Kapitel I

Ein zweiter Geburtstag (1051 n.E.)

Zwei bleiche Hände waren das einzig wahrlich erkennbare in dem durch Kerzenlicht spärlich ausgeleuchteten Raum. Geflissentlich bewegten sie sich – einem festen Muster folgend – um ein Ritual zu vollenden, das ähnlich düster anmutete, wie der Anblick des schwarz gewandeten Greises, dessen Geist es erfüllte.
Mit krächzender Stimme begann er Formeln zu intonieren, während er sich über sein hilfloses Opfer beugte. Es war ein einjähriges Mädchen, das er in schwarzes Leinen eingeschlagen und auf einen reich verzierten Sockel aus Obsidian gelegt hatte. Beinahe huschte dem alten Mann ein Lächeln über das Gesicht, als ihm erneut bewusst wurde, dass ihr Opfer ihm ein weiteres Jahr ermöglichte auf Tyrias Boden zu wandeln, um seine schwarzen Künste zu vervollkommnen.

Bald, ja bald war es vollbracht.
Dann würden solche Unannehmlichkeiten und niederen Arbeiten – wie an diesem Abend das Einbrechen bei den ahnungslosen Falknern, das Stehlen ihres Kindes aus dessen Wiege und das aufwendige und kraftraubende Abhalten alter Rituale – der Vergangenheit angehören.
Ja, er hatte dafür gesorgt, dass in Kürze ganz Ascalon und die umliegenden Reiche in Krieg und Chaos versinken würden! Er allein half den Charr Schwachstellen in Adelberns Verteidigung aufzudecken, auf dass ihre längst überfälligen Angriffe beginnen mögen. Und sollte es soweit sein, dann fände er genügend herrenlose Seelen, die er an seiner statt Grenth opfern könnte, um viele weitere Jahrzehnte – Jahrhunderte gar – zu überdauern!
Weit mehr, als es dieses armselige, kleine Ding vor ihm vermochte.
Weiterhin Verse murmelnd schlug der Nekromant die beiden Enden des Leinens zur Seite, die das Mädchen verhüllten. Vorsichtig, beinahe liebevoll, nahm er einen Dolch mit geschwärzter Klinge auf.
Sein Singsang endete.
Alle Vorbereitungen waren abgeschlossen, das Portal zu den ewigen Nebeln geöffnet und der Herr des Todes forderte gierig seinen Tribut, das konnte der alte Mann spüren. Endlich begann es zu schreien, stellte er mit Genugtuung fest, als er die Klinge auf das Kind herabsenkte.
„Grenth mein Herr und Meister!", entfuhr es ihm. „Hüter der Seelen! Gebieter aller Gezeiten! Nimm dieses Opfer und gewähre mir hierfür einen weiteren Winter!".
Nun, er hatte keine direkte Antwort erwartet, doch diese unerwartete Stille ließ ihn kurz innehalten. Selbst das Mädchen schrie nicht mehr.
Plötzlich erloschen alle Kerzen, nur um – kurz bevor er einen Fluch ausstoßen konnte – in einem brennend hellen, silbernen Schein zu neuem Leben zu erwachen.

Silbrige Rauchschwaden formten sich zu einer Präsenz, die er seit mehreren Dekaden aus seinem Bewusstsein verdrängt hatte.
„Dwayna", versuchte er zu stammeln, als er jäh unterbrochen wurde:
„SCHWEIG STILL!", donnerte ihre Stimme in seinem Kopf. „Dies Leben ist nicht dein, noch darf Grenth über es verfügen! Selbst dein Herr vermag es nicht ihr Schicksal zu erahnen, denn sie ist eine der Auserwählten, die ermächtigt sind es selbst zu schmieden! Diese große Bürde liegt seit Geburt an auf ihren Schultern und dein unrechtes Ansinnen wird den Lauf der Zeiten nicht beeinflussen!"

Wie von der Wucht eines Hammers getroffen, strauchelte der Greis und stolperte nach hinten.
Klirrend fiel sein Dolch zu Boden.
Das silberne Licht verflüchtigte sich und wich einem kalten Hauch, den der Nekromant zuvor erwartet hatte. Sein Meister war schließlich doch erschienen und hatte Dwaynas Anwesenheit verdrängt.
Ein eisiger Griff umschloss sein Herz.
„Nein, so sollte es nicht sein", keuchte er, als die nagende Kälte anfing an ihm zu reißen. Das letzte was er sah, waren seine eigenen Hände, die sich auf groteske Art und Weise aufzulösen schienen. Sie glichen nun den dünnen Pergamenten, die er bis vor kurzem noch studierte und weiterhin studiert hätte.

Im ersten Morgengrauen, ließ sich ein Falke auf einer kleinen Hütte am Waldesrand – dem Schauplatz der gestrigen Nacht – nieder und stieß einen markanten Schrei aus. In weiter Ferne wurde der Ruf erwidert. Ein verloren geglaubtes Familienmitglied ward gefunden.