Seine Anfänge

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Das Märchen vom Zaubererkönig (1982)

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Es war einmal ein kleiner, schmächtiger, genialer Junge. Er hieß Jimmy, war irischer Abstammung mit schwarzem Haar und schwarzen Augen. Jimmy war immer sehr einsam, denn alle anderen Kinder waren so viel dümmer als er. Sie waren sogar alle so dumm, dass keiner von ihnen begriff, dass er klüger war. Gleich am ersten Tag in der Schule fragte die Lehrerin alle Kinder, was sie einmal werden wollten, wenn sie erst groß wären. Die Mädchen wollten Prinzessinnen werden, Popstars oder Filmschauspielerinnen, die Jungen gefeierte Fußballstars oder andere Spitzensportler, Polizisten, Feuerwehrleute oder James Bond. Als Jimmy an die Reihe kam, sagte er: Ich will der größte Zauberer der Welt werden und dann mache ich mich zum König über die ganze Erde! Da wurde er von der ganzen Klasse ausgelacht und auch die Lehrerin kam nicht dagegen an.

So kam es, dass sich Jimmy vom ersten Tag an zurück zog und heimlich Pläne schmiedete, wie er seinen Traum in die Tat umsetzten könnte.
Die anderen Kinder waren grässlich – die Mädchen waren sowieso schrecklich, aber die Jungen waren nicht viel besser. Sie verstanden nicht, warum er sich lieber Geschichten ausdachte, als Fußball zu spielen. Als er einmal in einem Aufsatz eines dieser Märchen aufschrieb – denn Märchen waren gerade das Thema – bestellte die Lehrerin voller Entsetzen seine Mutter zu sich, denn das kleine Genie hatte den Bösewicht des Märchens, einen finsteren Zauberer, der sein eigenes Herz zu Stein verwandelt hatte, nicht nur mit den Morden an der Prinzessin, ihren Eltern und den sieben guten Feen davon kommen lassen – nein, der Zauberer hatte obendrein auch noch den tapferen, schönen Prinzen verhext und ihn geheiratet!

Doch die Mutter las sich nur die Aufgabenstellung für die Klassenarbeit durch und erklärte der geschockten Pädagogin: "Sie werden doch wohl zugeben müssen, dass er nicht das Thema verfehlt hat. Er hat alle Ihre Vorgaben berücksichtigt! – Also, was haben Sie für ein Problem?"
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Kriegsspiele (1983)

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Jimmys Vater war IT-Spezialist und wie sich bald herausgestellt hatte, sollte das Jahr 1976 nicht nur als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem Jim geboren worden war, sondern auch der Personal Computer! Und so kam es, dass der kleine Jim, wie kaum ein anderes Kind seiner Zeit, schon begann, einen Apple I zu nutzen, noch ehe er in die Schule kam!

Als Jim acht Jahre alt war, brachte ihm sein Vater ein Buch mit. Zuerst war Jim enttäuscht, dass es sich nicht um ein Computerspiel handelte, wie es meistens der Fall war. Doch sein Vater erklärte ihm, dass es das Buch zu einem US-amerikanischen Film namens Wargames sei, den er kürzlich im Kino gesehen habe. Leider sei der Film erst ab zwölf freigegeben. Es ging um einen Teenager namens David, der gerne Computerspiele spielt und sich daran macht, sich über die Telefonleitungen in den Computer seines Lieblingsspieleherstellers zu hacken. Doch stattdessen landet er in dem Zentralrechner, der das US-amerikanische Nuklearwaffenarsenal steuert. Dort findet er viele Spiele wie Schach und Poker - weshalb es nicht weiter verwunderlich ist, dass er seinen Irrtum nicht bemerkt – doch auch etwas, das nach einem supercoolen, realistischen Weltkriegsspiel aussieht. Was David nicht ahnt: Es ist kein Spiel – und beinahe löst er den Dritten Weltkrieg aus!

Jimmy war fasziniert! Doch er hatte inzwischen begriffen, dass er das nicht zeigen durfte, wenn es um Dinge ging, die Menschen verletzen oder gar töten können!

"Paps!" fragte er und machte dabei ganz große Augen. "Denkst du denn, das geht? Oder ist das Science Fiction?"
"Doch, Jimmyboy, so etwas ist möglich! Und noch ehe du erwachsen bist, wird die Technik in dieser Hinsicht erstaunliche Fortschritte machen: Das ist fantastisch – aber wie du siehst, kann es auch ganz schreckliche Folgen haben!"

Nach Grimms Märchen blieb Wargames für lange Zeit Jims Lieblingsbuch.
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I've got the Powers! (1989)

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"Irgendeinen Vereinssport musst du aber treiben, mein Junge!" mahnte Jims Vater aber eines Tages – dabei war dieser doch selbst keine Sportskanone, wie das bei IT-Spezialisten ja meistens der Fall ist, doch sein Sohn war schmächtig und kränkelte oft, so dass es ihm nun trotzdem wichtig erschien.
Der Junge brauchte keine Sekunde, um sich zu entscheiden: Schwimmen!
Allerdings war er inzwischen dreizehn und schon so clever, niemandem zu verraten, weshalb er diesen Sport wählte, denn eigentlich hasste er das beißende Chlor in seinen Augen und Schleimhäuten und er fürchtete sich vor den Größeren und Stärkeren, die ihn unter Wasser drücken würden – und doch entschied er sich fürs Schwimmen, denn nichts liebte er mehr, als die fast nackten Körper schlanker, muskulöser Jungen zu beobachten, die durch das Wasser glitten – oder noch besser: Die wieder aus dem Becken stiegen und auf deren glänzender Haut Tropfen wie Perlen schimmerten.
Eines Tages würde er den einen finden, den er als Prinzgemahl heimführen würde in sein Königreich...
Es dauerte nicht allzu lange, da sah er auf einer Wettkampfveranstaltung einen Jungen aus einer anderen Schule an den Start gehen. Dieser war erst elf, aber er wirkte viel älter: Groß und durchtrainiert und seine wunderbaren Muskeln saßen genau an den richtigen Stellen. Es war eine Lust, ihm zuzusehen und Jimmy verliebte sich bis über beide Ohren in den herrlichen Körper des fremden, jungen Schwimmers.
Dieser gewann natürlich den Wettkampf, wie der strahlendste Ritter das Turnier gewonnen und alle Konkurrenten aus dem Sattel gehoben hätte – und als sei er noch nicht perfekt genug, trug er auch noch einen Namen, der zu ihm passte: Carl Powers!
Jim ging nach der Siegerehrung zu ihm, um ihm zu gratulieren und mit ihm Freundschaft zu schließen – aber da kam er schön an: Carl musterte ihn verblüfft – und dann lachte er ihn aus und begann mit seinen Kumpels über das schmächtige, fremde Kerlchen zu lästern. Obendrein offenbarte Carl dabei noch, wie unerträglich dumm er war!
Da verwandelte sich Jims glühende Liebe in Hass und sein Herz wurde schwarz wie verloschene Kohle.
Von diesem Tag an sann er auf Rache!
Zuerst brachte er alles über Carl in Erfahrung, dann las er in Windeseile ein paar Bücher und beim nächsten Wettkampf ertrank Carl Powers, der Schwimmwunderknabe und niemand konnte sich erklären, wie dieses Unglück hatte geschehen können.
Doch Jimmy, das kleine Genie fühlte sich so glücklich und so stark wie nie zuvor in seinem jungen Leben. Er begriff, dass er und nur er ganz besondere Power hatte. Und eine seiner mächtigsten Stärken bestand darin, dass niemand ahnte, was in ihm steckte!
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Die Kunde vom klugen Prinzen

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Die Polizei kam, einige der jungen Schwimmer und deren Mütter weinten, Eltern schimpften, Trainer verteidigten sich, die beiden Bademeister waren verstört, weil sie Carl nicht hatten retten können – es war ein einziges Chaos! Und so war es für Jimmy nicht schwer, seine Spuren zu verwischen: Er stahl Carls Sneakers, seine Socken und auch die Salbe, die er vergiftet hatte. Er würde sich nicht erwischen lassen – nicht so wie die dumme Stiefmutter von Schneewittchen!
Jimmy hatte bei alledem einen Heidenspaß! Er belauschte die ratlosen Polizisten und weidete sich am Entsetzen und an der Angst seiner Mitmenschen. All das hatte er zustande gebracht, er allein mit der Macht seines Intellekts!
In alldem Durcheinander fand ihn sein Vater und Jimmy sah ihn mit einem Ausdruck tiefster Verzweiflung im Blick an, ehe er sich schluchzend in seine Arme flüchtete: "Bitte, Paps! Ich hab' Angst! Ich will nicht mehr schwimmen!" flehte er. "Computer, Schach, Theater-AG - alles! Aber nichts mehr mit Wasser! Bitte! Bitte...!"

Computer und Schach? Das hörte der Vater nur zu gerne! Und Jimmy musste nie wieder schwimmen.
Einige Tage später erzählte der Vater, während er die Zeitung las, ein Freund von ihm habe gehört, dass ein Zeitungsleser, der den Fall Carl Powers verfolgt hatte, sich bei der Polizei gemeldet habe, weil er es seltsam fand, dass bei Carls Sachen keine Schuhe gewesen gefunden worden seien. Man war der Sache zuerst nachgegangen – doch als sich herausgestellt hatte, dass der Zeuge erst acht Jahre war, habe man diese Spur nicht weiter verfolgt.
"Wie dumm!" sagte Jims Vater. "Der Bengel hat bestimmt recht! Er hat sicher mehr Grips im kleinen Finger als ganz Scotland Yard zusammen!"
Da horchte Jimmy auf und sein kleines, erkaltetes Herz begann wie wild in seiner schmalen Brust zu schlagen.
'Er ist es...!' jauchzte es. 'Ihn musst du finden!'
'Schweig still!' stauchte Jim im Stillen sein Herz zusammen: 'Finden muss ich ihn wohl, doch zu welchem Zweck muss sich erst noch zeigen!'
Er überlegte, wie er es anstellen könnte, aber das war schwieriger als gedacht! Alles, was er herausfinden konnte, als er sich in die Computer der Polizei und der Zeitung hackte, war, dass der Junge Sherlock Holmes hieß. Doch wo der Gesuchte lebte, auf welche Schule er ging, oder wie er aussah, das blieb Jimmy verborgen, so sehr er auch suchte. Deshalb wurde er sehr traurig und kränkelte immer mehr.
Seine Eltern hatten keine Ahnung, was ihm fehlte. Und obwohl er eigentlich schon dem Alter für Märchen entwachsen war, schenkte ihm seine Mutter eine Gesamtausgabe der Märchen des Dänen Hans Christian Andersen.
Auch sein Vater versuchte ihn aufzumuntern. Er brachte ihm Computerspiele mit und er erzählte von seiner Arbeit und das machte Jim wieder Hoffnung, denn im selben Jahr, als Carl Powers starb, wurde etwas entwickelt, das die Welt revolutionieren sollte: Das Internet! Noch diente es zunächst wissenschaftlichen und bald darauf natürlich auch militärischen Zwecken, doch Jims Vater erklärte, es werde nicht mehr lange dauern, bis jeder Mensch, der einen Computer und einen Telefonanschluss besaß, es ganz selbstverständlich nutzen könne, um zu kommunizieren, sich alles, was man nur kaufen kann nach Hause zu bestellen, und seine Meinung kund zu tun. Und wenn es erst so weit wäre, würde man alles und jeden über das Internet aufspüren können.
Bis zur Errichtung des worldwide Web dauerte es zwar noch ein wenig, aber Jim war dessen gewiss: Eines Tages – in ein paar Jahren, da werden alle halbwegs, intelligenten Menschen in diesem Netz sein und es zu allem möglichen nutzen...
Und dann – dann würde er ihn finden!

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Kopfkino (1990-1996)

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Jahre gingen ins Land. Aus Jimmy wurde Jim, wurde James. Er trat in die Fußstapfen seines Vaters und vor allem das Internet wurde mehr und mehr zu seinem Element. Er liebte es mindestens ebenso sehr, wie Carl Powers das Wasser geliebt hatte, ja, er war darin wie ein Fisch im Wasser – aber noch mehr: Er fand darin alles, was er suchte: Gifte, Wunderwaffen, unermessliche Schätze und Menschen mit besonderen Fähigkeiten, Menschen mit ungestillten Sehnsüchten, Menschen voller Gier, voller Zorn, Menschen mit finsteren kalten Herzen, wie dem Seinen.
Nur ihn.
Ihn fand er nicht.

James beschäftigte seinen rastlosen Geist und sein leeres, krankes Herz mit allem Möglichen. Inzwischen bedauerte er es, an seiner Schule nicht die Theater-AG besucht zu haben, aber er hatte gespürt, dass sein Vater das befremdlich gefunden hätte. Später hatte er einfach zu viel zu tun, um in einer der studentischen Laienspielgruppen mitzuwirken.
Trotzdem las er viel, vor allem Theaterstücke, die er dann in seinem Kopf in Szene setzte. Ah, ja die shakespearschen Bösewichte...!
Vor allem den Jago aus Othello schätzte er: Alle seine Mitmenschen halten ihn für einen ehrlichen, freundlichen und loyalen Kerl, so dass ihm nur durch Lügen, Intrigen, absichtlich falsch interpretierte Beobachtungen und nicht zuletzt das Platzieren eines wichtigen Indizes, ein fast perfektes Verbrechen gelingt. Doch seine Frau, die seine Ränke aber erst zu spät durchschaut, verrät ihn zuletzt.
Vorsicht also mit irgendwelchen Anhängseln, die man in seine Pläne einweihen muss...!

Auch die Autoren seiner irischen Heimat studierte Jim.

Zu Oscar Wilde hatte er ein ganz merkwürdiges, zwiespältiges Verhältnis – natürlich nicht zuletzt deshalb, weil dieser schwul gewesen war wie er selbst, und dabei zumindest als Dichter brillant. Es gab so herrlich geschliffene zynische Bemerkungen in seinen Komödien! Doch Wilde hatte auch unklug und stolz seinen eigenen Untergang heraufbeschworen. Etwas, das ihm niemals passieren würde!

Ausgerechnet Wildes ausgelassenste Komödie machte Jim ein wenig nachdenklich: The Importance of being Earnest. Denn einer der beiden jungen Gentlemen, die im Zentrum der Geschehnisse stehen, hat sich eine zweite Identität zugelegt, unter deren Deckmantel er gerne mal über die Stränge schlägt, sein Freund hat eine ähnliche Masche, er hat einen kranken Freund erfunden, den er immer dann "besucht", wenn ihm in seinem richtigen Leben sozusagen die Decke auf den Kopf fällt.

Eine zweite Identität..., überlegte Jim. Das wäre wirklich praktisch. Ich werde den Gedanken im Hinterkopf behalten, bis ich sicher bin, wie ich sie am besten umsetze. Ich sollte das nicht überstürzen...
...und ich werde mich ganz sicher nicht Earnest nennen! Dann schon eher Serenus oder Hilarius!
Sly? Natürlich würde es passen, aber das will ich ja niemandem auf die Nase binden.
Innocent? Also bitte, ich bin ja kein Papst, aber das wäre ja schon köstlich!
Irenaeus?
Nein, alles zu exotisch... Es muss normal klingen. Unverdächtig...

Kevin? Ein guter irischer Name! Kevin, der Schöne, der Angenehme, der Anmutige, der Liebenswürdige...

Ja.
Vielleicht Kevin.

Damit legte er diesen Gedanken erstmal auf Eis.

Wildes Märchen waren für Jim eine herbe Enttäuschung! Sie troffen doch nur so von selbstloser, aufopfernder Liebe! Zumindest die, die er gelesen hatte, denn irgendwann hatte er vor Ekel das Buch ins Kaminfeuer geworfen. Eine Nachtigall, die sich ihr kleines Herz mit einem Dorn durchbohrt, um eine weiße Rose rot zu färben, damit ein Jüngling sie seiner Angebeteten schenken kann, denn sie hat ihm in Aussicht gestellt,dass sie dann mit ihm tanzen werde. Aber die alberne Gans erhört ihn nicht mal! Die Statue des glücklichen Prinzen und seines Freundes, einer Schwalbe, die sich beide zugrunde richten, um Gutes zu tun! Der selbstsüchtige Riese, der sich erweichen lässt, seinen wunderbaren Garten einer Meute tobender Kinder zu überlassen, der junge König, dem drei Träume die Augen darüber öffnen, dass sein Reichtum so viel Leid verursacht – wie unerträglich fromm! Und natürlich das Sternenkind...
Alles ganz furchtbar!

Und sein einziger Roman?
Dorian Gray?
Ah, Dorian! Du hattest alles! Du hattest ewige Jugend und ein kaltes, unerschütterliches Herz!
Wie konntest du diese unermesslichen Schätze verwerfen?
Ich wüsste wohl, was ich an seiner Stelle getan hätte! dachte Jim so manches Mal.

Auch einige der Aphorismen schätzte er sehr. Die Unmoralischen natürlich.
Sein Lieblingsspruch war und blieb: Sich selbst zu lieben, ist der Beginn einer lebenslangen Romanze.
Ein gutes Motto, aber es vermochte Jim nicht darüber hinwegzutäuschen, dass er sich nach dem Einen sehnte, der für ihn bestimmt war.

Und dann gab es ein Stück von Oscar Wilde, zu dem verband ihn eine ganz eigenartige Beziehung: Salome!
Er hatte überhaupt etwas übrig für so manche gewalttätigen Geschichten aus der Bibel und das ergab sich folgendermaßen: Jims Patenonkel war Priester. (Und was sonst hätte er werden sollen, war er doch der Trottel in der Familie!) Er hatte von Anfang an versucht, seine Aufgabe gewissenhaft zu erfüllen. Doch er merkte sehr wohl, dass er den kleinen Jimmy mit den Geschichten vom lieben Herrn Jesus nur langweilte. Um ihn dennoch irgendwie für die Bibel zu begeistern, war er dazu übergegangen, die blutrünstigsten Geschichten des Alten Testaments zu bemühen. Später weckten dann tatsächlich auch neutestamentliche Erzählungen wie der Versuchung Christi oder die Passion Jims Interesse. Doch was den Jungen daran so faszinierte blieb dem frommen Tölpel verborgen.

Oscar Wildes poetische Sprache – angelehnt an den fremdartigen Stil des Hohenliedes – machten die kleine Geschichte über das Ende des Täufers für Jim zu einem bezaubernden und mitreißenden Meisterwerk: Die schöne Prinzessin, die den Propheten Johannes - hier historisch korrekt Jochanaan genannt – aus der Zisterne, in der er gefangen gehalten wird, schreckliche Gottesurteile über ihren Stiefvater und ihre Mutter aussprechen hört – ist gleich von seiner seltsamen Stimme fasziniert.

(Einmal hat James auch die Opernfassung von Richard Strauss erlebt, und den Propheten singt ein tiefer Bariton.)

Salome bezirzt den jungen Hauptmann, der in sie verliebt ist, denn sie möchte, dass Jochanaan aus der Zisterne heraufgelassen wird, damit sie mit ihm sprechen kann. Nach kurzer anfänglicher Irritation ist sie rasch verliebt. Sie baggert ihn an wie eine unverfrorene, nymphomanische Emanze – obgleich noch Jungfrau schon völlig verdorben durch ihre ehebrecherische Mutter: Sie preist seinen Leib, der weiß ist, wie die Lilien auf dem Felde – doch Jochanaan verweigert sich ihr natürlich und so macht sie all ihre Komplimente wieder zunichte, nennt ihn ein übertünchtes Grab voll widerlicher Dinge, nur um sich gleich aufs Neue zu verlieben: In seine schwarzen Locken, doch sie bekommt wieder eine Abfuhr, worauf eine neue Hasstirade folgt. Schließlich begehrt sie, seinen roten Mund zu küssen... Doch der Prophet bleibt ungerührt, er predigt ihr, sie solle Jesus suchen und ihn um Vergebung für ihre Sünden bitten und steigt schließlich freiwillig wieder in sein Gefängnis hinab.
Der Rest ist Geschichte: Doch bei Wilde ist es Salome selbst, nicht ihre Mutter, die den Kopf des Propheten auf einem Silbertablett fordert – albernes Küken! Ihr Stiefvater hat ihr solche Schätze angeboten! Sogar sein halbes Königreich und schließlich sogar, den Thron mit ihr zu teilen! Doch sie hat stur ihre Rache verfolgt, was ihr zuletzt zum Verderben wurde, denn nachdem sie den abgeschlagenen Kopf liebkost hat, lässt der König, ihr Stiefvater, sie töten!
Doch Jim war auch fasziniert von der morbiden, selbstzerstörerischen Konsequenz dieser Figur. Sie wollte diesen Kerl besitzen. Und wenn das nicht ging: Kopf ab!

Natürlich hatte Jim eine Ausgabe mit den Illustrationen von Aubrey Beardsley. Dieser Jugendstilkünstler hatte sich den Propheten bartlos vorgestellt, was unsinnig aber Jim sehr sympathisch war: Ein hagerer, bleicher Jüngling mit sinnlichen Lippen, ein wenig kantigen aber doch auch femininen Gesichtszügen und schwarzen Locken – aber mit einer energiegeladenen Donnerstimme. Schrecklich und hinreißend. Zart-androgyn und doch Ehrfurcht gebietend...

Eine ganz eigenwillige, aber auch reizvolle Mischung...

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Die Queste nach dem klugen Prinzen (1996-2001)

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Jim knüpfte viele Kontakte, spann langsam und beharrlich sein Netz. Behutsam und heimlich prüfte er all die Verbindungen, testete, welche Reaktionen ein Zug dieser oder jener Stärke hervorriefe, hackte sich in Konten, verkaufte Geheimnisse.

Kurz: Auf eine moderne Art und Weise wurde er zu dem Zaubererkönig, der er von Anbeginn hatte sein wollen.

Und nach wie vor war er auf der Suche nach ihm: Sherlock Holmes.
Seine Sehnsucht wuchs.
Manchmal verlor er sich in Tagträume, stellte sich vor, wie er ihn dereinst finden würde, rätselte, wie er aussehen mochte, bangte, ob seine romantische Hoffnung enttäuscht werden würde...
Immer und immer wieder suchte er das Internet nach diesem einen Namen ab – und endlich, eines Tages fand er heraus, dass Sherlock Holmes in Camford Chemie studierte, dass er focht*, Theater spielte und gerne tanzte!
Jim war ganz aus dem Häuschen!
Er hatte ihn gefunden! Noch vor seinem 25. Geburtstag!

Die ganze westliche Welt war an diesem Tag in Angst und Schrecken und starrte voller Entsetzen nach Amerika, wo Terroristen mit vier entführten großen Passagierflugzeugen Anschläge verübt hatten, die zwei in New York hatten dabei den mit Abstand größten Schaden angerichtet, als sie in die Twin Towers des World Trade Centers gekracht waren, doch für Jim war der 11. September 2001 der Tag, an dem er Sherlock Holmes aufgespürt hatte!

Jim war trunken vor Glück! Er durchsuchte die Webseiten der Universität und fand Fotos und Videoclips der letzten Theateraufführungen.
Nun würde er ihn endlich, endlich sehen! Vor Aufregung vergaß er fast zu atmen!
Maßlos erstaunt und verwirrt betrachtete er den so lange Ersehnten: Das war er! Einmal lässig gelangweilt, dann überschäumend vor jugendlichem Eifer, noch fast schlaksig wie ein Teenager, zugleich elegant und kraftvoll wie ein Balletttänzer.
Schon ein Schwan - doch bisweilen noch unsicher, weil er immer wieder daran erinnert wurde, dass er dereinst ein hässliches Entlein gewesen war – und es bisweilen noch zu sein glaubte: Getreten, verletzlich - so wie Jim selbst es in seiner Kindheit auch gewesen war.

Unersättlich verschlang er alles Material, das er finden konnte!

Sherlock Holmes!

Seine Augen waren elektrisierend wie die einer Siamkatze und die geschwungenen Lippen standen in einem seltsamen Kontrast zu diesem energischen Unterkiefer. Ganz besonders hatten es Jim aber diese Wangenknochen angetan...
Verblüfft schnappte Jim nach Luft, denn plötzlich begriff er, woher dieses Déjà-vu-Gefühl kam: Das war Jochanaan...! SEIN Jochanaan! – gut mit Ausnahme der Augen, die waren noch tausendmal besser! Aber sonst war alles da – bis hin zu dieser Stimme, die ihn allein ihn schon in Erregung versetzte!
Überwältigt streckte Jim sich auf seinem Bett aus: Der Prinzgemahl war gefunden!

Du bist es! dachte Jim andächtig: Du bist für mich gemacht! So wie Eva für Adam erschaffen wurde! Ihn hat Gott zuerst gemacht, denn er ist die Hauptsache, dann die Tiere, die ihm dienlich sein sollen, denn nichts anderes ist gemeint, wenn es heißt, dass Adam ihnen ihre Namen geben durfte. Aber Adam war einsam, denn alle anderen Kreaturen waren ja so dumm und gewöhnlich! Also erschuf Gott einen zweiten Menschen aus der einen Seite des ersten! Und nun kann ich sagen: Das ist Geist von meinem Geist und Fleisch von meinem Fleisch!

Du, Sherlock, bist wahrhaftig mein Gefährte!

...und solltest du dich sträuben, werden ich dich zähmen wie Petruchio wie widerspenstige Katherina!**

Ich werde ich dich nach meinem Bild formen, so wie Gott Adam erschaffen hat!

Du gehörst mir!

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(Gerne würde ich einige Links zu Szenenfotos und anderem einfügen, um manche Details zu untermauern oder Zitate zu belegen. Wer weiß, wie ich das tun kann, möge sich bitte melden!)

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Schneewittchenapfel (Anfang 2002)

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Doch als Jim die Uni gewechselt hatte und sich in Camford umsah, war Sherlock Holmes verschwunden! Ein Wirtschaftswissenschaftler namens Sebastian Wilkes wusste zu berichten, dass er von einem auf den anderen Tag sein Studium hingeschmissen habe. Und weil er so ein Einzelgänger gewesen war, konnte niemand Jim sagen, warum er das getan hatte und was aus ihm geworden war!

Jim war am Boden zerstört! Nun würde er wieder bei null anfangen müssen!

Ich muss hier weg! war alles, was er in diesem Moment denken konnte.

Also heuerte er ein Taxi an, um sich zurück nach London fahren zu lassen. Als er durch die vertrauten Straßen kutschiert wurde und an einigen der vielen Museen und Bildergalerien vorbei kam, fiel ihm seit vielen Jahren einmal wieder sein schon lang verstorbener Onkel Richard ein. Er war ein Kunstliebhaber gewesen und bereits sein Großvater hatte Bilder gesammelt. Ölgemälde, Aquarelle, Gouachen... Immer wenn der kleine Jimmy von seinem Vater oder von beiden Eltern auf einen Besuch zu diesem Onkel mitgenommen wurde, langweilte er sich entsetzlich, denn der wunderliche Kauz hatte keinen Computer, keinen Fernseher – nicht mal ein Radio oder Hörspiele! Er hasste die moderne Technik, deshalb durfte Jimmy auch nichts Derartiges mitbringen, um sich zu beschäftigen.
Aber im Frühjahr 1983 musste Jimmys Mum ins Krankenhaus und bis sie wieder nachhause käme, sollte der Junge unter der Woche bei Onkel Richard wohnen, denn dieser lebte recht nahe bei der Schule seines Neffen.

"Was?! Zu diesem Spinner? Der ist doch voll langweilig!" hatte Jimmy geschimpft.
"James! So sprichst du nicht über meinen großen Bruder!"

Jimmy war ziemlich verdattert gewesen, denn dass sein Dad mal seine Stimme erhob, hatte wirklich Seltenheitswert.

"Und langweilig ist er ganz bestimmt nicht. Du wirst schon sehen!"

Was soll ich da wohl sehen? hatte sich Jimmy verstimmt gefragt.

Am darauffolgenden Sonntagabend war es so weit:
Missmutig fügte er sich und stellte sich auf eine schwere Leidenszeit ein.

Doch dann passierte etwas Seltsames und Wunderbares:
Der Onkel hatte bisher dem kleinen Kerl keine allzu große Beachtung geschenkt, aber in erster Linie, weil er glaubte, er könne mit kleinen Kindern nun mal nichts anfangen. Aber nun war sein Neffe ja alleine bei ihm und er schien so furchtbar traurig zu sein. Aber das war ja nur zu verständlich, wo doch seine Mutter im Krankenhaus war!

Es wäre gut, ihn aufzumuntern, dachte sich Richard.

Doch es goss draußen in Strömen und Brettspiele oder Karten besaß er auch keine.

"Komm, Jimmy, ich zeig dir meine Bilder...", schlug er vor.
"Ich kenn' deine...Bilder doch schon", brummte der Junge. (Beinahe hätte er 'doofen' gesagt!)
"Hast du sie dir wirklich schon richtig angesehen? Schau mal. Was ist das?"
"Na, ein Weg. Ein Waldweg!" jaulte Jim gelangweilt.
"Genau. Es ist eines meiner Lieblingsbilder. Da scheint immer die Sonne und es ist immer Sommer. Die Blumen verwelken nie. Ich male mir gerne aus, wie – "

„Aber, Onkel Richard, da ist doch gar nichts zum Ausmalen! Das ist doch schon alles bunt! Außerdem ist Ausmalen was für Babies!" beschwerte sich Jimmy naseweis.

Richard lachte: „Das ist ja auch ein Ausmalen für größere Kinder und für Erwachsene mit Fantasie. Du malst dir das nur in deinem Kopf aus, da, wo's keiner sieht außer dir", erklärte er. „Schau, ich frage mich dann gerne, wo der Wanderer, der diesen Blick genießen durfte, wohl hergekommen ist. Ich meine jetzt nicht den Maler, sondern ich denke mir einfach etwas Eigenes aus. Also, wo kommt er her? Aus einem ärmlichen, düsteren Zuhause vielleicht? Wo er geschlagen wurde und hart arbeiten musste? Dann ist er froh, da endlich heraus zu kommen und in die weite Welt hinaus ziehen zu können.
Oder wurde er aus seiner geliebten Heimat vertrieben, hat schon viel Leid erfahren und schöpft nun zum ersten Mal wieder Hoffnung, dass die Zukunft vielleicht doch schön werden könnte?
Vielleicht ist es aber auch ein Jäger, der hinter einem Hirsch her ist, oder ein Ritter, der sich bald in einen finsteren Wald begeben wird, um dort einen bösen Drachen zu erschlagen?
Was meinst du?"

Jimmy hatte mit wachsendem Erstaunen zugehört.
Geschichten? Geschichten erfinden?
Aber genau das hatte ihn doch schon immer gereizt!
...zu diesen Bildern!?
Neugierig sah er sich um.

"Vielleicht will der Ritter zurück zu seiner Burg, nachdem er den Drachen getötet hat. Er will zuhause erzählen, wie tapfer er war und wie groß und stark der Drache gewesen ist und wie er ihn beinahe mit seinem feurigen Atem verbrannt hätte! ...aber als er ankommt, ist die Burg kaputt und alle sind weg!" und er zeigte auf ein anderes Bild, auf dem nur noch eine fast schwarze, halb verfallene, traurige Mauer mit einem Fenster darin in einen rötlichen Abendhimmel ragte.

"Das wäre aber eine traurige Geschichte, mein Kleiner. Da wäre der Ritter wohl besser zuhause geblieben, was?"

„Vielleicht ist der Drache kurz vor dem Kampf mit dem Ritter zu dessen Burg geflogen und hat sie – wusch! – niedergebrannt", überlegte Jimmy.

„Ja, Feuer kann etwas Schreckliches sein..."

Aber Jimmy dachte: Ich wäre gerne so ein Drache, einer der fliegen und Feuer speien kann. Aber noch besser wäre es, ein Ungeheuer zu sein, das alle für einen Menschen halten. Für einen netten Menschen. Für den guten König vielleicht...

Doch dann erregte ein anderes Bild seine Aufmerksamkeit.

"Wieso malt jemand eine Schale mit Obst?" fragte Jimmy und verkniff sich, seine Meinung kund zu tun, denn das war doch wohl megalangweilig – oder nicht?

Der Onkel hielt sich zurück.

Mal abwarten, zu welchem Ergebnis der Kleine kommen wird, dachte er.

"Oh, da ist ja auch ein Totenschädel! Das ist ja cool! Mum würde so etwas sicher nicht auf dem Tisch dulden!
Und wer war das?"

"Wer – ?!" schnappte der Onkel entsetzt. "Oh, das...ist mehr symbolisch, weißt du?"

Was? Kein Mord? Wie unbeschreiblich fad! ging es Jim durch den Kopf, doch laut sagte er: "Ein Zeichen für irgendwas, klar!"

"Solche Bilder nennt man Stillleben. Das war halt mal sehr in Mode."

"Dieser rote Apfel ist bestimmt vergiftet!" vermutete Jimmy überzeugt und betrachtete die verlockende Frucht im Zentrum mit Kennerblick.

"Oh, das ist ja eine gemeine Idee!" lachte der Onkel anerkennend. „Wie bei Schneewittchen, was?"

„Na, klar! Deswegen ist doch der Apfel daneben schon ganz faul und schimmelig geworden!
Und jedes Kind weiß, dass ein Totenschädel für Gift steht!" erklärte er altklug.

"Interessant...!
Also, um genau zu sein, das Bild zählt zu einer bestimmten Sorte von Stillleben. Ein Vanitas-Stillleben. Vanitas heißt eigentlich Eitelkeit, aber in dem Zusammenhang bedeutet es, dass alles vergänglich und letzten Endes sinnlos ist und dass man deshalb seine Zeit für die Dinge nutzen sollte, die einem wichtig sind und die einem Freude bereiten.
Was siehst du noch?"

"Ein Messer! Es sieht aus, als wäre es sehr scharf!"

"Ja, gut. Man merkt gleich, dass du ein richtiger Junge bist. Aber ich gebe dir einen Tipp: Fang links an."

"Blumen?"

"Das ist ein Zweig mit Apfelblüten und da ist eine Biene – du hast doch schon gelernt, wie das ist mit Blumen und Bienen, nicht wahr?"

Jimmy nickte und der Onkel fuhr fort.

„Dann ist da ein noch grüner Apfel, dann kommt der rote."

"Weil der erste Apfel noch nicht reif ist, aber der zweite schon."

"Genau. ...dann im Vordergrund auf dem Teller ein angeschnittener roter Apfel mit einem Wurm darin. Früher hatte viel mehr Obst Würmer als heute, weißt du? Heute vergiftet man sie meistens. Dabei sind die Früchte mit den Würmern die gesünderen. Verrückt, nicht?"

Also ist der Apfel keine Mordwaffe? dachte Jimmy ein wenig enttäuscht, doch er sprach es nicht aus. Es war eine von jener Art seiner Ideen, mit der er anzuecken pflegte!
Stattdessen hörte er dem Onkel weiter zu.

„...und zuletzt ist da noch der Faule, Schimmlige, der immer noch in der Schale liegt, obwohl man ihn längst hätte essen oder wegwerfen sollen.
Hm..., aber weißt du was? Die Idee mit dem Gift hat auch etwas. Dieser braune Apfel ist eigentlich schon tot. Er steht für Alter und Krankheit..."

"Ach, und deshalb ist da auch ein Totenschädel in der Ecke!" rief Jimmy triumphierend. „Und das Messer! Das Messer ist bestimmt dazu da, dass man den Apfel genau dann isst, wenn er am besten schmeckt!"

„Ja! Genau! Das hast du sehr gut erkannt!" hatte Onkel Richard den kleinen Kunstkenner gelobt. Dass der Apfel auch für den Sündenfall und für Sex steht, wollte er ihm jetzt lieber noch nicht erklären...

In den paar Jahren, die Onkel Richard danach noch geblieben waren, hatte Jim ihn eigentlich ganz gerne besucht. Sie hatten sich Geschichten zu den Bildern ausgedacht und einander vorgetragen, aber seine Lieblingsversionen hatte Jim ihm nie wieder erzählt, denn diese Märchen von Tod und Zerstörung behielt er lieber für sich. Andere wollten sie ihm doch bloß madig machen. So wie den ungiftigen Apfel mit dem Wurm, der eigentlich so viel besser war!

"Halten Sie hier. Ich habe es mir anders überlegt", entschied Jim seufzend, entlohnte den Taxifahrer und stieg aus.

Ja, der rote Apfel...!
...und sein Schneewittchen-Prinz mit den opalblauen Augen...

Wohin mochte er wohl verschwunden sein?
Würde er ihn wieder finden, solange sie noch jung waren?
„Dein Mund ist so rot wie ein Granatapfel von einem Silbermesser zerteilt, wie Granatapfelblüten in den Gärten von Tyrus..." kam ihm eine Zeile aus Oscar Wildes Salomé in den Sinn.

In dieser melancholischen Stimmung betrat Jim das Museum, vor dem er ausgestiegen war.

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A Star Is Born
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In dieser melancholischen Stimmung betrat Jim das Museum, vor dem er ausgestiegen war. Er versuchte, sich aufzumuntern, indem er sich kleine Geschichten zu den Bildern ausdachte, so wie damals.
Bei den alten flämischen Meistern wurde er auf die Ansicht einer Hafenstadt aufmerksam. ‚Ansicht der Stadt Delft vom Hafen aus', las er. Auf den ersten Blick war es ein richtiges "Postkartenmotiv"... Eigentlich heute total langweilig, weil inzwischen praktisch jeder ein passables Foto einer Landschaft machen konnte, aber eben ein echter Vermeer. Warum hatte er seine Stadt gemalt? Weil er sie liebte? Weil der Dreißigjährige Krieg noch nicht lange zurück lag und er noch in Erinnerung hatte, wie verheerend das gewesen war? Oder war es einfach eine Auftragsarbeit gewesen?

Darüber wusste Jim nichts, aber das war ihm auch nicht wichtig. Ihn interessierte das inhaltliche Potential dieses Bildes: Der Betrachter war an Land und sah über das Hafenbecken hinweg auf die Stadt. Im Vordergrund war noch ein Stück Ufer zu sehen. Zwei Menschen standen da – nur zwei kleine dunkle Silhouetten. Sehnten sie sich danach, mit einem der großen Schiffe ihrem tristen Alltag zu entfliehen? Waren sie vielleicht ein heimliches Liebespaar? War einer von ihnen oder gar beide in einer lieblosen Ehe gefangen? Oder stand sonst etwas ihrem Glück im Wege?

(Ja, er war wirklich gerade sehr romantisch gestimmt!)

Ich hätte es anders gemalt, dachte Jim versonnen. Ganz vom Meer aus. So dass man sich fragen muss, ob der Betrachter am Bug des Schiffes steht und es gar nicht erwarten kann, nachhause zurück zu kehren, oder ganz im Gegenteil am Heck, in tiefem Trennungsschmerz, schon jetzt voller Heimweh oder froh, dass dieses Kapitel seines Lebens hinter ihm lag. Oder war er mit knapper Not seinen Verfolgern entronnen, nachdem er ein Verbrechen verübt hatte...?
Und ich hätte es auch bei Nacht gemalt. Mit einem Sternenhimmel darüber...

Ach, Sherlock…! Liebst du den nächtlichen Sternenhimmel…? Es gibt Dinge, die sieht man in der Finsternis besser als im Tageslicht…

Oft erkannte er aber auch einfach das wieder, wovon die Gemälde tatsächlich erzählen sollten: Da war etwa der heilige Georg, der den Drachen erschlägt, oder Simson, dem die tückische Delila gerade sein langes Zauberhaar abgeschnitten hat und dem nun seine Feinde die Augen ausstechen. Auch so ein verderbliches Weib wie Salome. Aber kalt und raffiniert... Eine der ersten Geheimagentinnen der Weltgeschichte...

Ach, Sherlock, mein Liebster! Wir hätten zusammen neue Gifte und Sprengstoffe entwickeln können...! Ich hätte dir gezeigt, wie man heimtückische Computerviren und Trojaner programmiert und sich überall reinhackt! Wir hätten zusammen Theater spielen können! Geschichten voller großer Taten und ungezügelter Leidenschaften. Dabei wären wir einander schnell näher gekommen. Du hättest entdeckt, wie ähnlich wir uns sind, wie fantastisch wir uns ergänzen.
Du hättest dich selbst entdeckt, du herrlicher, stolzer Schwan!
Wieso bist du gegangen, mein Freund? so fragte er sich, während er durch die Ausstellungsräume irrte.

Und dann kam ihm ein grandioser Gedanke: Ich werde Schauspieler!

Aber SELBSTVERSTÄNDLICH werde ich Schauspieler! Ich werde brillant sein! Ich habe doch fast schon mein ganzes Leben lang allen Leuten etwas vorgemacht. Für mein Werk wird es sinnvoll sein, diese Kunst zu perfektionieren, die neuen Erfahrungen werden mich ablenken von meiner Sehnsucht und überhaupt: Ich hatte mir doch sowieso schon überlegt, dass eine zweite Identität in vielerlei Hinsicht sehr nützlich sein könnte...!

Zu schade jedoch, dass er ein nettes Image brauchte. Er musste ein Schauspieler werden, den man als jugendlichen Liebhaber und harmlosen, freundlichen Kumpel besetzen würde, ein Typ, der einen guten Daddy abgeben würde oder einen engagierten einfühlsamen Arzt. Kein böser Junge, kein intriganter Finsterling…

Sei's drum! Dafür war er das ja heimlich in seinem realen Leben!

Nun tauchte auch wieder die Frage nach einem passenden Namen auf.

Kevin…

Wirklich Kevin?

Irgendwie denken immer noch alle an diesen Film mit dem kleinen Jungen, der an Weihnachten zuhause vergessen wird…!

Nein.

Schade drum, aber – nein, keinesfalls!

Innerhalb weniger Sekunden reifte sein Plan heran und als er sich schon als preisgekrönten Fernsehstar sah, erspähte er ein Bild an der entferntesten Wand des Ausstellungsraumes, in dem er sich gerade befand.

Ein felsiges Gebirge…

…hm…

…Cliff…?

Haha! Cliff Hanger! Das wäre doch mal ein Name für einen Actiondarsteller!

Nun hatte er das Bild erreicht und stellte fest, dass es nicht die Berge und auch nicht das Tal darunter gewesen war, was den Künstler fasziniert hatte, sondern dass sich im Zentrum ein Wasserfall befand.

Und was für einer…!

Wow! dachte Jim beeindruckt. Wer da hineingerät, ist nicht mehr zu retten; das Wasser zieht ihn unaufhaltsam mit sich in die Tiefe!

Er musste an Edgar Alan Poes grausige Erzählung vom Malstrom denken – nur dass das hier sehr viel schneller gehen würde!

Dieser Wasserfall ist genauso tödlich wie ich. Wer in meinem Wirkungskreis gerät, den gebe ich nicht wieder frei. Er kann Menschen verschlingen und doch bleibt sein Wasser hell und klar. Ich kann Leben auslöschen und doch bleibt meine Weste weiß, mein Ruf ohne Makel!

Andächtig betrachtete er lange das Gemälde.

Du bist wie ich, dachte er.

Und dann las er das kleine Schild, das daneben an die Wand geheftet war:

William Turner: Die Reichenbachfälle.

Das ist es!
So soll mein zweites Ich heißen! Ein bisschen auch in Gedenken an Onkel Richard.

Er wird mein freundliches, nettes, sensibles Alter Ego. Ein Schöngeist mit einem charmanten, einnehmenden Wesen. Eine hübsche Maske meiner selbst. Ein harmloser Avatar, der mir alle Türen öffnen wird. Auch die Türen zu den Herzen der Menschen.
Doch wehe ihnen, wenn sie mich erst eingelassen haben, denn ich kann sie von innen heraus zerfressen, wie der Wurm den Apfel!

Und in dieser Sekunde wurde Richard Brook geboren.

So begann Jim sein zweites Leben. Er fälschte Ausweispapiere und Zeugnisse und besuchte eine Schauspielschule. Und obwohl er praktisch nichts von den großen Gefühlen, die er ausdrücken sollte, selbst zu empfinden im Stande war, war er darin absolut überzeugend.

Schmerz, Herzeleid, Trauer, Todeskampf...

Er liebte die ganz großen Themen, die selbstzerstörerischen Emotionen. Er kannte sie selbst nicht und wollte sie auch gar nicht erfahren, schließlich war er kein kranker Masochist! Aber er liebte es, sie bei seinem Publikum zu erregen und er genoss es, jene, die ihm im Weg waren, sie wahrhaft durchleiden zu lassen. Diese kleinen, empfindsamen Menschlein! Sie waren ja so leicht zu quälen und es war eine Lust, ihnen dabei zuzusehen.

Rich Brook riss sie alle mit sich fort.

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Tbc

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Nachdem ich es ganz zu Anfang absurd und geradezu unreif fand, nun auch noch Moriarty zurückkommen zu lassen und es deshalb für einen Trick von Mycroft hielt, denke ich inzwischen doch, dass es eine letztlich ziemlich einfache, aber auch gruselige, ja niederschmetternde Erklärung gibt.
Wenn ihr anderer Meinung seid, tut sie bitte ruhig kund, denn ich kann mich natürlich irren...

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Wenn euch die Links interessieren, könnt ihr ja auf fanfiktion-de nachsehen!
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Eure Nothing