Liebe Leserinnen und Leser, dies ist das erste Kapitel einer Erzählung, die an „Tortur" anknüpft. Man muß den „Vorgänger" nicht gelesen haben, um das Folgende zu verstehen; darin wird allerdings erklärt, wie eine gewisse Catriona MacGillivray in den großen Handlungsrahmen paßt.
Genug der Vorrede, gute Unterhaltung bei…
Mysterium
Kapitel 1: Das Rätsel
„Hermione!" Die Angeredete hob den Kopf und versuchte mißmutig, den Ursprung des unwillkommenen Lärms auszumachen. Sie saß bereits seit Stunden in der Bibliothek und wälzte Lexika und wissenschaftliche Schriften, war jedoch bisher zu keinem befriedigenden Ergebnis gelangt. Dies war ihr fremd; bisher hatten sie Bücher mit denen darin gesammelten schier unendlichen Weisheiten noch nie im Stich gelassen, und im Grunde war sie überzeugt, auch in diesem Fall fündig zu werden, wenn… ja, wenn man sie nicht unnötig störte.
Die Aufgabe, die ihr der Zaubertrankmeister auf eigenes Ansinnen hin erteilt hatte, war tückisch, anspruchsvoll und im besten Fall komplex. Vermutlich erwartete er, sie würde die sprichwörtliche Flinte ins Korn werfen und reumütig ihre Überforderung eingestehen, aber ebenso wie die Auswahl der Aufgabe zu Severus Snape paßte, fügten sich Hartnäckigkeit und Ehrgeiz seiner Schülerin als passendes Teil in das Ganze ein.
Hermione Granger dachte gar nicht daran, aufzugeben. Im Gegenteil.
„Hier bist du!"
Sie bedachte den Neuankömmling mit einem flüchtigen Blick: ein junger Bursche mit unordentlichem Braunhaar und einer runden Brille. Harry Potter war ein guter Freund, aber seine Bemerkungen entbehrten bisweilen jeglicher Logik.
„Warum hast du mich nicht gleich hier gesucht?" erkundigte sie sich mit einem Anflug von Gereiztheit; immerhin kam der Bibliothek die höchste Aufenthaltswahrscheinlichkeit zu, stutzte jedoch und setzte hinzu: „Warum suchst du mich überhaupt?"
Harry Potter rollte die Augen. „Du hast es noch nicht gehört, oder?" sagte er vorwurfsvoll.
„Was gehört?" zischte Hermione ungeduldig und ärgerte sich gleich darauf über ihre berechenbare Neugier.
„Man hat Snape gefunden", sagte Harry freundlicherweise, ohne sie auf die Folter zu spannen, „am Rande des Verbotenen Waldes. Irgendwas muß schiefgelaufen sein beim letzten Treffen und –"
„Und was? Ist er verletzt?" Hermione ließ das Buch, in dem sie gerade noch voller Interesse gelesen hatte, achtlos auf ein Pult sinken. Der Gedanke, daß sie gemütlich über seiner Aufgabe brütete, während er zu diesen Todesserzusammenkünften ging, erfüllte sie plötzlich mit einem seltsamen Schuldgefühl. Natürlich wußte sie um seinen Status als Doppelspion, aber niemals zuvor hatte sie auch nur einen Gedanken darauf verschwendet, was dies für ihn bedeuten mochte. Die Mehrzahl der Eingeweihten glaubte ohnehin, er fände noch Gefallen daran, denn echtes Vertrauen schenkte ihm kaum ein Mitglied des Phönixordens.
Bei den Schülern war der düstere, spöttische Tränkemeister bestenfalls ungeliebt; lediglich die Angehörigen des Hauses Slytherin achteten ihn als ihren Hauslehrer. Der Löwenanteil jedoch verabscheute ihn leidenschaftlich, und besonders Harry Potter und Ron Weasley taten sich darin hervor.
Hermione Granger, durch ihren Fleiß und ihr umfassendes Wissen, das sie nur zu gern kundtat, erklärter Liebling vieler Lehrer, wurde von Snape mit gereizter Mißachtung gestraft, und seine Art, mit Neville Longbottom oder Harry Potter umzuspringen, trug nicht gerade dazu bei, sie für ihn einzunehmen.
Daß er offenbar auf Ministerialanordnung in Azkaban eingesessen hatte und um ein Haar dort jämmerlich gestorben wäre, stimmte sie zwar etwas milder, aber seit Catriona MacGillivray, die ihm nach der Entlassung mehrere Monate zur Seite gestanden hatte, zu ihrem eigenen Projekt nach Brasilien zurückgekehrt war, benahm er sich unleidlicher denn je. Wie die Schottin so lange seine Gesellschaft ertragen hatte, blieb Hermione ein Rätsel.
Und nun sollte ihm etwas zugestoßen sein? Sie schielte argwöhnisch zur Seite; Harry tat der Vorfall gewiß nur mäßig leid, bedachte man seine tiefe Feindschaft zu Severus Snape.
„Das nehme ich doch an, daß er verletzt ist", bekräftigte Potter schulterzuckend. „Remus Lupin, McGonagall und Dumbledore sind auf der Krankenstation. Hagrid ist um Geheimhaltung bemüht, aber du weißt ja, was dabei herauskommt."
In der Tat wußte sie um des Wildhüters stets gute Absichten – und deren überwiegend desaströse Umsetzung.
„Moment mal", sagte Hermione plötzlich und sah den Freund scharf an. „Wo ist eigentlich Ron?"
„Auf Lauschposten", erklärte Harry ruhig, als sei dies das Selbstverständlichste der Welt. „Im Lazarett."
Hermione Granger klappte geräuschvoll das Lexikon zu, strich sich kopfschüttelnd die Schuluniform glatt und beschied nachdrücklich: „Ich sehe, es wird Zeit, daß ihr Unterstützung bekommt. Folge mir."
Sie eilte forschen Schrittes davon, und Harry, bemüht, mit ihr mitzuhalten, grinste verdrossen in sich hinein. Das hatte man nun von guten Freunden.
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„Psst", machte es. „Psst!" Nun energischer.
Hermione sah sich ärgerlich um und sagte ins Nichts hinein: „Was ist, Ron?"
Wie durch Zauberhand erschien erst ein karottenroter Haarschopf, dann das sommersprossige Gesicht und der dazugehörige Körper Ron Weasleys. Er schüttelte sich und sagte entrüstet: „Warum, glaubt ihr, verstecke ich mich unter dem Tarnmantel, wenn ihr ganz ungeniert hier hereinspaziert?"
„Taktikwechsel", sagte Harry hilflos-entschuldigend und erntete einen strafenden Blick von Hermione.
„Wir sind doch keine Kinder, die Räuber und Gendarm spielen", rügte sie streng. „Ich gehe da jetzt hin, klopfe an die Tür und –"
„ – hoffst, daß sie dich reinlassen", vollendete Ron spöttisch. „Viel Vergnügen."
Harry grinste, Hermione jedoch würdigte sie keines Blickes, sondern hielt schnurstracks auf die geschlossene Türe zu. Gerade, als sie die Hand hob, um sich bemerkbar zu machen, wurde die Pforte geöffnet.
„Miß Granger!" Minerva McGonagall, die stellvertretende Schuldirektorin und Lehrerin für Verwandlungen, maß das Mädchen vom Scheitel bis zur Sohle mit einem durchdringenden Blick. „Sind Sie etwa krank?" Als wäre dies der unwillkommenste Zufall überhaupt.
Hermione fiel es wie Schuppen von den Augen. Wieso nur war sie nicht darauf gekommen, sich krank zu stellen? Fred und George Weasleys Zauberscherzartikel hätten mit Sicherheit alle überzeugt, und einen verläßlicheren Weg, Informationen direkt vom Ort des Geschehens zu erlangen, mochte es kaum geben.
Leider war die Chance nun vertan, daher hielt sie sich nicht mit unnötigen Grübeleien auf, sondern sagte wahrheitsgemäß: „Wir möchten uns nach Professor Snapes Befinden erkundigen."
McGonagall blinzelte sekundenlang; das einzige Eingeständnis der Überraschung, die sie befiel.
Im Hintergrund schlug Ron Weasley die Hände vors Gesicht. Er hielt soviel Ehrlichkeit zweifellos für verrückt.
„Hören Sie", zischte die Lehrerin für Verwandlungen gereizt, „ich weiß zwar nicht, woher Sie die Information schon wieder haben, aber momentan soll so wenig Wirbel wie möglich gemacht werden. Das bedeutet für Sie, schweigen Sie unbedingt über das, was Sie wissen."
„Ich weiß ja gar nichts", entfuhr es Hermione ungefragt. Das zornige Funkeln in McGonagalls Augen wäre nicht nötig gewesen, denn sie biß sich sofort auf die Lippen und setzte ein zerknirschtes „Verzeihung" hinzu.
Die Lehrerin gestattete sich ein vernehmliches Seufzen. Ihre Augen huschten geschwind nach links und rechts, als wolle sie sich vergewissern, daß sie wirklich allein waren.
„Professor Snape ist in keiner guten Verfassung", sagte sie gedämpft. „Ich hoffe, Madam Sprout übernimmt seine Stunden wieder."
Sie raffte ihre Robe und schickte sich an zu gehen. „Kommen Sie nachher in mein Büro, in Merlins Namen", bot sie weicher an, als sie in Grangers angespannten Zügen ehrliche Besorgnis erkannte und rauschte davon.
„So", machte Harry, kaum, daß sie außer Hörweite war, „jetzt sind wir so schlau wie vorher."
„Geduld", betonte Hermione würdevoll, hob erneut die Hand und klopfte firm. Diesmal vergingen mehrere Minuten, bevor geöffnet wurde. Remus Lupins aschblonder Kopf sah fragend um die Ecke.
„Schlechter Zeitpunkt, ihr drei", kam er jeglichen Bemerkungen zuvor und schlug die Tür auf der Stelle wieder zu.
Schicksalsergeben beschlossen die Schüler, doch auf McGonagall als Informationsquelle zu vertrauen.
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Nach dem Abendessen, das für Harry, Ron und Hermione in seltsam gedrückter Stimmung verlief, während alle um sie herum fröhlich schwatzten, begaben sie sich zum Büro der Verwandlungslehrerin.
Minerva McGonagall war nicht allein. Auf zwei Stühlen saßen Remus Lupin und die Aurorin Nymphadora Tonks. Beide trugen einen ernsten, wenngleich wenig überraschten Blick zur Schau. Lupin lächelte müde und nickte den dreien aufmunternd zu.
„Nehmen Sie Platz", befahl McGonagall kurz. Während die Schüler gehorchten, durchquerte sie den Raum mit unruhigen Schritten, die Fingern ineinander verhakt.
„Stellen wir zunächst einmal folgendes klar", begann sie forsch, „Sie werden über alles konsequent schweigen, was Sie hier erfahren."
Das eilige Nicken nahm sie selbstverständlich zur Kenntnis und fuhr streng fort: „Wir nehmen an, Professor Snape wurde beim letzten Todessertreffen verflucht. Er selbst kann bedauerlicherweise keine Auskunft erteilen. Besser wäre er ohnehin im St. Mungos aufgehoben, aber dort ist es zu gefährlich, sollte er tatsächlich bei Voldemort in Ungnade gefallen sein."
Harry tauschte einen raschen Blick mit Ron, während Hermione atemlos an McGonagalls Lippen hing.
So schlimm stand es um den Tränkemeister? Hatte er nicht gerade erst begonnen, sich von der Qual der Haft zu erholen? Was bedeutete die Möglichkeit, daß er als Spion enttarnt worden war? Befanden sie sich nicht alle, Harry jedoch insbesondere, in Gefahr?
„Weiß Miß MacGillivray Bescheid?" erkundigte sie sich plötzlich, ohne recht zu wissen, was sie dazu bewogen hatte, die Meisterin der Flamelstiftung ins Spiel zu bringen. Vielleicht, weil sie ihren Rat vermißte und auch Snape seit ihrer Abreise und mehr noch nach den Weihnachtsferien, nach denen er für gewöhnlich eher hochgestimmt war, übellaunig und giftig reagierte.
Lupin und Tonks sandten ihr einen seltsamen Blick; Ron machte eine Grimasse, und McGonagall unterbrach ihre Wanderung. „Die Eule ist unterwegs", gab sie bekannt, aber ihre Stimme klang aus irgendeinem Grund gepreßt.
„Ihr wißt nun schon mehr, als eigentlich für Schülerohren bestimmt war", schaltete sich Remus Lupin ein und lächelte ihnen durch deutliche Besorgnis warm zu.
„Können wir etwas tun?" fragte Hermione ernsthaft und gab sich keine große Mühe, ihr Mißfallen über Harrys und Rons Geflüster zu verbergen, aus dem sie etwas aufgeschnappt hatte, das verdächtig nach „…wohl irre!" klang.
„Entfernen Sie sich nicht vom Schloß", sagte McGonagall sofort. „Besonders Sie, Potter, könnten in Gefahr sein. Handeln Sie also nicht leichtsinnig." Sie hob gebieterisch die Hand und fügte säuerlich hinzu: „Obwohl ich natürlich weiß, daß Ihnen das schwerfallen wird."
Lupin und Tonks grinsten milde, während Ron feixend auf seine Stiefelspitzen starrte. Hermione, völlig unbeeindruckt von dem Seitenhieb ihrer Hauslehrerin, stemmte die Hände in die Hüften und setzte ihren altklug-konsternierten Blick auf, der für besonders harte Nüsse reserviert war. Im letzten Moment schien sie sich jedoch zu Rons Erleichterung eines Besseren zu besinnen und sagte diplomatisch: „Wir wünschen baldige Genesung für den Professor. Gute Nacht und vielen Dank für das Vertrauen."
Sie verließ erhobenen Hauptes das Büro, und Harry und Ron, die ihr verdattert nacheilten, entlockten Nymphadora Tonks ein belustigtes Kichern, kaum, daß sie allein waren.
„Glaubst du, Harry könnte in ernster Gefahr sein?" wollte sie von Minerva McGonagall wissen, die ihr sorgenvolles Schreiten wieder aufgenommen hatte und nun den Kopf nachdenklich schieflegte.
„Wir müssen mit allem rechnen", sagte sie niedergeschlagen und rieb sich die müden Augen.
Remus Lupin erhob sich entschlossen. „Zeit, den Direktor abzulösen", verkündete er mit einem entschuldigenden Lächeln.
Tonks folgte ihm. „Ich gehe Wache", erklärte sie augenzwinkernd. „Bis morgen, Minerva."
Die ältliche Verwandlungslehrerin nickte zustimmend. Wenngleich sie bezweifelte, in dieser Nacht viel Schlaf zu finden, so lohnte ein Versuch jedoch immer.
Sie versiegelte ihr Büro und kehrte in ihr Quartier zurück. Mit einem Schwenk ihres Zauberstabes öffnete sie den Wasserhahn über der Emaillewanne, deren Löwenfüße einladend auf dem Boden scharrten. Zuzusehen, wie der Wasserspiegel stetig zunahm, übte eine angenehm meditative Wirkung auf sie aus, so daß sie schon seit langem darauf verzichtete, die Wanne mit einem Zauber auf einmal zu füllen. Ein heißes Bad hatte sie schon seit dem Beginn der Ereignisse am frühen Nachmittag ersehnt.
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„Ich möchte wissen, was sie morgen sagen, warum Snape fehlt", bemerkte Harry und streckte die Füße so weit aus, daß die wohlige Wärme des Kamins seine Zehen kitzelte.
Sie saßen im Gryffindorgemeinschaftsraum, um diese späte Stunde ungestört von neugierigen Zuhörern, und diskutierten mit gedämpften Stimmen die Ereignisse.
Ron gähnte vernehmlich. „Vielleicht so was Unbestimmtes wie vor ein paar Monaten, als er in Azkaban war", sagte er gedehnt. „Wenn wir mehr wissen wollen, führt kein Weg an Hagrid vorbei."
Harry grinste halb empört, halb belustigt. Eigentlich verabscheute er den Gedanken, den gutmütigen Wildhüter so lange zu verwirren, bis er Informationen preisgab, die nicht für Schülerohren bestimmt waren, aber da er momentan auch keinen anderen Weg sah, mußte er Ron wohl oder übel beipflichten.
„Oder was denkst du, Hermione?" wandte er sich an die Freundin, die, seit sie McGonagalls Büro verlassen hatten, schweigsam und in sich gekehrt wirkte.
„Hm", machte sie unbestimmt und hatte es mit einem Male sehr eilig, in den Mädchenschlafsaal zu entwischen.
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Silbriges Licht des abnehmenden Mondes ergoß sich durch das Fenster und tauchte das fahle Gesicht des Liegenden in gespenstisches Weiß. Dunkle Strähnen langen Haares kräuselten sich auf dem Kopfkissen wie flüssiger Teer, und die gebogene Nase wirkte in dem stillen, abgezehrten Antlitz bizarr und fremd.
Remus Lupin mußte sich gewaltsam der Assoziation einer aus Gips geformten Totenmaske erwehren.
Seit Hagrid den Tränkemeister auf einem seiner Kontrollgänge gefunden hatte, war dieser nicht einmal zu Bewußtsein gekommen. Er reagierte auf Schmerzreize verzögert, und sein Atem ging flach.
Es gab keine sichtbaren Zeichen physischer Gewalteinwirkung; dies war nach Azkaban anders gewesen, und allein der Gedanke daran jagte Lupin noch immer eisige Schauer über den Rücken.
Jetzt trug Snape keine Blessur oder sonstige Wunde; was Hagrid und die eilends herbeigerufene Madam Pomfrey entsetzte, waren innere Blutungen, die kein Zauber zufriedenstellend zu stillen vermochte.
Die fulminanten Anfälle, in denen der Tränkemeister röchelnd Blut erbrach und die selbst die routinierte Heilerin bebend zurückließen, waren zwar seltener geworden, aber längst nicht gebannt.
Man glaubte mit an Überzeugung grenzender Wahrscheinlichkeit, daß nur ein Fluch solchen Schaden angerichtet haben konnte, aber es blieb unklar, was genau geschehen war und warum.
Niemand, nicht einmal der Schuldirektor Albus Dumbledore in seiner Weisheit, konnte von einer ähnlichen Erfahrung mit Dunkler Magie berichten.
Poppy Pomfrey mußte zähneknirschend eingestehen, daß sie dem Zaubertrankmeister nicht zu helfen vermochte. Da eine Verlegung ins Krankenhaus aus Sicherheitsgründen nicht in Frage kam, beschränkte sie sich vorerst darauf, seinen Zustand so gut wie möglich zu stabilisieren. Um ihr den dringend benötigten Schlaf zu ermöglichen, hielt Lupin wie schon nach Snapes Entlassung aus der Hölle Azkabans bei ihm Wache.
Der Werwolf warf einen raschen Blick zur Uhr, die im Mondlicht unwirklich aussah, so als könne man das Verrinnen der Zeit für einen entsprechenden Preis mit ihr verhandeln.
Weit nach Mitternacht.
Lupin umspannte Snapes Handgelenk routinemäßig, ein prüfender Blick, das lockende Angebot ignorierend. Die Uhr maß ärgerlich die Sekunden, in denen seine warmen Finger dem flatternden Puls des Bewußtlosen nachspürten.
Als er sich über ihn beugte, um ihm die Decke höher zu ziehen, wurde seine Aufmerksamkeit von einem dünnen Rinnsal gefesselt, das blutrot wie der Schnitt eines Rasiermessers aus Snapes linkem Mundwinkel sickerte.
Inständig flehte er, es möge kein weiterer Anfall folgen, bevor er das Blut behutsam mit einem sauberen Tuch aufnahm, wo es einen grellen Fleck der Anklage auf dem untadeligen Weiß hinterließ.
In dem überwältigenden Bedürfnis, dem Bewußtlosen Trost zu spenden, legte er seine Hand sekundenlang gegen Snapes wächserne, eingefallene Wange, ohne jedoch zu bedenken, daß diese Geste den Tränkemeister unter normalen Umständen wohl alles andere als erfreut hätte.
Severus Snape verabscheute Berührungen und Vertraulichkeit; Lupin grübelte noch immer, was Catriona MacGillivray bewogen hatte, sich in ausgerechnet den ungefälligsten, bissigsten und zynischsten Mann im ganzen Schloß zu verlieben. Noch mehr allerdings wunderte ihn, daß Snape diese Liebe (zumindest für ihn, Lupin, offensichtlich) nicht nur erwiderte, sondern selbst innig trug. Natürlich diskutierten sie niemals darüber, und Snape blieb äußerlich unbewegt, wenn die Sprache auf MacGillivray kam, aber allein die Tatsache, daß er sich seit seiner Rückkehr aus Brasilien noch grantiger benahm, bedurfte für Lupin keiner weiteren Erklärung.
Wie lange mochte die von McGonagall gesandte Eule unterwegs sein, bis sie Catriona erreichte? Wenn sie sie erreichte, wisperte eine Stimme in seinem Hinterkopf; die Notfallkommunikation über Telegrammzauber hatte aus ungeklärter Ursache versagt, was aber daran liegen konnte, daß sie so tief im Dschungel auf Expedition steckte, daß auch der sonst recht zuverlässige Eilzauber in Form eines sich vor dem Betreffenden entfaltenden Telegrammblattes sie nicht mehr aufspüren konnte.
Remus Lupin unterdrückte ein Seufzen. Nicht auszudenken, wenn ihr etwas zugestoßen war. Ehrlicherweise rechneten alle mit MacGillivrays sofortiger Anreise; sie wurde gebraucht – im Orden so sehr wie in der Schule, wo sie nicht nur die Kräuterkundelehrerin Pomona Sprout von ihrer undankbaren Vertretungsaufgabe entlasten, sondern in gewisser Weise auch als Schutz fungieren sollte. Und natürlich hoffte man, ihre Anwesenheit würde Snape wohltun, wenn sie nicht sogar mit einem geheimen Trank oder sonderbaren Gegenzauber für seine Rettung sorgen konnte.
Die flache Gestalt unter den Laken holte zittrig Atem, und für einen Augenblick schien Snape kurz davor zu sein, in die Welt der bewußten Wahrnehmung zurückzukehren oder sich für immer aus ihr zu verabschieden, aber als sich Lupin alarmiert zu ihm neigte, war der Spuk auch schon wieder vorbei. Die unbewegliche Stille in Snapes bleichem Gesicht, die farblosen Lippen, auf denen das Rot des wiederkehrenden Blutfadens nur noch grotesker wirkte – alles war unverändert.
Hatte er Voldemort gegen sich aufgebracht, so daß dieser ihn mit einem selbsterdachten Zauber verfluchte? Was war der Auslöser gewesen?
Lupin hielt wenig von der Enttarnungstheorie; in solch einem außergewöhnlichen Falle hätte Voldemort vermutlich nicht gezögert und den Spion in rasender Wut kurzerhand umgebracht. Dies hier wirkte geplanter, so als sollte Snape für eine Missetat bestraft werden. Wenn er dabei starb, so war das zwar nicht erwünscht, wurde jedoch billigend in Kauf genommen. Andererseits zeugte eine solche, natürlich rein spekulative Betrachtung nicht gerade von Weitsicht – in verletztem Zustand konnte er Voldemort unmöglich zu Diensten sein, und außerdem hatten immer alle geglaubt, Snape stünde in der Gunst des Dunklen Lords sehr weit oben.
Wenn er nur nicht immer so verdammt verschlossen wäre, räsonierte Lupin stumm; man war nun einmal auf die Informationen angewiesen, die der Spion aus der Höhle der Todesser mitbrachte; wie sollte man in Fällen wie diesem vorgehen, wenn man die genauen Fakten nicht kannte, weil Snape sie aus irgendwelchen Gründen verschwieg?
Seufzend vergewisserte er sich, daß der Verletzte nicht stärker blutete und klappte entschlossen das Buch auf, das ihm Nymphadora Tonks vor kurzem geschenkt hatte: „Nachtgroll und Knirpse" – eine höchst experimentelle Liebesgeschichte, die er sich auch unter noch so abstrusen Umständen niemals selbst gekauft hätte. Unter dem Gesichtspunkt der Herkunft allerdings vermochte ihn die Lektüre in kribbelnde Hochstimmung zu versetzen, obwohl der Inhalt für seinen Geschmack doch arg zu wünschen übrig ließ.
Ob Tonks den Schinken gelesen hatte? Er tat gut daran, eine geeignete Ausrede zu erdenken, damit sie nicht auf den Gedanken kam, er bevorzuge solche Literatur. Ebensogut konnte er gleich damit beginnen.
Hier endet Kapitel eins.
Vielen Dank an J.K. Rowling für die Erfindung dieser faszinierenden Charaktere. Catriona MacGillivray gehört jedoch mir. ;-)
Reviews und Meinungen sind herzlich willkommen…gerade bei den Anfangskapiteln.
Ich schreibe übrigens weiterhin nach der alten Rechtschreibung; sie ist die einzig richtige für mich.
