an ihn. Ich, für meine Wenigkeit, diene als verantwortlicher Offizier, doch sie haben meine volle Autorisation, jede für nötig befundene Maßnahme zu ergreifen."
Morrison lehnte sich nun über den Tisch und schaute Aria direkt in die Augen.
„Diese Person ist hochgefährlich und stellt eine Gefahr für die gesamte westliche Gesellschaf dar. Finden Sie sie und machen Sie sie kalt. Je schneller, umso besser."
Aria ließ die Akte zurück auf den Schreibtisch fallen, bevor sie zum zweiten Mal salutierte. In dunklen Buchstaben prangte dort der Name Sally Smithson.
Claudette öffnete die weiße Tür, ging anschließend zurück zu Meg und steckte den Schlüssel in eine kleine Stofftasche an der Seite ihres Rollstuhls. Dann legte sie beide Hände um die Schiebegriffe und beförderte die ehemalige Athletin in ihr neues Haus.
Meg ließ ihren Blick umherschweifen. Nur unweit vom Grundstück des Fairfields gelegen hatte das Gebäude von außen einen ähnlichen Eindruck gemacht, wie das in dem Dwight groß geworden war. Ein kleiner Garten, umrundet von einer niederen Hecke, zog sich um saubere Wände, auf denen ein spitzes Satteldach ruhte. Allerdings gab es nur ein Stockwerk, das Erdgeschoss. Keine Treppen.
Das Innere war kaum anders. Es war aufgeräumt, die Möbel sahen stabil und ordentlich aus und nichts machte den Anschein, als sei es fehl am Platz. Hinter der Haustür befand sich ein kurzer Gang, bestückt mit einer Garderobe und verschiedenen Türen, die in alle Bereiche der Wohnung führten.
Jordan Trace, Megs Vater, hatte das Haus gekauft, um Meg, die nach den Ereignissen von Paris weder ein Heim, noch eine Familie hatte, eine Unterkunft zu bieten. Sie hatte ihn seit ihrer Flucht aus dem Nebel nicht mehr gesehen. Den Schlüssel hatte er ihr geschickt.
„Was sagst du, schauen wir uns ein wenig um?", fragte Claudette und senkte ihren Blick auf Meg. Diese antwortete nur mit einem leichten Nicken. Seit Paris hatte so gut wie kein unnötiges Wort mehr verloren und ihre Stimmung bereitete Claudette ernsthafte Sorgen. Einmal mehr beschloss sie, ihr den Aufenthalt in Waltonfield so angenehm wie möglich zu machen.
„Sieh mal, das ist dein neues Wohnzimmer", sagte sie, als sie Meg durch die erste Tür auf der linken Seite schob: „Schau dir nur mal den Fernseher an. Und dieses Sofa sieht richtig bequem aus."
Meg schaute zuerst auf den einen, dann den anderen Gegenstand. Mit einem Brummen nahm sie die Aussagen zur Kenntnis und nachdem sie einen Moment vergeblich auf eine ausführlichere Antwort gewartet hatte, schob Claudette sie weiter.
„Hier haben wir also die Küche", murmelte sie: „Einen topmodernen Herd hast du hier. Wenn ich nur an das alte Schrottgerät in meiner eigenen Wohnung denke… Morgen kommen wir dich besuchen, dann koche ich dir was Schönes, in Ordnung?" Claudette schmunzelte für einen Moment und fügte dann hinzu: „oder vielleicht sollte besser Dwight das tun. Du kennst meine Kochkünste."
„In Ordnung", sagte Meg, ohne die leiseste Spur eines Lächelns: „Wo ist er eigentlich?"
„Dwight? Er muss arbeiten, genau wie Feng. Aber morgen schauen wir alle hier bei dir vorbei und verpassen deiner Wohnung eine würdiges Einweihungsbankett."
„Mhm"
„Ich bin Studentin, Meg. Vertrau mir. Ich weiß, wie man feiert."
Claudette gab ihr Bestes, eine fröhliche Stimmung an den Tag zu legen. Sie hoffte, dass wenigstens ein Quäntchen davon auf Meg übergreifen würde, doch bisher waren all ihre Versuche erfolglos geblieben.
„Werden Nea und David auch da sein?" Meg drehte den Kopf zur Seite und beobachtete Claudette aus den Augenwinkeln. „Und Jake?"
„Aber natürlich", antwortete die Kanadierin etwas verdutzt, während sie wieder durch den zentralen Gang hinüber auf die andere Seite des Hauses ging. Als Meg den Kopf zurück nach vorne drehte, blieb sie sofort stehen, nahm die Hände von den Haltegriffen des Rollstuhls und ging an ihm vorbei, sodass sie direkt vor Meg zum Stehen kam. Dort angekommen ging sie in die Knie.
„Meg, wir sind alle für dich da", sagte Claudette, die Stimme durchsetzt von Mitgefühl: „Wir alle. Wenn du irgendetwas brauchst, und sei es auch nur etwas Gesellschaft, dann ruf sofort an. Sofort." Claudette deutete auf das Handy, das in einer der Taschen an der Seite des Rollstuhls versteckt war. „Ich lasse alles stehen und liegen und komme sofort hier her, das verspreche ich dir. Und für die anderen gilt dasselbe."
Meg schaute Claudette tief in die Augen.
„Danke"
„Aber natürlich" Claudette griff nach Megs Hand. „Wann immer du mich brauchst."
Das rothaarige Mädchen antwortete nichts. Ihr Blick war wieder zu Boden geschnellt und nach einer unangenehmen Stille, gab sie ein leichtes Nicken von sich. Claudette konnte sehen, dass sie einen Kloß im Hals hinunterschluckte.
„Sehen wir uns weiter um."
Die Kanadierin stand auf, ging wieder zurück an ihren alten Platz und schob Meg weiter durch das neue Haus. Nun ging es durch eine milchige Glastür auf die andere Seite des Hauses.
„Hm, nicht schlecht", raunte Claudette und ließ ihren Blick durch das Badezimmer schweifen: „Eine Dusche, eine Bandwanne und schau dir erst dieses riesen Waschbecken an. Was sagst du dazu?"
„Ganz nett"
Claudette schüttelte unmerklich den Kopf und hätte am liebsten vor Schmerz laut aufgeschrien. Es war kein körperlicher Schmerz, der ihr selbst wiederfuhr, sondern Mitleid, das sie für eine wundervolle Person verspürte, die in so jungen Jahren ein so unverdient grausames Schicksal erfahren musste. Doch sie konnte nichts mehr daran ändern. Nun galt es, mit dem Geschehenen umzugehen und das Beste daraus zu machen.
Rückwärts begab sich Claudette aus dem Bad, vollführte auf dem Gang mit Meg eine stationäre Drehung und schob sie schlussendlich in den letzten Raum des Hauses. Im Schlafzimmer ließ sie einen anerkennenden Pfiff hören.
„Wow, dein Bett ist ja einer Königin würdig. Ich bin sicher, darin liegst du wie auf Wolken."
Meg murmelte etwas Unverständliches und legte dann die Hände an die beiden großen Räder an der Seite ihres Rollstuhls. Unbeholfen bewegte sie sich aus Eigenantrieb nach vorne, bis sie plötzlich an einem Schrankbein hängenblieb. Claudette sprang sofort helfend ein.
„Warte, ich helfe dir…"
„Ich mach das schon"
Meg fuhr ein Stück zurück, änderte leicht die Richtung und setzte ihren Weg dann erfolgreich fort. Claudette stand die ganze Zeit über stumm daneben, in der Hoffnung, dass sich ihre Freundin wenigsten über ihr geglücktes Manöver freute.
Wortlos fuhr Meg nun neben das französische Bett, hob die Decke etwas an und fuhr mit der Hand über das glatte Kissen. Es war wirklich himmlisch weich, genau wie Claudette gesagt hatte. Immerhin würde Meg wohl eine Menge Zeit in diesem Bett verbringen, da war es nur angebracht, dass sie auch über ein angenehmes Kissen verfügte. Sie seufzte.
„Alles okay?"
Claudette beugte sich etwas nach vorne und versuchte Megs Blick aufzufangen. Das rothaarige Mädchen nickte nur, doch sie sagte nichts und hielt ihre Augen vehement auf das Bettzeug gerichtet. Stumm folgten ihre Gedanken dunkeln Pfaden.
„Es ist schon spät", murmelte Claudette, nachdem sie einen Blick auf die Uhr geworfen hatte. „Du bist sicher müde."
Meg schüttelte den Kopf. Sie war nicht müde. Seit ihrer Verletzung hatte sie sich kaum mehr bewegt und ihr Körper, der weit mehr Aktivität gewohnt war, konnte kaum mehr zu Ruhe gekommen. Aber leider war sie zur Passivität gezwungen.
„Wollen wir uns noch einen Film ansehen?", fragte Claudette und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Meg hatte sie zwar nicht im Blick, doch sie wusste, dass die Kanadierin einen strengen Tag hinter sich hatte. Morgen früh standen ihr einige Vorlesungen bevor und eigentlich sollte sie längst im Bett sein. Doch sie war hier, mit ihr.
„Nein", sagte Meg: „Ich leg mich hin und… und lese vielleicht noch etwas. Geh du nur heim und ruh dich aus.
„Bist du sicher?"
„Ja" Meg hielt kurz inne. „Ähm… könntest du mir vorher noch schnell hinüberhelfen?"
„Aber natürlich"
Sofort eilte Claudette um den Rollstuhl herum, nachdem sie ihn direkt neben das Bett geschoben hatte und aktivierte die eingebauten Bremsen. Auf dieses Weise war das Gefährt fixiert und Meg konnte sich an den Armlehnen abstützen.
„Weißt du noch, wie es dir die Ärztin gezeigt hat?", fragte Claudette: „Genau so, nur die Hände etwas weiter nach vorne. Und jetzt…"
Hastig schritt sie ein, bevor Meg zu Boden fiel und packte sie unter den Armen. Mit einem angestrengten Keuchen schaffte sie es Meg aus dem Rollstuhl und hinüber auf den Bettrand in eine sitzende Position zu hieven. Anschließend zog sie ihr die Hose aus, ließ sie aus ihrem Oberteil schlüpfen und hüllte sie schließlich in ein weites Nachthemd. Die Kleider deponierte Claudette in einem nahen Wandschrank, während Meg die Decke zurückschlug und mit den Händen ihre Beine nach oben zog. Zuerst das eine, dann das andere.
„Danke"
Etwas beschämt schaute Meg zu Boden, als Claudette ihren kaputten Körper zudeckte und dann nach dem Kissen griff.
„Wirst schon sehen", ermutigte die Kanadierin und zog den Kopfpolster in eine angenehme Liegeposition: „Nicht mehr lange, dann kannst du das vollkommen allein. Dann brauchst du niemanden mehr."
Meg seufzte nur und Claudette musste sich anstrengen es ihr nicht gleich zu tun. Sie wollte positiv bleiben, wollte Zuversicht in Megs Umfeld verbreiten.
„Wie fühlst du dich?"
„Gut"
„Bist du sicher, dass du nichts mehr brauchst?"
„Ja"
„Ich schlaf auch hier, wenn du willst. Ich leg mich auf die Couch und…"
„Ich komme schon klar", beharrte Meg und das erste Mal fuhr ein Lächeln über ihre Lippen. Es war nur ein leichtes, vielleicht etwas gezwungenes Lächeln, doch es war da und Claudette fiel ein Stein vom Herzen als sie es entdeckte.
„Na gut", murmelte sie: „Also, ich leg dir die Fernbedienung für den Fernseher auf das Nachtkästchen, gleich neben dein Handy. Meins lasse ich die ganze Nacht über angeschaltet. Wenn etwas ist rufst du sofort an, okay?"
Meg nickte.
„Brauchst du sonst noch irgendetwas?"
„Nein"
„Dann sehen wir uns morgen zu Mittag. Schlaf gut."
Claudette schenkte Meg ein Lächeln, drehte sich um und verließ das Schlafzimmer. An der Tür warf sie ihr noch einen Kuss zu, bevor sie im dunklen Gang verschwand. Wenig später hörte Meg die Haustür ins Schloss fallen und wusste, dass sie nun vollkommen allein war.
Ihr Blick fiel hinüber auf das Handy. Es lag direkt neben der Fernbedienung, voll aufgeladen und momentan ihre einzige Verbindung zur Außenwelt. Claudette würde immer für sie da sein, Meg vertraute ihr hundertprozentig. Doch recht viel mehr konnte sie auch nicht tun.
Seufzend griff Meg nach der Fernbedienung für den Fernseher und drückte auf den roten Einschaltknopf. Sie hatte keine Lust, etwas zu lesen. Sie hatte auch keine Lust, fernzusehen, doch wenigstens musste sie dazu ihren Kopf nicht anstrengen.
Früher hätte sie wohl schnell auf dem Sportkanal vorbeigeschaut. Die Leichtathletikübertragungen hatten sie immer interessiert und Fußball hatte ihr, trotz ihrer amerikanischen Herkunft, auch immer recht gut gefallen. Doch in den letzten Wochen war jedes Mal ein Messer durch ihr Herz gefahren, wenn sie auch nur an ihre alte Leidenschaft gedacht hatte.
Unmotiviert schaltete Meg auf irgendeinen beliebigen Sender und landete bei einer bescheuerten Talkshow. Eine knapp bekleidete, blonde Moderatorin interviewte einen Anzugträger zu einem belanglosen Klatschthema, während eine bezahlte Zuschauermenge so unglaubwürdig es nur ging bei jedem schlechten Witz in freizügigen Beifall ausbrach.
Knurrend drückte Meg auf Weiter. Der nächste Kanal zeigte eine Geschichtsdokumentation. Es ging um den zweiten Weltkrieg, den Atombombenabwurf auf Hiroshima und das Leid der japanischen Bevölkerung. Weinende Kinder rannten in schwarz-weiß Aufnahmen über den Monitor.
Meg schaltete um. Sie hatte genug Leid, genug Tod gesehen. Sie wollte nichts mehr davon in ihrem Leben. Glücklicherweise fand sie auf dem dritten Sender eine angenehmere Sendung. Es war wieder eine Dokumentation. Dieses Mal über Tiere im Amazonas.
Hinterhältig schwamm eine dunkelgrüne Schlange durch ein stehendes Gewässer, inmitten von Bäumen und durchsetzt mit Algen. Nur das Köpfchen des Tieres, das die Schlange beharrlich über Wasser hielt, war zu sehen, während der restliche Körper unter der Oberfläche ringelnde Bewegungen vollzog und sie somit nach vorne schob.
Die ganze Zeit über berichtete ein Sprecher mit beruhigender Stimme von den Jagdangewohnheiten des Raubtieres. Er nannte den Urwald einen Wilden Westen ohne Gesetze, in dem nur der Stärkste überlebte. Gefressen und gefressen werden war die Maxime, nach der sich das Leben hier richtete. Anna hätte die Sendung sicherlich gefallen.
Meg schaltete den Fernseher ab. Ihr Finger war beinahe wie von selbst auf den roten Knopf gefahren und seufzend legte sie die Fernbedienung zurück auf das Nachtkästchen. Dunkelheit legte sich in das Schlafzimmer.
Seit Paris hatte sie weder etwas von Anna gehört, noch von Max oder von Sally. Sie war in einem Krankenhaus aufgewacht und alles, was man ihr hatte sagen können, war, dass Six befohlen hatte, alle Berührten ersten Grades festzunehmen.
Die Ojomos hatten keine Ahnung was mit Philip geschehen war. Er hatte sich nie wieder bei ihnen gemeldet und auch die Behörden hatten sich in Schweigen gehüllt. Neben ihren Beinen hatte Meg in Paris auch eine Reihe guter Freunde verloren.
Eine Uhr tickte an der Wand. Jedes Mal, wenn sich der Sekundenzeiger ein Stück weiterdrehte, knallte der Ton wie ein Pistolenschuss durch die Stille. Für eine Ewigkeit tat Meg nichts anderes, als mit dem Rücken gegen das Kissen gelehnt in der Dunkelheit zu sitzen und dem endlosen Ticken zuzuhören.
Es gab nichts, was sie tun konnte. Sie lag im Bett, doch sie konnte nicht schlafen. Sie war nicht müde. Sie konnte auch nicht aufstehen, denn ihre Wirbelsäule lag in Trümmern und kein Arzt der Welt hatte auch nur die leiseste Hoffnung darauf, sie wieder zusammenzufügen. Es gab nichts, was sie tun konnte.
Allein mit ihren Gedanken starrte Meg in die Dunkelheit. Die Realität wog immer schwerer auf ihren Schultern und drückte sie hinunter in die Finsternis, wo sie allein war, verloren, vergessen und ohnmächtig.
Eine silberne Träne rann über ihre Wange. Sie blitzte kurz im Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos, bevor sie sich von ihrem Kinn löste und hinunter in die Bettdecke fiel. Und Meg wusste, dass die zweite nicht lange auf sich warten lassen würde.
Es war nicht das erste Mal, dass sie ob all des Verlusts, den sie erlitten hatte, in Tränen ausbrach und wie immer tat sie es allein in der Nacht, eingesperrt mit ihren Gedanken und ohne Claudette, die ihr Bestes gab, um sie abzulenken und aufzumuntern.
Kurz schoss ihr Blick hinüber auf das Handy, das leblos auf dem Nachtkästchen lag. Dann wandte sie sich wieder ab.
„Was ich will?"
Chloe stöhnte entnervt auf und war kurz davor, den Hörer zum hundertsten Mal wütend auf die Gabel zu knallen. Doch sie musste sich beherrschen.
„Ich will wissen, was ihr mit Max gemacht habt."
„Geehrte Dame, dies ist eine Notrufnummer, haben sie einen Notfall zu vermelden?"
„Der Notfall ist, dass ihr meine Freundin nach Guantanamo verschleppt habt und niemandem sagt, was ihr überhaupt von ihr wollt! Sie hat nichts verbrochen und ihr habt sie einfach so abgeführt!"
Chloe konnte sich noch lebhaft daran erinnern, wie zwei Rainbow Operatoren Max plötzlich gepackt und davongezerrt hatten, während sie selbst von einem dritten festgehalten worden war.
„Miss… Wenn sie keinen Notfall…"
„Zum Teufel", rief Chloe: „Hören Sie mit den Sprüchen auf und stellen Sie mich zu irgendeinem kompetenteren Agenten durch, der auch etwas zu sagen hat. Ich will…"
Ein kurzer Ton signalisierte, dass die Verbindung geschlossen worden war und im nächsten Moment landete der Hörer doch noch auf der Gabel, die wie durch ein Wunder noch nicht unter der Wucht zusammengebrochen war. Chloe stieß einen Wutschrei aus und rammte ihren Fuß gegen die Wand. Sofort fuhr ein stechender Schmerz durch ihren großen Zeh.
„Fuck!"
Entkräftete ließ sie sich auf ihr unordentliches Bett fallen, vergrub das Gesicht in den Händen und schloss die Augen. Keine der Nummern hatte funktioniert. Weder die Offiziellen noch die, die ihr ihr Stiefvater und Ex-Soldat David gegeben hatte oder die, die auf fragwürdigen Verschwörungsseiten im Internet kursierten. Auch die Menschenrechtsorganisationen hatten ihr nicht weiterhelfen können und die hatten doch wohl nichts anderes zu tun.
Chloe wusste nicht mehr weiter. Sie war ja nicht die einzige, die energisch versuchte, etwas herauszufinden. Die Caulfields hingen ebenfalls Tag und Nacht am Telefon, waren bei den verschiedensten Ämtern vorstellig geworden und hatten alles Versucht, um irgendetwas über ihre Tochter zu erfahren.
Vergebens.
Choe öffnete ihre Augen und starrte an die Decke. Vielleicht sollte sie öffentliches Aufsehen erregen und sich an eine Zeitung wenden, die ganze Geschichte publik machen. Wenn sie nur genug Leute dazu brachte, auf die Straßen zu gehen, würden die Behörden vielleicht einknicken.
Aber was sollte sie den Journalisten denn sagen? Dass die Regierung Max verschleppt hatte, um wegen ihrer übernatürlichen Kräfte an ihr herumzuexperimentieren?
Seufzend drehte sich Chloe auf den Bauch, stemmte die Hände gegen die Bettdecke und stellte ihre Füße auf den Boden. Ihre blauen Haare hatten schon einen Großteil ihrer Färbung verloren und das Braun stach mittlerweile wieder deutlich hervor. Schon zu lange hatte sie sich nicht mehr geduscht und vielleicht war es wirklich langsam an der Zeit, den Ermahnungen ihrer Mutter Folge zu leisten und endlich ihr Zimmer aufzuräumen.
Nicht, dass die Ordnung lange bestehen bleiben würde. Chloes kleines Reich war wie eine Wüste des Chaos, wo alles auf wundersame Weise aus den Kästen zu springen schien, nur um sich in einem wilden Gewirre auf dem Boden zu verteilen und das Zimmer beinahe unbegehbar zu machen.
Entnervt ließ sie den Blick durch den kleinen Raum gleiten, beschloss nach einer kurzen Urteilsphase jedoch, dass sie lieber mit einer warmen Dusche begann. Der Sommer neigte sich langsam dem Ende zu und ein kalter Wind wehte vom Pazifik nach Arcadia Bay herein. Das heiße Wasser würde ihr zweifellos guttun.
Miesmutig entledigte sich Chloe ihrer Kleider, warf sie auf einen bereits überfüllten Schreibtischstuhl und stellte sich hinüber an die Tür. Ein schneller Blick zeigte ihr, dass sich ihr Stiefvater nicht auf dem Gang herumtrieb und so schlüpfte sie eilig hinüber ins Bad. Ihre nackten Füße patschten über den Boden, bis sie endlich in die Dusche stieg.
Zuerst war das Wasser kalt und Chloe zuckte zischend zurück. Dann, nach einem kurzen Moment, erwärmte es sich und prasselte in dampfenden Strahlen auf ihren Körper herab. Seufzend atmete sie wieder aus.
Die Wärme löste ihre angespannten Muskeln und schien gleichzeitig auch ihren Verstand etwas aufzutauen. Für eine ganze Weile harrte Chloe einfach unter dem Wasserstrahl aus. Die Tropfen rannen über ihre Haut und massierten ihren Rücken, tropften an den Beinen entlang und sammelten sich am Boden der Dusche, bevor sie im Abfluss wieder verschwanden.
Nachdem sie sich hastig die Haare gewaschen hatte, drehte Chloe den Hahn wieder zu und trat zurück ins Badezimmer. Sie hatte einen Entschluss gefasst. Eilig wickelte sie ein Handtuch um ihren Körper und ging zurück in ihr Zimmer, wo sie in eine ihrer unzähligen Jeans schlüpfte, sich kurz die Haare abtrocknete und sich anschließend in eines ihrer Tanktops zwängte.
Die Öffentlichkeit auf den Skandal aufmerksam zu machen war der einzige Weg. Sie selbst war dazu allerdings nicht in der Lage, da es ihr nicht nur an Glaubwürdigkeit, sondern auch an Erfahrung mangelte. Doch zum Glück kannte sie jemanden, der über beides verfügte.
Ms. Grant war jahrelang ihre Physikprofessorin gewesen, bis Chloe eines schönen Tages von der Blackwell Academy suspendiert worden war. Aber die rundliche Afroamerikanerin hatte stets einen Platz für sie frei gehabt, wenn schon nicht im Klassenzimmer, dann im Gespräch unter Freunden. Außerdem war sie bereits für weit weniger als ein verschlepptes Mädchen auf die Barrikaden gegangen.
Chloe ließ sich auf die Knie fallen und schaute unter ihr Bett, doch sie konnte ihre Springerstiefel nicht finden. Schließlich entdeckte sie sie hinter der Tür, stülpte sie energisch über die Füße und griff dann nach der schwarzen Lederjacke an der Stuhllehne. Eine graue Kappe vollendete das Bild der rebellischen, jungen Dame.
Kurz schaute sie sich im Spiegel an der Tür ihres Kleiderschranks an. Dann entschied sie, dass es absolut egal war, wie sie aussah und riss die Tür zu ihrem Zimmer auf. Über die Treppe flog sie beinahe hinunter und einen Augenblick später hatte sie das Haus bereits verlassen.
„Einen wunderschönen guten Abend alle miteinander!"
„Hi, Nea", piepste Feng und nahm ihre Freundin sofort in den Arm. Hinter dieser brummte David eine knurrige Begrüßung und hängte seinen Mantel an den Kleiderhaken im Flur. Feng trat derweil zur Seite und ließ die beiden weiter eintreten, bevor sie die Haustür hinter ihnen schloss.
„Hm, nicht schlecht", staunte Nea und drehte sich kurz um die eigene Achse. Dann wurde ihr Blick ernst und in etwas gedämpfter Stimme fragte sie: „Wie geht´s ihr?"
Feng schüttelte den Kopf.
„Keine Ahnung. Aber könnte schlimmer sein, glaube ich."
„Glaubst du?"
„Sie sagt nicht viel", murmelte Feng: „Aber wenigstens lächelt sie ab und zu."
„Na, immerhin"
Nea atmete einmal tief durch.
„Sehen wir zu, dass wir ihr einen schönen Abend veranstalten."
Feng nickte. Sie würde nichts lieber tun, als Meg aufzuheitern und ihr dunkles Schicksal zu lindern, doch sie konnte nichts an der Tatsache ändern, dass es sich wahrhaft um ein dunkles Schicksal handelte. Immer wieder tat sie sich einfach schwer, die richtigen Worte zu finden.
„Hey, David, Nea, kommt rein"
Dwight war in der Wohnzimmertür erschienen und winkte die beiden nun mit einem hölzernen Kochlöffel herein. Er hatte eine gelbe Kochschürze um seinen Oberkörper gebunden und Schweißtropen glitzerten auf seiner Stirn. Er schien hart zu arbeiten.
„Schon unterwegs", antwortete Nea und setzte sich in Bewegung. David folgte ihr etwas schwerfälliger und trat hinter ihr in das weitläufige Wohnzimmer.
„Setzt euch einfach irgendwo hin", kommandierte Dwight und zeigte auf einen der Stühle rund um den zentralen Esstisch: „Die Schnitzel sing gleich fertig."
„Hi, Leute"
Neas Blick richtete sich sofort ans Kopfende der Tafel, wo ihr ein rothaariges Mädchen ein schwaches Lächeln schenkte. Der Schwedin fiel ein Stein vom Herzen. Es ging ihr gut.
„Hi", antwortete Nea und krallte sich einen der Stühle: „Nette Bude."
„Danke"
Meg senkte verlegen den Blick, doch Nea hatte sich bereits von ihr abgewandt und ließ ihre Augen durch den Raum schweifen. Für einen Moment schaute sie hinüber in die Küche, wo Dwight mit einer Pfanne hantierte. Dann blieb sie am riesigen Fernseher hängen.
„Also ich weiß schon wo wir uns den nächsten großen Blockbuster reinziehen."
„Von dem Teil kriegst du doch in zehn Minuten Augenkrebs", lachte Claudette, die im Platz neben Meg saß und sich mit müden Augen auf der Tischkante abstützte.
„Ja und? Meg hat ne Heimkinoanlage, das müssen wir doch nutzen."
David setzte sich nun schweigend neben seine Freundin und schaute zu Meg. Ihre Blicke trafen sich und während Nea immer weiterredete, sagte David kein Wort. Stattdessen ließ er seine Augen sprechen. Er wollte wissen, wie es Meg ging, wie es ihr wirklich ging. Was er sah, bereitete ihm ein wenig Sorgen. Doch sie blieb am Ball.
Nickend lehnte sich David etwas zurück und Meg, die das Signal sofort verstand, nickte ebenfalls. Ganz leicht nur, sodass niemand anderer es bemerkte. Sie wusste, dass Nea versuchte mit ihrem fröhlichen Geplapper die Stimmung etwas zu heben, doch David hatte dieses Mal das bessere Gefühl. Er war für sie da und Meg wusste das zu schätzen.
„Hey, habe ich euch schon mal davon erzählt, wie mein Vater so ein Teil kaufen wollte?", fragte Nea, die immer noch von dem Fernseher sprach.
„Nein", schüttelte Claudette den Kopf.
„Ich habe ihn ein halbes Jahr lang bearbeitet", erzählte Nea und beugte sich über den Tisch: „Einer meiner Freunde in Schweden hat sich damals so ein Ding ins Wohnzimmer gestellt und ich wollte unbedingt auch eins haben. Irgendwann hatte ich ihn dann so weit. Aber bevor er in den Laden gefahren ist, hat meine Mutter mit der Axt dazwischengehauen."
„Eine weise Entscheidung", murmelte Feng belustigt und setzte sich neben Nea, die entgegnete: „Aber eine Langweilige"
„Mir musst du nichts von langweiligen Eltern erzählen. Konservativ bis dahinaus und ja keine unvorhergesehenen Komplikationen. Alles muss perfekt sein, besonders ihre kleine Tochter."
„Sind sie immer noch sauer auf dich?", fragte Nea und drehte sich der kleinen Asiatin zu.
„Mhm", nickte Feng: „Der Polizeischutz hat ihnen gar nicht gefallen. Ich wette beim nächsten Familientreffen wird die ganze Sache wieder breitgetreten."
„Ich versteh das nicht", rief Nea: „Wieso gehst du da überhaupt noch hin? Du bist alt genug. Du musst nicht mehr tun, was sie dir sagen."
„Ja schon", murmelte Feng: „Aber Familie bleibt eben Familie, oder nicht? Am Ende liebe ich sie immer noch. Glaube ich…"
Sie schaute ratlos zu Claudette, die ihr ermutigend zunickte.
„Zweifellos", sagte die Kanadierin: „Familie bleibt Familie und ich weiß, dass sie sich höllische Sorgen um dich gemacht haben. Verwechsle ihre Reserviertheit nicht mit Gleichgültigkeit. Sie wollen das Beste für dich und schlagen dabei vielleicht die etwas falschen Wege ein. Aber sie lieben dich, das muss ich nicht glauben, das weiß ich."
„Wo wir schon bei Familie sind", sagte Nea, während Feng Claudette ein breites Lächeln zuwarf: „Hat sich eigentlich bei Jake und seinen Leuten irgendetwas getan? Wo ist er eigentlich?"
„Ich bin hier."
Nea schaute überrascht zur Seite und entdeckte Jake, der sich bis dahin im Schatten neben dem Fenster gehalten hatte. Sein Gesicht war gezeichnet von Narben, manche durch Evan, andere durch die White Masks zugefügt. Doch er hatte die Qualen überstanden und war nun wieder ganz der Alte. Zumindest allem Anschein nach.
„Hey, ich habe dich gar nicht gesehen", rief Nea: „Warum versteckst du dich denn so? Komm doch her zu uns!"
Während Jake mit den Schultern zuckte und sich belustigt an den Tisch setzte, drehte sich Meg zu Claudette und flüsterte: „Das hast du schön gesagt."
„Hm, was?"
„Das mit Feng. Familie bleibt Familie."
„Ach ja?"
Meg nickte. Claudette konnte sehen, wie sich Wärme in ihr Gesicht geschlichen hatte. Es tat ihr so offensichtlich gut, hier zwischen all ihren Freunden zu sitzen, anstatt allein vor einer Zeitschrift oder einem Fernseher vor sich hin zu grübeln. Hoffentlich würden sich solch Treffen noch öfter organisieren lassen.
„Ihr wollt etwas über meine Familie wissen?", fragte Jake: „Da gibt's nicht viel zu erzählen. Sie wussten nicht einmal, dass ich entführt wurde."
„Wie das?"
Feng schaute ihn entgeistert an.
„Naja, während der Entführung habe ich ihnen nichts sagen können, oder? Und nachher habe ich irgendwie nie daran gedacht. Ich habe einfach nichts mehr mit ihnen zu tun."
„Das ist aber schade", murmelte Nea, doch Jake winkte ab.
„Ich habe eine neue Familie."
Er schaute in die Runde und sein Blick blieb an Meg hängen.
„Wenn ihr mich fragt", sagte er: „Ist es nicht das Blut, was uns zu Familien macht, sondern unsere Entscheidungen. Und ich habe mich für euch entschieden."
„Hört, hört", knurrte David und klopfte mit seinen Knöcheln auf den Tisch.
„Ich finde, das hat er auch schön gesagt", flüsterte Claudette Meg zu und schaffte es, ihr damit ein weiteres ihrer seltenen Lächeln abzugewinnen.
„Hey, Meg", wandte sich nun plötzlich Nea an sie „Wann kommt eigentlich dein Vater? Er hat den Dienst beim FBI doch quittiert, oder nicht?"
„Das hat er", bestätigte Meg, deren Miene sich wieder leicht verdunkelt hatte: „Er wollte morgen Abend hier sein. Er weiß aber noch nicht, ob er es schaffen wird. Nachdem man so tief in der ganzen Sache drinsteckt, kommt man wohl nur schwer wieder raus."
„Aber es scheint sich ja zu lohnen", sagte Nea und deutete auf den Raum.
„Für so einen gefährlichen Job bekommt man sicher einen richtig hohen Sold", warf Jake ein: „Und er hat ja nie etwas davon gebraucht. Hat sein Leben lang auf irgendwelchen Basen geschlafen, schätze ich."
„Bist du aufgeregt?", wollte Feng wissen. Meg schaute sie kurz an, bevor sie nickte.
„Aber natürlich ist sie das", rief Nea: „Ich meine, du kennst ihn doch kaum, oder? Aber ich bin sicher, er wird sich gut um dich kümmern."
„Und wenn nicht, dann kriegt er es mit uns zu tun", fügte Claudette hinzu und David verstärkte ihr Versprechen mit einem Nicken. Meg schaute sie der Reihe nach dankbar an.
„So, hier kommt die erste Ladung", rief Dwight aus der Küche und kam wenig später mit einer großen Pfanne ins Wohnzimmer gewankt. Vorsichtig stellte er sie auf einen der Untersetzer in der Mitte des Tischs, während Feng sich hastig erhob und sagte: „Warte, ich bring die Teller."
Neben der Pfanne, die eine wohl zu große Anzahl an Schnitzeln enthielt, fanden wenig später noch zwei Töpfe Platz, die ihrerseits Kartoffelpüree oder Reis enthielten und zwischen denen die Anwesenden wählen konnten. Zum Nachtisch würde es einen Kuchen geben, den Feng aus der Stadt mitgebracht hatte.
Für eine ganze Weile sagte niemand ein Wort, da alle mit ihrem Essen beschäftigt waren. Meg hatte sich selbst eine große Portion auf den Teller geschaufelt, doch bereits nach wenigen Bissen spürte sie, wie ihr langsam der Appetit verging.
Es war nicht ungewöhnlich. In den Tagen seit Paris hatte sie niemals sonderlich viel zu sich genommen und an manchen Tagen hatte sie sogar gänzlich von einer Mahlzeit abgesehen. Claudette hatte sie natürlich stets zum Essen animiert. Doch Meg, sei es durch reduzierten Energieverbrauch oder ihre psychische Lage, hatte ihr niemals wirklich Folge geleistet.
Lustlos stocherte sie nun also auf ihrem Teller umher, während sie ihren Blick in die Runde gleiten ließ und den anderen beim Essen zusah. David und Nea machten sich wie immer mit Heißhunger und hemmungslos über ihre Portionen her. Jake und Dwight aßen ganz gemütlich, während Claudette und Feng sich etwas graziler verhielten.
Meg war ihnen wirklich dankbar, dass sie alle gekommen waren, um ihr Gesellschaft zu leisten. Sie wusste, dass sie es brauchte und dass es ihr guttun würde, doch sie wusste auch, dass sie nicht zu sehr in die Rolle eines hilfsbedürftigen Krüppels abrutschen wollte. Sie wollte, dass ihre Freunde sie so behandelte wie immer und nicht, als wäre sie irgendein spezieller Fall. Sie war doch immer noch Meg.
Oder etwa nicht?
Jedenfalls rang sie sich nun dazu durch, einen Großteil der Portion zu verschlingen, sodass es nicht auffallen würde und schob dann den Teller etwas von sich weg. Die Stille hatte sofort wieder dunkle Erinnerungen in ihr Aufkeimen lassen und während die anderen noch aßen, stahlen sich ihre Gedanken wieder zu Sally, die unweigerlich Teil ihrer Familie war.
Wo war sie bloß?
„Das hast du wirklich gut hinbekommen, Dwight", murmelte Jake zwischen seinen zwei letzten Bissen.
„Danke", quittierte Dwight das Lob: „Ich hab´s auch nur aus einem Kochbuch."
„Hey, Gelesenes anwenden zu können ist auch eine Kompetenz", mischte sich Claudette ein: „Kochbuch oder nicht, bei mir ist´s immer ein Spiel mit dem Feuer."
„Wie habt ihr euch eigentlich wieder in die Arbeit eingefunden?", frage Nea nun und schaute zwischen Dwight und Feng hin und her: „Ich hoffe, euer Boss hat sich nicht allzu sehr darüber aufgeregt, dass ihr eine gute Woche lang einfach verschwunden seid."
„Mr Cooper?", fragte Feng: „Der hat das doch gar nicht mitgekriegt. Solange der Laden läuft kommt er nicht aus seinem Büro raus und ich habe Skripts im System, damit die ganze Sache auch mal eine Woche ohne mich auskommt."
„Das läuft auch ohne dich?", fragte Nea: „Warum bezahlen die dich dann? Oder warum gehst du dann noch hin?"
„Weil diese automatischen Dinge auch nur bis zu einem gewissen Grad helfen", antwortete Feng: „Für komplizierte oder unvorhergesehene Fälle muss ich immer vor Ort sein und in dieser Woche gabs zum Glück keine."
„Aber denen muss doch aufgefallen sein, dass ihr fehlt."
„Natürlich, aber mein Vater wusste ja wo wir waren", sagte Dwight: „Er hat kein großes Ding draus gemacht."
„Gefällt sie dir eigentlich noch?", wollte David wissen: „Deine Arbeit?"
„Nun, Arbeit bleibt immer Arbeit, schätze ich", antwortete Dwight: „Aber es ist gutes Geld und ich hab´s recht gemütlich. Könnt schlimmer sein."
Feng pflichtete ihm nickend bei.
„Wie ist´s eigentlich bei dir in der Grundschule?", fragte nun Claudette. David drehte ihr kurz den Kopf zu und kippte ihn dann ihn den Nacken, wobei er die Hände über das Gesicht legte.
„Aaaah, erinnere mich nicht daran. Ich muss da morgen wieder hin."
„Jetzt hör doch auf", mahnte Claudette empört: „Du bist der Lehrer"
„Ich weiß", knurrte David: „Aber die Bengel haben´s sich zur Aufgabe gemacht, mich zu foltern."
„Sie lieben dich halt", sagte Nea.
„Sag ich doch", brummte David: „Und ich darf auf dem Gelände oder vor ihnen nicht einmal eine Zigarette rauchen."
„Gut so", nickte Claudette: „Das solltest du dir ohnehin abgewöhnen."
Meg hörte dem Hin und Her eine Weile lang zu. Mit halbem Ohr verfolgte sie das Gespräch, während sich ihre Miene immer weiter verdüsterte. Aber es schien niemandem aufzufallen.
Wie konnten sie nur hier sitzen und über solch belanglose Dinge plappern, während Sally, Anna, Max, Philip und Lisa unauffindbar verschwunden blieben? Vielleicht brauchten sie ihre Hilfe. Vielleicht wurde in diesem Moment an ihnen herumexperimentiert. Eigentlich sollte sie gleich heute aufstehen und sich auf die Suche machen. Doch sie konnte ja nicht. Sie saß in diesem verdammten Rollstuhl fest und die Tage, in denen sie aktiv irgendetwas tun konnte, waren gezählt, aus und vorbei.
Meg schaute auf ihre Hände.
„Hey, Feng. Ich habe gehört, du hast wieder eine neuen Prinz Charming am Start."
Feng sah auf und richtete ihren Blick hinüber auf Nea.
„Claudette hats mir erzählt", sagte die Schwedin und nickte in Richtung der Kanadierin. Verteidigend hob diese ihre Arme und rief: „Ich habe nur Dwights Gerüchte weitergegeben."
„Sind wir jetzt bei der stillen Post, oder was?", brummte David.
„Ist doch egal", fuhr Nea dazwischen: „Wie ist er denn so? Wieder einer mit blauen Augen?"
„Ähm… nein", schüttelte Feng den Kopf.
„Warum habe ich dir bloß etwas gesagt?", knurrte Claudette belustigt und Nea quittierte ihre Aussage mit einem verschmitzten Grinsen.
„Man wird ja wohl noch fragen dürfen", sagte sie und beugte sich dann über den Tisch: „Was glaubst du, ist es dieses Mal der richtige?"
Feng schaute sie nur ratlos an und stammelte: „Um ehrlich zu sein weiß ich jetzt nicht genau wen du meinst."
„Dann gibt es also mehrere?", rief Nea: „Nicht schlecht."
„Nein", entgegnete Feng. „Es… Es gibt gar keine."
Nea zog in Überraschung die Augenbrauen nach oben. Dann, nach einer kurzen Pause, drehte sie sich zu Dwight um und rief: „Was redest du denn für einen Mist? Erzählst du uns hier etwa Lügenmär… Wow, Meg, alles in Ordnung?"
Stille legte sich über die fröhliche Runde und aller Augen richteten sich hinüber auf das rothaarige Mädchen im Rollstuhl, das sich hastig eine Träne von der Wange wischte. Dann holte sie kurz tief Luft, bevor sie murmelte: „Int… Interessiert es euch überhaupt nicht, was mit… mit Sally und den anderen passiert ist?"
Claudette und Nea tauschten einen schnellen Blick aus. Erstere beugte sich anschließend zu Meg herüber und griff behutsam nach ihrer Hand.
„Natürlich interessiert es uns", sagte sie: „Aber im Moment können wir einfach nichts tun. Sie wollen uns nicht einmal sagen, wo sie sind."
Meg schniefte kurz, doch antwortete nichts.
„Außerdem ist Freddy immer noch da draußen", fügte Nea hinzu: „Vielleicht… vielleicht ist es das Beste, wenn wir uns… zumindest für eine Weile… von ihnen fernhalten."
Beinahe gleichzeitig hielten alle den Atem an, als Meg mit funkelnden Augen aufsah und Nea anstarrte.
„Wie kannst du nur so etwas sagen?"
Nea traute sich nicht zu antworten.
„Sie haben ihre Leben für uns riskiert", rief Meg: „Und du willst sie einfach vergessen?"
„Hey, das habe ich nicht…"
„Vielleicht erinnerst du dich nicht mehr daran, aber Anna ist damals für dich fast draufgegangen!"
Ohne es wirklich zu kontrollieren, hatte Meg ihre Stimme erhoben und alle außer David und Jake waren überrascht zusammengezuckt. Bevor Nea etwas erwidern konnte, verstärkte Claudette den Griff um Megs Finger und suchte nach ihrem Blick.
Widerwillig drehte Meg ihren Kopf in Richtung der Kanadierin. Als ihr Blick dabei jedoch über die erschrockenen Gesichter fuhr, schien sie zu erwachen, wie aus einer Trance und schaute wieder zurück zu Nea.
„Sorry, Nea. Es… es tut mir leid, ich… ich wollte dich nicht anschreien. Es ist nur…" Meg atmete kurz durch und versuchte ihre zitternden Finger zu beruhigen. „Es ist nur… ich vermisse sie einfach so sehr."
„Schon gut", murmelte Nea, immer noch etwas auf der Hut, während Claudette wieder das Wort übernahm.
„Du hast weit länger mit ihnen gelebt, als wir alle zusammen, Meg und es ist sicher weit schwerer für dich, nichts über sie zu wissen, als für uns. Aber wir alle versuchen nur zurück in einen gewöhnlichen Alltag zu finden."
Meg schaute sie für einen Moment an. Dann nickte sie.
„Ich weiß."
Wieder legte sich Stille über den Esstisch. Betretene Blicke gingen die Runde und Gabeln stocherten in den Tellern umher, bis Feng schließlich das Schweigen brach und nach einem Nachschlag fragte.
Meg bezweifelte, dass sie wirklich noch Hunger hatte. Wahrscheinlich wollte sie die Atmosphäre zurück in eine etwas angenehmere Richtung lenken und glücklicherweise gelang ihr das auch. Erneut entwickelte sich ein Gespräch, dieses Mal jedoch etwas vorsichtiger und gehaltener.
Meg nahm kaum teil. Ihre Gedanken flogen hinaus in die dunkle Nacht zu ihrer anderen Familie und erst als Claudette die Runde mit einem Blick auf die Uhr auflöste, schreckte sie hoch.
„Jetzt hätten wir fast die Zeit vergessen", sagte die Kanadierin und erhob sich mit einem Gähnen: „Wir haben morgen alle zu tun."
Sie schaute in die Runde, vermied es jedoch zu Meg zu blicken, die in der Tat überhaupt nichts zu tun hatte. Ihre Aufgabe war es sich zu erholen.
„Wartet, ich mach das schon", murmelte Meg und nahm Claudette den Stapel schmutziger Teller aus der Hand. Wenn sie schon den ganzen Tag nur rumsitzen würde, dann konnte sie jetzt zumindest den Tisch abräumen und saubermachen. Schließlich war sie die Gastgeberin.
Etwas ungeschickt platzierte sie die Teller in ihrem Schoß und griff anschließend nach den beiden Rädern an der Seite ihres Rollstuhls. Claudette beobachtete sie kurz, bevor sie anfing, das Besteck einzusammeln und Dwight sich in der Küche den Töpfen zuwandte.
Meg brachte die Teller derweil hinüber zur Spülmaschine und begann sie sorgfältig einzuräumen. Dann wandte sie sich Claudette zu, die ihr die Messer und Gabeln reichte.
„Danke"
Eilig ließ Meg auch das Besteck in der Spülmaschine verschwinden, legte das blockförmige Waschmittel in die dafür vorgesehene Vertiefung, schloss die Luke wieder und startete schlussendlich das Programm. Brummend erwachte die Maschine zum Leben.
Meg nickte zufrieden und drehte sich mit ihrem Rollstuhl um. Schon allein der simple Akt des Tischabräumens hatte ihr ein wohltuendes Selbstwertgefühl verliehen. Sie war nicht vollkommen unnütz gewesen. Sie hatte etwas getan.
Doch sie war sich sicher, dass es keine Minute lang anhalten würde und einen Seufzer unterdrückend rollte sie durch das Wohnzimmer hinaus in den Flur. Nea, David, Jake und Feng waren allesamt gerade dabei, sich die Mäntel anzuziehen. Die Schwedin schlüpfte gerade mit den Füßen in ihre rebellisch bunten Schuhe, als sich Meg ihr zur Verabschiedung zuwandte.
„Hey, nochmals Entschuldigung wegen vorhin", murmelte sie, doch Nea schüttelte nur den Kopf.
„Schon vergessen"
Meg versuchte sich an einem Lächeln, woraufhin sich Nea nach vorne beugte und sie in die Arme schloss.
„Du bist nicht allein, okay?", flüsterte die Schwedin. Meg nickte leicht, doch sie sagte nichts. Wie schon so oft in letzter Zeit, fiel es ihr schwer, die passenden Worte zu finden.
„Also dann", sagte Nea: „Man sieht sich."
„Auf jeden Fall", fügte Feng hinzu und David brummte etwas Unverständliches. Jake hielt sich wie immer im Hintergrund, doch auch er nickte bekräftigend.
„War ja ein schöner Abend", sagte Claudette, die wohl hinter Meg in den Flur gekommen war: „Soll ich dir noch ins Bett helfen?"
Meg überlegte einen Moment, bevor sie verlegen nickte. Während Dwight sich nun die Schuhe anzog und sich ebenfalls zum Gehen bereit machte, verließen die anderen bereits das Haus und Claudette brachte Meg ins Schlafzimmer.
Dort angekommen wiederholten sie die Prozedur, die sie bereits ein paar Mal durchlaufen hatten und dieses Mal gelang es Meg sogar sich selbst aufs Bett hinüber zu hieven. Claudette zog anerkennend die Augenbrauen nach oben.
„Du brauchst mich doch gar nicht mehr."
Meg steckte den Kopf durch den Kragen ihres Nachhemds. Dann schüttelte sie den Kopf und antwortete: „Vielleicht nicht für das. Aber du tust noch so viel mehr."
Bevor Claudette etwas erwidern konnte, klingelte das Telefon draußen im Flur und überrascht drehten beide den Kopf.
„Ich geh ran, in Ordnung?", rief Dwight aus dem Gang herein, wartete jedoch keine Antwort ab, sondern schnappte sich geschwind den Hörer und legte in sich ans Ohr.
„Hallo?"
Irgendjemand sprach am anderen Ende, doch Claudette und Meg konnten kaum mehr als ein Summen vernehmen. Nur Dwights Antworten waren verständlich.
„Okay, ich gebe sie…"
Summen.
„Warum?"
Summen.
„Aha"
Summen, dann eine kurze Pause und wieder Summen.
„In Ordnung, ich sag´s ihr."
Kurzes Summen.
„Auf Wiederhören"
Klickend legte Dwight den Hörer zurück auf die Gabel und zog sich den zweiten Schuh über den Fuß, während er ins Schlafzimmer gehoppelt kam.
„Wer war das?", fragte Claudette. Sie rückte gerade Megs Bettdecke zurecht und schaute ihren Freund nun mit fragenden Augen an.
„Ähm… Das war dein Vater, Meg."
„Jordan?"
„Ja. Er hat gesagt, er würde wohl erst nächste Woche kommen."
„Warum?"
„Wegen dem FBI und so", murmelte Dwight und kratzte sich am Bart: „Er hat unfassbar gestresst geklungen und früher lassen sie ihn nicht gehen. Auch weil er in Team Rainbow war."
Mit leerem Gesichtsausdruck fiel Meg zurück in ihr Kissen und schaute auf die Bettdecke. Claudette blickte derweil sorgenvoll zu Dwight, bevor sie sich Meg zuwandte und nach ihrer Hand griff.
„Ich bin sicher, er kommt so schnell er kann."
„Ja, ja", nickte Meg mit leerem Gesichtsausdruck: „Er wird schon auftauchen."
Kurz schwieg sie nachdenklich. Dann schaute sie auf und richtete ihren Blick hinüber zu Dwight, der bereits startklar im Flur stand.
„Hat er etwas über Sally gesagt?"
„Nein"
Meg antwortete nichts. Claudette bedachte sie mit einem weiteren besorgten Blick, doch sie konnte beim besten Willen nicht ausmachen, was die ehemalige Athletin fühlte. Schließlich atmete sie einmal tief durch, bevor sie sagte: „Na dann, gute Nacht."
„Gute Nacht", erwiderte Meg.
„Wir sehen uns morgen."
„Mhm"
„Und denk dran", fügte Claudette hinzu, während sie zu Dwight in den Gang hinausging: „Mein Handy ist immer an. Du brauchst mich nur anzurufen."
Meg nickte, gerade als Claudette das Licht ausmachte und in den Flur hinaustrat. Sie hörte Dwight ein paar Worte an sie richten, doch was auch immer er ihr sagte, drang nicht bis in ihre Gedanken vor. Dass ihr Vater sich verspätete, hatte eine seltsame Unsicherheit in ihr ausgelöst.
Hatte er noch etwas zu erledigen? Musste er sich um etwas kümmern, vielleicht sogar um etwas, das mit Sally oder Anna zu tun hatte? Oder wollte er einfach nur den Zeitpunkt hinauszögern, ab dem er sich um seine invalide Tochter kümmern musste? So hatte er sich ihre Zusammenkunft sicherlich nicht vorgestellt.
Meg hörte eine Haustür ins Schloss fallen und der Ton riss sie beinahe aus dem dunklen Strudel ihres Verstandes. Seufzend widmete sie sich der nächsten einsamen Nacht, die sie zu überstehen hatte und der Aufgabe, möglichst rasch in einen betäubenden Schlaf zu finden.
„Sie sieht nicht gut aus, oder?"
David brummte etwas Unverständliches, doch gleichzeitig schüttelte er den Kopf, was seine Meinung eindeutig enthüllte. Außerdem hatte Nea schon vor langer Zeit gelernt, sein Geknurre zu interpretieren.
„Ich hätte vorsichtiger sein müssen", murmelte die Schwedin: „Ich wollte sie nicht verletzen, aber ich glaube, genau das ist mir heute grandios gelungen. Ich und mein loses Mundwerk."
Mitfühlend legte David eine Hand um ihre Schulter, während Nea hinunter auf den Asphalt schaute. Das Licht der Straßenlaternen warf einen orangen Schein auf den schwarzen Teer und dunkle Schatten zogen sich über den Bordstein. Die klackenden Schritte des Paares mischten sich wie Kanonenschüsse unter das behutsam wuselnde Orchester der Insekten und nachaktiven Tierchen in den Vorgärten.
„Sie tut mir so leid", rief Nea und klammerte sich an Davids starken Oberkörper: „Dass es genau sie erwischt hat. Es ist einfach so unfair."
„Aber es ist geschehen", brummte David und starrte stur geradeaus.
„Was willst du damit sagen?"
„Was geschehen ist, ist geschehen", murmelte er: „Wir und vor allem sie müssen nun lernen, damit zu leben. Anders geht´s nicht."
„Shit", flüsterte Nea und rieb sich mit der rechten Hand die müden Augen: „Ich weiß."
Im nächsten Moment bugsierte David sie bereits nach links, wo sie sich direkt vor dem kleinen Gatter auf das Grundstück der Karlssons wiederfand. Die Wiese dahinter war wie immer ordentlich gemäht und die Hecke, die das kleine Grundstück umfasste, vorbildlich gestutzt. Man konnte klar erkennen, dass der Garten von ihren Eltern gepflegt wurde und nicht von Nea.
Betrübt griff sie über das niedrige Gatter und öffnete den Verschluss. Anschließend trat sie auf den steinernen Pfad, der hinauf zur Haustür führte, zog das Gatter hinter sich wieder zu und machte bereits Anstalten loszulaufen. Dann drehte sie sich allerdings doch noch einmal um. Ihre Hand fuhr an Davids massiven Brustkorb entlang, wo sie seinen voluminösen Atem spüren konnte.
„Warum kommst du nicht noch mit rein", flüsterte sie verführerisch: „Ich könnte etwas tatkräftige Aufmunterung vertragen."
„Ein andermal vielleicht", brummte David und drückte ihre Hand von sich weg, behutsam, aber bestimmt. Dann lehnte er sich über das Gatter und gab ihr einen schnellen Kuss, bevor er sich umdrehte und mit eiligen Schritten in der Nacht verschwand. Nea schaute ihm noch lange nach. Schließlich seufzte sie, machte selbst kehrt und ging auf die Haustür zu.
Feng öffnete die Tür zu ihrer kleinen Wohnung. Müde streifte sie sich ihre Schuhe von den Füßen, warf sie achtlos neben die Eingangstür und ging direkt ins Badezimmer. Die kleine, viereckige Kammer bot gerade genug Platz, um sich einmal um die eigene Achse drehen zu können, doch es genügte ihr vollkommen.
Kurz betrachtete sie ihr eigenes Spiegelbild. Dann griff sie nach der Zahnbürste, die in einem grünen Plastikbecher auf dem Waschbecken stand und begann sich die Zähne zu putzen, während sie über den Abend grübelte.
Sie hatte bereits erwartet Meg bei düsterer Laune vorzufinden und für die nächsten Wochen – vielleicht sogar Monate – würde sich das mit Sicherheit nicht ändern. Doch ihr Ausbruch bereitete Feng Sorgen. Es war so unerwartet geschehen und sie hätte nie gedacht, dass Meg jemals auf diese Weise mit Nea reden würde. Sie hatte sie angeschrien.
Immerhin hatte sie sich im nächsten Augenblick bereits entschuldigt. Das zeigte wohl, dass ihr Kopf vollgestopft war mit Gedanken und Ängsten, die sich kaum kontrollieren ließen und die wohl noch öfter einfach so aus ihr hervorbrechen würden.
Nachdenklich legte Feng die Zahnbürste zur Seite, spülte sich den Mund aus und wusch sich das Gesicht. Dann ging sie zurück in den Flur. Zu ihrer linken lag nun der kleine Raum, der gleichzeitig als Küche und Wohnzimmer fungierte. Feng folgte jedoch dem Gang und trat in ihr Schlafzimmer, den dritten und letzten Raum der Wohnung.
Es handelte sich um ein kleines Zimmer, mit einem Fenster an der Nordwand, einem knorrigen Kleiderschrank an der Südwand und einen unter einem Stockbett stehendem Schreibtisch an der Ostwand. Eigentlich mochte sie ja keine Stockbetten, aber in ihrer gegenwärtigen Lage war das Apartment die naheliegende Wahl gewesen. Und wenn sie so darüber nachdachte, fühlte sie sich hier ohnehin recht wohl.
Erschöpft zog sich Feng ihren violetten Wollpullover aus und warf ihn auf einen alten Bürosessel, der bereits als Abstellplatz für ein Gewirr aus Kabeln missbraucht wurde. Ihr weißes T-Shirt folgte sogleich und kurz darauf fanden sich auch Socken, Hose und BH auf dem Stuhl wieder. Schlussendlich schlüpfte sie in ihren rosaroten Pyjama.
Feng warf dem Haufen noch einen letzten Blick zu und dachte kurz darüber nach, die Klamotten doch noch in den Kleiderschrank zu räumen. Wie immer siegte ihre Müdigkeit. Gähnend kletterte sie auf das Stockbett hinauf. Mit der linken Hand löste sie ihr Haarband, das ihre Frisur in einem festen Knoten gehalten hatte, und warf es ebenfalls hinunter auf den Bürosessel, den sie jedoch verfehlte.
Dunkle Strähnen fielen ihr auf die Schultern, bevor Feng sich in ihr Kissen warf und in ihr blaues Federbett einwickelte. Sie tastete nach dem Lichtschalter. Dann umfing sie die Dunkelheit.
Fengs Augen schossen hinauf zur Decke, die weniger als eineinhalb Meter entfernt und in der Finsternis kaum noch zu sehen war. In ihren Gedanken hörte sie immer wieder Nea, die sie über ihren neuen Verehrer ausfragte und auch wenn sie es anders vorgegeben hatte, so wusste sie genau, wen Dwight gemeint hatte.
Sie hatten sich ein paar Mal in der Mittagspause getroffen, hatten gemeinsam etwas zu essen geholt. Er war ein recht netter Kerl. Feng schätzte ihn als Arbeitskollegen, aber das war auch alles. Offensichtlich sah es von außen nun so aus, als ob er mehr von ihr wollte und wahrscheinlich war das sogar der Fall. Aber Feng war sich vollkommen klar darüber, dass sie sich nicht für ihn interessierte.
Feng wusste, was sie wollte und was nicht. Sie wusste, wen sie wollte und wen nicht. Und sie wusste auch, dass es wohl niemals dazu kommen würde. Vor allem, weil niemand von ihren geheimen Wünschen erfahren durfte, weder ihre Eltern und schon gar nicht ihre Freunde.
Mit Unmut im Magen drehte sie sich zur Seite und schloss die Augen.
