Üblicher Disclaimer: criminal minds gehört nicht mir, ich stehe nicht auf der Gehaltsliste von CBS!
Er hasste es, wenn er vor anderen sprechen sollte, und noch mehr hasste er es, angestarrt zu werden. Und nun sahen ihn 7 Augenpaare gespannt an, sie warteten auf eine Erklärung, warum er hier war, wie es so weit hatte kommen können. Er hatte sich noch nie irgendwo zugehörig gefühlt, aber jetzt hatte er endgültig das Gefühl, am falschen Ort zu sein. Er hatte von den meisten anderen ihre Geschichte gehört, aber er war anders, er war nie kriminell geworden, er war nicht abhängig wie sie, er war FBI Profiler. Doch ein Blick auf die Einstichstellen an seinen Armen strafte seine Gedanken Lügen, er war nicht anders, er war genauso abhängig, und es hatte ihn dazu gebracht, in einen Abgrund zu blicken, von dem er nie gedacht hatte, ihn sehen zu müssen. Er war im Fallen inbegriffen, bis die Auswirkungen seiner Sucht zum Zusammenbruch geführt hatten. Spencer Reid hatte die Kontrolle verloren. Während eines Falles in Phoenix hatte er sich abends unbeabsichtigt eine Überdosis gespritzt und war bewusstlos zusammengebrochen. Er wäre gestorben, hätte Emily ihn nicht gefunden. Nur durch diesen Zusammenbruch war es ihm nicht mehr möglich zu verheimlichen, was mit ihm los war. Sie alle hatte ihren eigenen Verdacht gehabt, hatten versucht, mit ihm zu reden, ihm zu verstehen zu geben, dass sie für ihn da waren, dass er mit dem, was er erlebt hatte, nicht alleine fertig werden musste, aber sie waren zu spät gekommen. Sie gaben ihm nicht die Schuld, sie selbst fühlten sich schuldig, dass sie nicht eher etwas getan hatten. Nach langen Gesprächen hatte Spencer sich dazu entschlossen, eine Therapie zu machen. Er wusste, dass es so nicht weitergehen konnte, dass er sich ein weiteres Mal entscheiden musste, doch dieses Mal ging es nicht um das Leben anderer, sondern um sein eigenes. Bevor er in die Klinik gegangen war, hatten seine Kollegen ihm versichert, dass sie auf seine Rückkehr warteten, dass er immer noch zu ihnen gehörte, egal, wie lange es dauern würde. Doch Spencer war sich noch nicht sicher, ob er zu ihnen zurückkonnte, er hatte sie enttäuscht, obwohl es nie einer von ihnen auch nur angedeutet hatte, es war sein Gefühl, es getan zu haben. All diese Dinge gingen ihm durch den Kopf, als er die sieben Personen um sich herum anschaute und sich fragte, ob sie ihn verstehen würden. Wie könnten sie das? Keiner von ihnen war von einem kranken Individuum gefoltert und gequält worden, sie hatten nicht über Leben und Tod wildfremder Menschen zu entscheiden sowie auswählen zu müssen, wer von seinen Kollegen, die seine Freunde, ja schon fast wie seine Familie für ihn waren, sterben müsste. Das Bizarre für Spencer war an der ganzen Situation, dass schlussendlich nicht Tobias die Schuld dafür gab, sondern sich selbst, dass er zu eigenmächtig gehandelt hatte. Er hatte versucht, Tobias zu hassen, aber ihm war auch klar, dass die dissoziative Persönlichkeitsstörung, die Tobias gehabt hatte, durch die Misshandlungen seines Vaters hervorgerufen worden war, um sich innerlich davon zu distanzieren. Trotz seiner Zweifel erzählte Spencer alles, bisher hatte er kaum oder gar nicht darüber gesprochen, und es war nicht leicht, in dieser Gruppensitzung offen darzulegen, was in dieser Hütte passiert war und wie er Wochen später dem Bedürfnis nach Betäubung nachgegeben und die Abhängigkeit in Kauf genommen hatte, mit dem anfänglichen Trugschluss, es kontrollieren zu können. Doch schneller als erwartet, hatte die Sucht ihn kontrolliert. Er wusste nicht, wie lange er gesprochen hatte, aber er hatte durchaus bemerkt, dass es um ihn herum immer stiller geworden war. Keiner von ihnen wusste mehr so recht, was er sagen sollte, selbst der Leiter der Gruppensitzung nicht, der sich damit rettete, dass ein Blick auf seine Uhr ihm sagte, dass die Zeit abgelaufen war. Spencer war jetzt nach fast 2 Wochen Aufenthalt so weit, dass er fast alle Lebensgeschichten der 5 Personen kannte, die mit in dieser Gruppe waren, bis auf eine und zwar die von Lilith. Er hatte sie noch ein Wort sagen hören, weder in den Gruppensitzungen noch sonst irgendwann. Wenn man sie ansprach, sah sie einen zwar an, aber sie reagierte nicht, auf Fragen nickte oder schüttelte sie nicht einmal den Kopf. Sie blieb immer für sich allein. Sie war mit 1,63 m relativ klein, zierlich und wirkte sehr zerbrechlich, was durch ihre schwarzen Haare, ihre helle Haut und ihren großen blauen Augen noch verstärkt wurde. Von den anderen wurde sie nur das ‚stumme Schneewittchen' genannt. Sie hatte wahrscheinlich lange Haare, doch sie trug sie im Nacken immer zu einem strengen Knoten, den sie mit einem schwarzen Tuch zusätzlich fixiert hatte, und sie trug fast immer schwarze Kleidung.
Als Spencer am nächsten Tag mit Jasper bei einer Partie Schach im Aufenthaltsraum zusammensaß, beschloss er, ihn auf Lilith anzusprechen. Spencer war sich sicher, dass ihr Schweigen durch ein sehr großes erlittenes Trauma verursacht wurde. Jasper war 21 und wegen seiner Abhängigkeit von Aufputschmitteln eingeliefert worden, nachdem er während einer Collegeprüfung ausgerastet war. Er hatte zu Drogen gegriffen, um dem hohen Erwartungsdruck seiner Eltern gerecht zu werden, was das College und sein späteres Studium anging.
„Spence, du bist am Zug."
„Entschuldige bitte, ich war abgelenkt."
„Das hab ich gemerkt."
„Sag mal, was weißt du über Lilith?"
„Unser schweigendes Schneewittchen? Nicht viel, aber warte mal, fragen wir Kele. Der ist so was wie unsere wandelnde Patientenkartei. Kele, komm mal rüber, unser FBI Genie möchte was über das stumme Schneewittchen erfahren."
Kele, ein 17 Jahre alter Afroamerikaner, den seine Eltern wegen chronischen Marihuana Konsums eingeliefert hatten, kam zu ihnen herüber. Er selbst sprach von sich als dem "schwarzen Klischee, der ausnahmsweise nicht auf crack war".
„Hey Dudes, über wen wollt ihr was erfahren?"
„Miss ich schweige einen Goldfisch in Grund und Boden, unser hübsches Schneewittchen."
„Hey, man, lass die Finger von der, vorher friert die Hölle zu als dass sie jemanden an sich heranlässt."
„Ich will nichts von ihr, aber mich interessiert, wer sie ist und warum sie nicht spricht."
„Berufliches Interesse?"
„Nenn es, wie du willst, was weißt du von ihr?"
„Lilith Wainwright, 20 Jahre alt, kommt aus privilegiertem Hause, heroin- und tablettenabhängig. Als sie 8 Jahre alt war, haben ihre Eltern angefangen, sie sexuell zu missbrauchen und haben sie für sexuelle Dienstleistungen an andere zahlungswillige Männer und Frauen verkauft. Als sie 15 Jahre alt war, ist jemand von ihrer Highschool misstrauisch geworden und hat die Polizei informiert. Als man ihre Eltern verhaften wollte, waren diese schon ausgeflogen, man hat nur Unterlagen gefunden, sie haben Buch darüber geführt, wer wann ihre Tochter gekauft hat. Gegen Strafminderung waren die wohl größtenteils bereit zu singen, aber Liliths Eltern hat man nie gefunden. Und von da an ging es mit ihr bergab: Tabletten, Gras, Kokain, Speed, Heroin, Straßenstrich, wo sie angeblich schon nicht mehr gesprochen hat, war wohl ideal für Freier, die mal ihre Ruhe haben wollten, nach einer gerade so überlebten Überdosis kam sie hierher."
„Aber sie sieht noch so jung, so fast makellos aus, wie...?"
„Das mag sein, aber ihre Seele ist kaputt, sie sieht immer nur traurig aus. Sie ist seit über 3 Monaten hier, ich habe sie noch nie etwas sagen hören, geschweige denn lachen, man sieht sie nie lächeln oder weinen, nichts. Man könnte glatt denken, sie sei eine Statue, außer wenn sie Klavier spielt. Sie darf pro Tag zwei Stunden allein für sich Klavier spielen, und soweit meine Amateurohren das beurteilen können, ist sie verdammt gut."
Spencer warf einen nachdenklichen Blick in ihre Richtung, sie saß am Fenster und sah nach draußen.
„Ist sie hier in psychotherapeutischer Behandlung?"
„Nein, sieh dich doch mal um. Wir sind hier viel zu viele Patienten, um hier auch nur einer individuell psychotherapeutisch helfen zu können. Die haben sie als Irre abgestempelt und wenn sie hier fertig ist, lässt man sie zurück auf die Strasse."
„Sie ist aber nicht verrückt."
„Das hat von uns ja auch keiner behauptet. Genius, warum interessiert dich das so?"
„Man muss ihr doch helfen können, sie hat eine schwere traumatische Erfahrung hinter sich, man kann sie doch nicht aufgeben."
„Das ist aber nicht deine Aufgabe. Kümmer dich lieber darum, dass du hier schnell genug rauskommst. Man hätte Lilith sicher vor ein paar Jahren helfen können, doch es ist zu spät. Man hätte sie beim ersten Verdacht ihren Eltern wegnehmen müssen."
„Woher weißt du das alles über sie?"
„Ich hab der Sekretärin mal geholfen, die Patientenakten neu zu ordnen, und in einige hab ich einen Blick geworfen, wenn keiner hingesehen hat."
Am Abend, als Spencer von einer Einzeltherapiegespräch zu rückkam, hörte er jemanden Klavier spielen. Das Stück erkannte er sofort, es war die Mondscheinsonate von Beethoven, er hatte sie des öfteren gehört. Die Tür, hinter der es zu hören war, war nur angelehnt. Er zog sie auf und seine Vermutung war richtig, Lilith saß am Klavier, sie bemerkte nicht, dass Spencer den Raum betreten hatte, sie war völlig auf ihr Klavierspiel konzentriert. Als sie das Stück beendet hatte, legte sie ihre Hände in den Schoß und ließ den Kopf sinken. Spencer nutzte diese Gelegenheit, um sie anzusprechen.
„Du spielst sehr gut."
Lilith fuhr erschrocken herum.
„Es tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken, nur ich hab dich schon des öfteren gehört, und ich, ähm, war einfach neugierig."
Sie sah ihn verängstigt an.
„Du brauchst keine Angst zu haben, ich will dir nichts tun. Ich bin Spencer."
Er hielt Lilith seine rechte Hand hin, aber sie starrte ihn weiterhin nur an.
„Du bist Lilith, oder?"
Wieder antwortete sie nicht. Sie fixierte Spencer nur, bevor sie den Raum verließ. Er sah ihr ratlos nach, er wollte nicht, dass sie ihn als Bedrohung empfand. Das war gründlich schief gelaufen, wie sollte er ihr klar machen, dass er ihr nichts tun wollte?
In den nächsten Tagen ließ er Lilith in Ruhe, er hörte sie zwar jeden Tag Klavier spielen, aber er betrat nicht den Raum. Es war eine Samstagnacht, in der er nicht schlafen konnte, er wollte sich ein Buch aus dem Aufenthaltsraum holen, um noch ein wenig zu lesen. Auf dem Weg dorthin sah er, dass ein Pfleger eines der Patientenzimmer betrat. Er hörte die Stimme des Pflegers, es war eindeutig Steven von der Nachtschicht. Mehr aus Neugierde sah er auf das Patientenschild neben der Tür und er erschrak, es war Liliths Zimmer. Die Tür war angelehnt. Spencer öffnete sie ein Stück. Lilith lag im Bett, ihre Decke lag auf dem Boden, Steven hatte sich neben sie gesetzt, er hatte ihr Sleepshirt hoch geschoben. Mit einer Hand berührte er ihre Brüste, während seine andere Hand in ihrem Slip verschwunden war. In Liliths Gesicht war nichts anderes als Angst und Schmerz zu sehen, während Tränen stumm über ihr Gesicht liefen, sie gab keinen Laut von sich.
„Nicht weinen, dir soll es doch auch Spaß machen."
Die Art und Weise, wie Steven mit Lilith sprach, machte Spencer wütend. Er wusste, dass sie nicht darüber sprechen würde, dass sie sich nicht gegen ihn verteidigen würde, sie war das schwächste Opfer, dass er sich hätte suchen können, sie war für seine Zwecke nahezu perfekt.
„Was machen Sie hier?" fragte er.
Steven drehte sich zu Spencer um, ohne die Hände von Lilith zu lassen.
„ich wüsste nicht, was dich das angeht, such dir was Eigenes zu spielen, Lilith gehört mir. Das hier ist privat, ihres und mein kleines Agreement."
„Das glaube ich weniger, dass Lilith ihre Einwilligung erteilt hat, dass was Sie hier machen, ist Missbrauch von Schutzbefohlenen und Abhängigen. Lassen Sie die Finger von ihr."
„Was willst du machen? Wer sollte euch glauben? Sie spricht nicht, und ein FBI Profiler, der drogenabhängig ist, ..."
„Steven, ich bin mir sicher, dass das hier nicht Ihre erste Stelle als Pfleger ist, und es würde einer meiner Kolleginnen nur Arbeit von wenigen Minuten bereiten, herauszufinden, dass Sie diverse andere Stellen verloren haben, weil sie dort auch Patientinnen missbraucht haben."
In dem Augenblick ließ Steven von Lilith ab, die ihr Shirt wieder herunterzog, sich sofort in die äußerste Ecke ihres Bettes verzog und die Beine unters Kinn zog.
„Das bleibt hier unter uns, oder unsere Kleine wird darunter leiden", sagte Steven, bevor er ihr Zimmer verließ. Spencer nahm Liliths Bettdecke und legte sie zurück aufs Bett.
„Ist alles okay?" fragte er leise.
Kaum merklich nickte sie.
„Kann ich was für dich tun?"
Doch Lilith reagierte nicht mehr, woraufhin Spencer sie nur allein lassen konnte.
Am nächsten Tag rief er Penelope an.
„Datenbeschaffung jeglicher Art, was kann ich tun?"
„Garcia, ich bin es."
„Reid, hey. Hase, wie geht es dir?"
„Soweit ganz gut. Kannst du mir...?"
„Reid, bevor du fragst, ja, es geht Schrödinger bei mir gut, er ist sehr glücklich, dass er Nacht für Nacht seine cremeweißen Haare in meinem Bett verteilen darf und er kriegt regelmäßig Leckerlis."
„Es geht um was anderes, aber schön, dass es meinem Kater so gut geht."
„Worum denn dann?"
„Du musst etwas für mich über jemanden herausfinden."
„Alles klar. Schieß los."
Spencer nannte Penelope den Namen von Steven und bat sie, herauszufinden, ob er schon mehrere Pflegerjobs verloren hatte, wegen des Missbrauchs von Patienten.
„Du hast recht, Schnucki, 3 Stellen als Pfleger, alle vom Arbeitgeber gekündigt worden, nachdem der Verdacht aufkam, dass er den Begriff Pflege etwas missinterpretiert hat, oha, er hat jedes Mal seine Referenzen gefälscht."
„Kannst du es an die eMail Adresse der Klinik senden?"
„Klar, aber sag doch mal, was los ist."
„Ich hab ihn gestern nacht dabei erwischt, wie er eine Patientin missbraucht hat."
„So ein Dreckskerl. Mache ich sofort."
„Danke."
„Reid?"
„Ja?"
„Du fehlst uns sehr."
„Ihr fehlt mir auch, sind die anderen da?"
„Nein, in San Diego, Vergewaltigungsserie an Frauen. Wird Zeit, dass du wiederkommst, wir können den Zucker allein nicht verbrauchen."
Spencer konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
„Da müsst ihr euch noch eine Weile anstrengen, wenn du mit ihnen sprichst, grüßt du sie bitte von mir?"
„Aber natürlich. Ach so, und Schrödinger vermisst dich auch total."
„Ich ihn auch."
„Ich werde es ihm sagen."
„Danke für deine Hilfe."
„Schon okay, immer gern."
Es dauerte keine 2 Stunden, bis der Direktor der Klinik die Mail von Penelope bekommen und gelesen hatte. Steven wurde fristlos gefeuert. Am Abend nach dem Essen war Lilith wieder bei ihrem täglichen Klavierspiel. Spencer betrat vorsichtig den Raum und blieb in Nähe der Tür stehen. Lilith schien sein Kommen bemerkt zu haben, denn sie drehte sich zu ihm um, als sie zuende gespielt hatte.
„Steven ist fristlos entlassen worden, er kann dir nicht mehr wehtun, er hatte mehrere Stellen vorher wegen Missbrauchs verloren. Er ist weg."
Lilith blickte verschämt zu Boden.
„Es ist in Ordnung, Lilith, du warst für ihn ein leichtes Opfer, es ist nicht deine Schuld, er konnte sich nur an denen vergreifen, die schwächer waren als er. Es ist jetzt vorbei, du brauchst keine Angst mehr vor ihm zu haben."
Lilith sah wieder zu ihm auf, sie nickte langsam. Sie saß immer noch auf der Klavierbank, sie wandte sich dem Klavier zu, bevor sie Spencer ansah und mit einer Hand auf das Klavier deutete.
„Was meinst du damit, Lilith?"
Sie zeigte auf den freien Platz neben sich. Spencer war sich nicht sicher, was sie genau meinte, aber er setzte sich neben sie. Erst jetzt fiel ihm auf, dass vor ihr keine Notenblätter lagen, anscheinend konnte sie alles, was sie spielte, auswendig.
„Ich würde gerne mit dir spielen, nur hast du keine Noten hier?"
Lilith signalisierte Spencer per Handzeichen, dass er warten sollte, sie stand auf und ging aus dem Raum. Nach kurzer Zeit kam sie mit einer Mappe wieder. Es waren Notenblätter darin, Lilith reichte Spencer die Mappe. Sie schien ihm damit sagen zu wollen, dass er etwas aussuchen sollte. Da Lilith sehr oft die Mondscheinsonate spielte, suchte er die Noten dazu heraus, sie lagen oben auf.
„Du musst entschuldigen, es ist lange her, dass ich Klavier gespielt habe."
Doch das schien Lilith egal zu sein. Ihre Hände lagen noch in ihrem Schoß, was wohl das Zeichen für Spencer war, dass er anfangen sollte zu spielen, was er auch tat. Nach den ersten Takten merkte er, dass er sich sicherer fühlte als er für möglich gehalten hätte. Er legte eine kleine Pause ein, nach der Lilith nahtlos das Thema wieder aufgriff und weiterspielte, es entwickelte sich ein kleiner Dialog daraus, in denen keiner von beiden sprach, sondern nur abwechselnd die Mondscheinsonate spielten. Spencer beobachtete Lilith, wenn sie spielte, er war sich nicht sicher, aber er meinte, ein kleines Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen, während sie die Augen geschlossen hatte. Spencer hätte sie stundenlang beobachten können, er fand es bewundernswert, dass sie ohne Noten spielte und dabei völlig sicher war, obwohl sie nicht einmal hinsah. Wahrscheinlich war Klavierspielen eine ihrer Fluchtmöglichkeiten vor dem Grauen gewesen, das sie durch ihre Eltern erlitten hatte. Wenn nicht ihr hartnäckiges Schweigen gewesen wäre, dann hätte man sie für völlig normale Frau halten können, die nicht durch ihre eigene persönliche Hölle gegangne war und wohl immer noch ging. Sie wirkte gerade fast glücklich und Spencer wusste instinktiv, dass sie in den letzten Jahren niemanden mehr so nah an sich herangelassen hatte. Als das Stück zuende war, sah Lilith ihn an. Sie lächelte tatsächlich, auch wenn es sehr unsicher wirkte. Sie stand auf und verließ den Raum. Spencer hatte keine genaue Ahnung, was passiert war, aber es schien so, als wenn es ihm gelungen war, ihren sehr dicken Schutzpanzer zu durchbrechen. Er blieb noch eine Weile sitzen. Sie hatte ihre Mappe mit den Notenblättern vergessen. Er blätterte sie durch, wobei ihm eine handschriftliche Notiz von Lilith auffiel. Er nahm sie heraus, sie hatte eine sehr schöne Handschrift, klares, nach rechts ausgelegtes Schriftbild.
Danke, dass du für deine Hilfe gestern nacht. Steven hat mich fast die ganze Zeit, die ich hier bin, belästigt, jede Nacht, wenn der Dienst hatte. Ich weiß nicht, warum du das tust, aber ich danke dir. Wenn dir danach ist, mir beim Klavierspielen zu zuhören oder mit mir mitzuspielen, ich bin jeden Abend um halb acht hier. Und wegen dem, was du neulich in der Gruppensitzung gesagt hast, ich denke nicht, dass du schuld bist.
Lilith
Spencer war überrascht, dass sie so reagierte. Es schien kaum möglich, dass Lilith tatsächlich ihren Schutzpanzer ablegen würde, aber sie hatte sich ein wenig geöffnet.
„Hey, hast du unser Schneewittchen verscheucht?" Unverkennbar Jasper, der den Raum betreten hatte.
„Nenn sie nicht immer so, sie hat einen Namen, sie heißt Lilith."
„Schon gut, was sitzt du am Klavier? Und hier geht so ein Gerücht um, dass Steven von der Nachtschicht gefeuert wurde."
„Ja, er wurde gefeuert, weil er sich an Patientinnen vergriffen hat."
„War schon ne komische Type. Sag mal, was hast du da?"
„Das ist privat, lass die Finger davon."
Doch Jasper war schneller und griff sich Liliths Notiz.
„Hey Alter, was ist denn passiert? So nah ist bisher kein Therapeut an sie herangekommen. Sag mal kann es zufällig was mit Stevens Kündigung zu tun haben?"
„Jasper, hör zu, das ist vertraulich, das geht niemanden etwas..."
„Ich habe recht, oder? Steven hat sich an Lilith vergriffen, aber was hast du damit zu tun? Hast du ihn dabei erwischt, wie er...?"
Spencers Schweigen war für Jasper Antwort genug.
„Oh man, so ein mieser Typ. Und du und Lilith? Sie hat dich zuhören lassen?"
„Mehr als das, wir haben zusammen gespielt."
„Spencer, du bist ein Genie. Sie scheint dir zu vertrauen."
„Um das sagen zu können, ist es noch zu früh."
„Bisher ist noch keiner an sie herangekommen, schon gar nicht so weit, dass sie jemanden beim Klavierspielen neben sich duldet. Hat sie was gesagt?"
„Nein, gesprochen hat sie nicht, das wird noch dauern, angesichts ihrer traumatischen Erfahrung."
„Denkst du, dass sie überhaupt irgendwann wieder an zu sprechen anfängt?"
„Ich habe keine Ahnung, es kann sein, aber im Moment, ohne ihre genaue psychotherapeutische Geschichte zu kennen, falls sie eine hat, ist es nicht abzusehen. Ich denke nicht, dass sie von einem Tag auf den anderen aufgehört hat, wie es nach einer schweren traumatischen Erfahrung war. Ich glaube, sie versucht, sich unsichtbar zu machen, indem sie nicht spricht, aber bis jetzt sind das alles nur Vermutungen. Und eigentlich geht es dich nichts an."
„Schon vergessen, dass du mich zuerst nach ihr gefragt hast?"
„Nein, aber es ist nicht gut, wenn ich versuche, ein Vertrauensverhältnis zu ihr aufzubauen und einfach mit Dritten über sie spreche."
„Verstehe."
Während der nächsten 2 Wochen trafen sich Spencer und Lilith jeden Tag um die gleiche Zeit, meistens spielten sie gemeinsam Klavier, wobei sie sich bei der Stückauswahl abwechselten. Es war wie eine Sprache zwischen ihnen, weil Lilith immer noch kein Wort gesagt hatte. Spencer sprach auch nur das Nötigste mit ihr, der Rest ihrer Kommunikation kam ohne Worte aus. Was die Musik anging, war Lilith nicht nur rein auf Klassik beschränkt, sie hatte ein ausgezeichnetes Gehör, wenn sie einen Song hörte, konnte sie ihn fast sofort aus dem Gedächtnis auf dem Klavier nachspielen. Es war faszinierend, und Spencer hätte ihr sehr viel länger als nur 2 Stunden zuhören können.
Als Spencer an einem Nachmittag mit Jasper wieder bei einer Partie Schach zusammen saß, die Jasper mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit verlieren würde, bekam er mit, dass einer der Pfleger Lilith etwas mitteilte, woraufhin sie ihm folgte. Es dauerte keine Viertelstunde, da sah er sie weinend nach draußen laufen.
„Ich erspare dir eine Niederlage", sagte er und ließ einen verdatterten Jasper zurück, als er Lilith folgte. Sie war in den Park gelaufen, es dauerte eine Weile, bis er sie auf einer Bank vorfand, wo sie die Knie unters Kinn gezogen hatte und weinte. Spencer wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn er sich zu ihr setzte, aber er tat es einfach. Selbst, wenn sie heftig weinte, gab sie keinen Ton von sich.
„Was ist passiert?"
Lilith sah auf, sie sah furchtbar traurig und verängstigt aus. Sie schüttelte nur den Kopf.
„Hat es etwas mit Steven zu tun?"
Wieder nur ein Kopfschütteln ihrerseits.
„Hat es etwas mit deinen Eltern zu tun?"
Als Lilith keine offensichtliche Reaktion zeigte, wusste Spencer, dass es etwas mit ihren Eltern zu tun hatte, bis sie ihn fragend ansah.
„Ich weiß, was sie dir angetan haben. Was ist vorhin passiert? Du kannst mir vertrauen, ich möchte dir helfen."
Lilith schüttelte jetzt sehr heftig den Kopf, bevor sie zitternd aufstand und gehen wollte. Spencer stand ebenfalls auf und wagte den Versuch, sie sanft an ihrem rechten Arm festzuhalten.
„Geh jetzt nicht, du brauchst keine Angst zu haben, egal, was es ist, sie können dir nichts mehr tun. Wenn du es mir nicht sagen möchtest, dann schreib es mir auf, aber geh jetzt nicht einfach weg. Lass mich dir helfen."
Lilith sah ihn an, und in ihrem Gesicht wechselten sich Angst, Wut und Zweifel ab.
„Man hat sie verhaftet."
Spencer glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, sie hatte sehr leise gesprochen, aber es war eindeutig sie gewesen, da sonst niemand bei ihnen war. Er versuchte ohne großen Erfolg, sie nicht wie das achte Weltwunder anzusehen, da er nicht damit gerechnet hatte, dass sie etwas sagte.
„Was hast du gerade gesagt?"
Sie holte tief Luft, als hätte sie das seit Jahren nicht getan und wiederholte: „Man hat sie verhaftet, man hat sie in New Mexico verhaftet, ihre falsche Identität ist aufgeflogen, als m… er einen Auffahrunfall verursacht hat. Sie werden hierher überführt, ein Detective war vorhin da, ich soll gegen sie aussagen, damit man ihnen den Prozess machen kann."
Spencer war sich sicher, dass sie in den letzten Jahren nicht mehr so viel gesagt hatte wie eben. Zudem war er überrascht, dass ihre Stimme so dunkel klang, aber das konnte auch daran liegen, dass sie lange nicht gesprochen hatte.
„Du solltest gegen sie aussagen, es könnte dir helfen, damit fertig zu werden."
„Ich kann nicht, " sie räusperte sich, und es hörte sich so an, als ob sie Schmerzen beim Sprechen hätte, „und ich will auch nicht, das, was sie mir angetan haben, war so schlimm. Ich war ihre Tochter, sie haben mich …, ich kann einfach nicht."
„Lilith, ich weiß, ich bin nicht gerade derjenige welche, der große Vorträge über die Thematik des sich Öffnens gegenüber anderen halten sollte, aber sie haben dich lange genug beherrscht durch das, was sie mit dir gemacht haben. Sie haben sich lange genug vor der Verantwortung versteckt, die Konsequenzen tragen zu müssen."
„Du verstehst das nicht. Ich will nicht mehr darüber nachdenken."
„Es gibt zwar genügend Beweise gegen deine Eltern, aber mit deiner Aussage werden die Vorwürfe noch glaubwürdiger."
„Ich kann das nicht vor anderen erzählen, was all die ganzen Jahre über passiert ist."
Lilith riss sich von Spencer los und ging. Er wusste, dass es keinen Sinn haben würde, jetzt mit ihr zu reden. Er sah ihr hinterher, es war klar, dass sie so reagierte. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, sich über Jahre hinweg so zu betäuben, dass die Erinnerung an den Missbrauch durch ihre Eltern und andere verschüttet gewesen war. Jetzt war es viel zu plötzlich wieder an die Oberfläche gezerrt worden. Aufgrund seiner eigenen Erfahrung konnte er sie zum Teil verstehen, dass sie es am liebsten sofort vergessen würde, um nie wieder daran erinnert zu werden, aber er wusste auch, dass es bei einem Prozess einen großen Einfluss auf das Strafmaß haben würde, wenn sie aussagte und vor den Geschworenen darüber berichtete, was ihre Eltern und andere ihr angetan hatten.
Am Abend saß Spencer in seinem Zimmer und las, als es klopfte.
„Ja, bitte?"
Die Tür wurde vorsichtig geöffnet. Es war Lilith. Spencer sah sie mehr als überrascht an. Er hatte Lilith während des Abendessens nicht gesehen.
„Kann ich reinkommen?"
„Klar, komm rein."
Lilith stand etwas unentschlossen im Raum, bis Spencer neben sich aufs Bett klopfte.
„Setz dich."
Lilith setzte sich zögernd neben ihn.
„Ich habe Angst," sagte sie leise, „ich weiß nicht, wie ich darüber sprechen könnte, ob ich es überhaupt kann. Ich habe bisher mit niemandem darüber gesprochen. Und es wollte auch noch nie einer hören, außer damals, als man das erste Mal ermittelt hat, aber da haben die Psychologen gesagt, dass ich aufgrund der traumatischen Erfahrung nicht vernehmungsfähig sei."
„Lilith, es kann dich keiner zwingen, auszusagen, das will auch keiner."
„Ich fühle nichts mehr für sie, ich hasse sie nicht mal mehr, sie könnten mir nicht weniger bedeuten, selbst wenn sie tot wären, aber ich will, dass man sie verurteilt, für das, was sie getan haben. Ich habe eh nichts mehr zu verlieren."
„Hat sich etwas an deiner Entscheidung geändert oder willst du nicht gegen sie aussagen? Du solltest dir darüber im Klaren sein, dass man dir nahelegt, auch vor Gericht auszusagen. Das ist eine sehr große Belastung, weil man dir Fragen stellen wird, auf die du sehr detailliert antworten müsstest, und die Verteidung wird versuchen, deine Glaubwürdigkeit und auch alle anderen Zeugen der Anklage in Frage zu stellen und die Vorwürfe zu entkräften. Es kann dir keiner verdenken, wenn du dabei bleibst, nicht aussagen zu wollen, weil du zu große Angst hast. Aber wenn du dich dazu entschließt, ihnen entgegenzutreten und dem, was sie getan haben, ich kann es dir nur anbieten, aber ich würde dich begleiten, damit du nicht allein wärst."
Lilith sah Spencer überrascht an.
„Das würdest du wirklich tun?'
„Ja, also nur, wenn du willst."
„Ich weiß nicht, ob es so ist, aber ich habe ein wenig das Gefühl und das eigentlich zum ersten Mal in meinem Leben, dass ich dir vertrauen kann."
„Das kannst du auch."
„Wie wird das ungefähr ablaufen?"
„Es ist eigentlich immer unterschiedlich, aber aufgrund der Lage des Falls wirst du auf jeden Fall mit einer Frau sprechen, die eine spezielle Ausbildung absolviert hat."
„Kannst du bitte mit dabei sein? Ich würde mich sicherer fühlen, wenn du dabei wärst, du hast mir schon wegen der Sache mit Steven geholfen. Ich weiß nicht, ob das möglich ist, aber ich glaube, ich schaffe das allein nicht, ich hab immer versucht, alleine damit irgendwie fertig zu werden, aber ich bin immer nur weggelaufen, hab mich betäubt, dadurch versucht, es zu vergessen."
Als Lilith wieder in Tränen ausbrach, schloss Spencer sie in seine Arme.
„Nicht weinen, es wird alles wieder gut werden."
„Wie kannst du das sagen? Es ist alles kaputt, den Rest Leben, den sie mir gelassen haben, habe ich vollkommen zerstört. Wenn ich hier wieder rauskomme, geht doch alles wieder von vorne los."
„Nein, das wird es nicht."
„Du verstehst das nicht, ich habe absolut nichts, keinen Highschoolabschluss, ich war nie auf dem College, geschweige denn auf einer Uni, ich habe noch nie gearbeitet, außer auf dem Strassenstrich, wenn man das als Job bezeichnen kann."
„Den Abschluss kannst du nachholen, nur du musst aus deiner alten Umgebung raus."
„Und wie?"
„Wenn du..."
„Nein, vergiss es, ich will jetzt nicht darüber reden."
„Aber die Aussage wirst du machen?"
„Ja, ..., und du kommst wirklich mit?"
Spencer nickte und wollte ihr sanft die Tränen aus dem Gesicht streichen, aber sie wich unwillkürlich zurück.
„Es tut mir leid, ich wollte dir nicht weh tun."
„Ich werde jetzt besser gehen. Ich sag dir bescheid, wann ich aussage."
„Lilith, warte..., ich wollte dir nicht zu nahe treten."
„Du konntest es nicht wissen, aber mein Vater hat das jedes mal gemacht, wenn entweder er mich missbraucht hat oder einer der anderen, dann kam er anschließend zu mir und hat mich getröstet."
Spencer sah sie betroffen an. Als er etwas sagen wollte, schüttelte Lilith den Kopf.
„Sag nicht, dass es dir leid tut. Du konntest es einfach nicht wissen. Es wäre anders, wenn ich schon mal darüber gesprochen hätte."
„Warum denkst du, dass du mir vertrauen kannst?"
„Was?"
„Du bist seit 3 Monaten hier und hast bisher kein einziges Wort gesprochen und hast niemanden an dich herangelassen."
„Hör zu, wenn es dir zu viel ist, dann sag es, ich werde das auch schon alleine schaffen, bisher war ich immer allein."
Lilith stand auf und wollte Spencers Zimmer verlassen.
„Und wo hat es dich hingebracht?"
Lilith drehte sich wieder um, sie sah sehr wütend aus.
„Du hast nicht das Recht, mich das zu fragen. Niemand hat das Recht dazu, niemand hat eine Ahnung, wie es ist, so gequält zu werden. Im Alter von 8 Jahren hab ich das Vertrauen in meine Familie verloren, als mein Vater mich zum ersten Mal sexuell missbraucht hat. Als meine Eltern verschwunden sind, hatte ich niemanden mehr, ich hab eh keinem mehr vertraut, und ich hatte absolut niemanden, zu dem ich hätte gehen können. Ja, ich hatte falsche Freunde, die mir die Möglichkeit gezeigt haben, vor der Realität meines Lebens davonlaufen zu können, was ich gerne in Anspruch genommen habe. Ich wollte nicht darüber sprechen, und ich selbst wollte nicht daran erinnert werden. Ich wollte nie wieder daran erinnert werden, deswegen habe ich immer einen Weg gesucht, so zu sein zu sein, dass ich nicht darüber nachdenken muss. Und mit wem hätte ich auch darüber reden sollen? Ich dachte, dass ich nie wieder jemandem vertrauen könnte, bis du hierher kamst. Nach dem, was du über dich erzählt hast und was dir passiert ist, hatte ich das Gefühl, dass du jemand sein könntest, der verstehen könnte, was mir passiert ist, warum ich so geworden bin. Ich hatte es so tief in mir vergraben, weil ich dachte, dass es nie jemand auch nur ansatzweise nachvollziehen könnte. Und als du mir geholfen hast wegen Steven, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber ich hab das Gefühl gehabt, dass du mir wirklich helfen willst. Ich ...," Lilith wollte weitersprechen, doch ihre Stimme versagte. Sie war sehr laut geworden, und sie weinte immer noch. Sie stand im Raum, und sie wirkte ziemlich verloren. Spencer ging auf sie zu und umarmte sie. Lilith brach weinend zusammen.
„Ich hab Angst, dass alles wieder hochkommt, dass es mich Nacht für Nacht wieder verfolgt, dass es mich nie loslassen wird." Ihre Stimme war nicht mehr als ein von Tränen ersticktes, heiseres Krächzen, doch Spencer verstand sie. Als eine der Schwestern die Tür öffnete, weil sie sich über den Lärm wunderte, gab Spencer ihr durch ein Handzeichen zu verstehen, dass er die Situation unter Kontrolle hatte. Er hielt sie fest und streichelte beruhigend über ihren Rücken. Er hätte ihr gern gesagt, dass alles wieder gut werden würde, aber er wusste, dass sie ihm nicht glauben würde. Lilith hatte ihre Fingernägel in seine Schultern gekrallt, während sie laut schluchzte.
„Shhhshhh, ganz ruhig, es ist in Ordnung, lass es raus."
„Warum tust du das?" fragte sie leise.
„Weil es für dich so nicht weitergehen kann, du machst dich sonst völlig kaputt."
Doch Lilith konnte sich während der nächsten Minuten nicht beruhigen, sie wurde von Weinkrämpfen geschüttelt und Spencer konnte nichts anderes tun, als sie festzuhalten und versuchen, sie zu beruhigen. Nach einer ganzen Weile wurde sie ruhiger, ihr Schluchzen wurde leiser und sie hörte auch auf zu zittern. Es hatte den Anschein, als wenn alles, was sie jahrelang zurückgehalten hatte, jetzt aus ihr hervorbrach. Als sie aufsah, konnte sie es zulassen, dass Spencer ihr die Tränen aus dem Gesicht strich. Sie schloss die Augen unter seiner Berührung.
„Danke," sagte sie leise.
„Schon okay. Geht es wieder?"
Sie nickte, bevor sie sich aus seiner Umarmung löste.
„Ich werde jetzt gehen."
„Wenn du reden willst, du weißt, wo du mich findest."
„Ja, ich weiß."
Als Lilith an der Tür stand, drehte sie sich noch einmal um.
„Gibt es jemanden, der da draußen auf dich wartet?" fragte sie.
„Na ja, also außer meinen Kollegen und meinem Kater ..."
Das ist der Unterschied zwischen uns beiden, auf dich wartet jemand, auf mich wartet nichts und niemand."
Noch bevor Spencer etwas erwidern konnte, war sie gegangen. Er überlegte erst, ihr nachzugehen, ließ es dann aber sein.
