Stimmen aus dem Erdgeschoss wecken mich. Ich öffne die Augen einen Spalt, weit genug, um das Sonnenlicht zu bemerken, das bereits den Raum erfüllt. Schließe die Augen wieder, genieße die Dunkelheit, begrüße sie beinahe. Jeder Morgen leitet einen neuen Tag ein, an dem ich nicht hier sein will. Nirgendwo sein will. Der Gedanke kommt mir, das es eine Erleichterung wäre, nie wieder geweckt zu werden. Sofort bereue ich es. Ich hab es aus Afghanistan nach Hause geschafft, also werde ich es wohl auch schaffen, Tageslicht auszuhalten. Ich atme tief durch, öffne meine Augen. Staub tanzt im Sonnenlicht. Eine Fliege setzt sich auf den Lampenschirm an der Decke. Undeutlicher Lärm, der von unten bis in mein Zimmer dringt. Keine Sekunde später klopft es laut an meiner Tür.
Laute Geräusche sind mir unangenehm. Laute Geräusch erinnern mich an Schüsse. Ich drehe mich in meinem Bett um und ignoriere den Menschen auf der anderen Seite der Tür, wer immer es sein mag.
»John? Sind Sie wach? Hier ist Molly. Ich...ich habe gute Neuigkeiten. Der Detective Inspector war erfolgreich, wir wissen vielleicht, wo er sich zurzeit aufhält. Kommen Sie doch nach unten, Mrs Hudson hat Ihnen einen Tee gemacht.«
Ich spüre förmlich, wie sie zögert. Da ist noch etwas, das sie sagen will, aber stattdessen höre ich, wie sich Schritte entfernen.
Ich verspüre keinerlei Anlass, nach unten zu gehen und die allgemeine Aufregung zu teilen, dass Detecticve Inspector Lestrade vom Yard anscheinend Sherlock Holmes Aufenthaltsort ausfindig gemacht hat. Habe keine Lust, ihnen zu sagen, dass sie ihn nur finden werden, wenn er gefunden werden will.
Ich weiß seit etwas mehr als einem Monat, dass mein ehemaliger Mitbewohner und bester Freund Sherlock Holmes noch am Leben ist. Molly hat es mir gesagt, mir aus Mitleid alles gestanden. Wie Holmes uns alle zum Narren hielt. Wie er seinen Selbstmord vortäuschte, um verschwinden zu können. Der Aufwand, den er betrieben hat, ungeheuerlich. Er sorgte dafür, dass er den Ort auswählen konnte, an dem er schlußendlich mit Jim Moriarty aufeinandertreffen würde. Mobilisierte sein Obdachlosennetzwerk, damit er von den richtigen Leute zum richtigen Zeitpunkt gefunden wurde. Sorgte dafür, dass ich alles sah, was passierte, und in Wirklichkeit gar nichts sah. Sorgte dafür, dass ich ihn nur von einem bestimmten Punkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah und erst näher heran kam, als seine Helfershelfer den Tatort bereits hergerichtet hatten. Sorgte dafür, dass ein kleiner Ball aus Gummi, wie man ihn vielleicht als Spielzeug für kleine Hunde benutzt, vortäuschte, er hätte keinen Puls.
Eine grandiose Vorstellung. Ausgeklügelt bis ins kleinste Detail, ich wäre niemals dahinter gekommen, wäre Molly nicht gewesen.
Natürlich hab es Hinweise, doch die wurden mir erst bewusst, als ich die Wahrheit erfuhr. Mycroft Holmes Kälte auf der Beerdigung seines Bruders. Mollys trauriges Gesicht, aber nie echte Tränen. Holmes Worte bei unserem letzten Telefonat, »Es war alles ein Trick, ein Zaubertrick«. Er wusste, ich würde sein Spiel ja doch nicht durchschauen. Er hat Recht. Ich bin zu beschäftigt damit, um ihn zu trauern.
Weil ich es einfach nicht mehr im Bett aushalte, beschließe ich, mich den Stimmen, die immer noch aus dem Erdgeschoss zu mir heraufdringen, zu stellen. Ich ziehe eine Jeans und einen Pullover über. Beide sind mir zu groß geworden, Essen war in den letzten Monaten kein essentieller Bestandteil meines Lebens.
Langsam gehe ich die Treppe nach unten und sehe das Mitleid in den Augen meiner morgendlichen Besucher. Greg Lestrade, Mrs Hudson, Molly, sogar Sally Donovan, alle sind sie da. Lestrade hat eine Akte in der Hand. Sie ist sehr dünn.
»Oh John, da sind Sie ja! Kommen Sie, ich habe Ihnen einen Tee gemacht.»
»Danke, Mrs Hudson.« Ich nehme den Tee entgegen und setze mich. Fühle mich so erschöpft, dass ich sofort wieder kehrtmachen und nach oben gehen könnte.
»Wir haben gute Neuigkeiten, John. Er ist in Norwegen Teil eines Forschungsprojektes und so konnte ich ihn aufstöbern. Meine Leute suchen dort bereits nach ihm, ich erwarte sozusagen jede Minute ihren Anruf. Nicht auszuschließen, dass er Wind davon bekommen hat, dass ich ihm auf den Fersen bin, aber ich hoffe, wir sind nicht zu spät.« Erwartungsvoll sieht er mich an.
Ich trinke einen Schluck Tee, er ist fast kalt, aber schmeckt noch immer hervorragend. Trinke noch einen Schluck. Atme tief durch. »Klingt nach einem Durchbruch, Inspector.«
«Ist es!« Er ist sichtlich stolz auf sich, und wenn ich so darüber nachdenke, ist es wirklich eine beeindruckende Leistung. Ich zweifele zwar keinen Augenblick daran, das Sherlock bereits über alles im Bilde ist, aber ob er wohl damit gerechnet hat, dass Lestrade so weit kommt? Seit ich vor einem Monat in sein Büro beim Scotland Yard gestürzt war und von ihm wissen wollte, ob er auch von dem vorgetäuschten Selbstmord wusste, widmet er sich nur noch der Verfolgung Sherlocks. Im Übrigen wurde er genauso im Dunkeln gelassen wie ich. Sherlock fand Molly vertrauenswürdig, eine Frau, die er kaum je bemerkt hat. Aber seinen Mitbewohner, seinen Freund... Der Gedanke war zu schmerzhaft um ihn weiterzuverfolgen.
»Freuen Sie sich denn gar nicht? Er wird vielleicht bald wieder hier mit Ihnen im Wohnzimmer sitzen und Tee trinken!« Molly.
»...oder die Wände ruinieren, indem er mitten in der Nacht in der Wohnung herumballert«, höre ich Mrs Hudson murmeln.
Freue ich mich? Nein. Um ehrlich zu sein, fühle ich keine Freude. Ich fühle mich betrogen, hintergangen, alleingelassen, hinters Licht geführt. Wie konnte Sherlock das tun, und warum? Moriarty lag tot auf dem Dach des St. Barths, von ihm drohte keine Gefahr mehr. Warum also? Ich habe keine Ahnung. Vielleicht hatte er es satt, das alles hier, sein Leben in London. Vielleicht hatte er genug von der schlechten Presse und seinem miserablen Ruf, auch wenn er sonst immer so tat, als kümmere es ihn nicht, was andere von ihm dachten. Vielleicht hatte er auch genug von mir. Vielleicht war ihm meine Gesellschaft lästig geworden und er hatte die Befürchtung, ich würde ihn weiter wie einen Stalker verfolgen, wenn er mich einfach aus der Wohnung wirft.
»Sicher ist es vernünftig, nicht zuviel zu erwarten. Sie machen das ganz richtig, John», meldet sich Sally Donovan zu Wort. Ich ignoriere sie, wie üblich. Nehme ihr immer noch übel, dass sie dazu beigetragen hat, dass ich nun alleine in der Baker Street 221b wohne. Seit 4 Monaten habe ich keine volle Miete mehr bezahlt, alleine kann ich mir die Wohnung nicht leisten, aber Mrs Hudson hat Mitleid mit mir.
Immer, wenn ich ihr versichere, dass ich alles zurückzahlen werde was ich ihr noch schulde, schäme ich mich zu Tode.
Eine Stunde später sind alle gegangen. Ich habe die Morgenzeitung gelesen, einen halben Toast heruntergewürgt und suche im Internet nach Stellenanzeigen. Mich um andere zu kümmern, das war meine Bestimmung. Es erfüllte mich mit Stolz, Wunden zu heilen, es gab mir ein gutes Gefühl. Nachdem ich bei Sherlock Holmes so versagt hatte, wollte ich nicht mehr als Arzt arbeiten. Ich hatte einen Hausmeisterjob angenommen, nur ein paar Stunden pro Tag. Kaum Kontakte und die Leute übersahen mich leicht, das war mir nur Recht. Doch nach ein paar Wochen fing meine Schulter an zu schmerzen, dort, wo ich in Afghanistan verwundet worden war. Bald konnte ich nicht mehr arbeiten, lebte von meiner kleinen Rente. Die Schmerzen ließen nach, als ich den ganzen Tag im Bett lag, aber ich kann nicht ewig meine finanziellen Probleme auf die arme Mrs Hudson abwälzen.
Gegen Abend bekomme ich schlimme Kopfschmerzen und lege mich auf die Couch. Es ist vollkommen still um mich herum. Ich stelle mir vor, wie Sherlock mit seiner Geige am Fenster steht und eines seiner melancholischen Lieder spielt, wie die Töne mich langsam in den Schlaf wiegen.
Als ich erwache, ist es bereits dunkel draußen, wie lange habe ich geschlafen? Ich sehe auf die Uhr in meinem Handy. Kurz nach Mitternacht. Und...Zwei verpasste Anrufe sowie eine Textnachricht von Lestrade.
»Haben ihn! Flieger landet um Mitternacht. Hat meine Leute bereits erwartet. Er ist gesund und ganz der Alte.«
Er ist in England. Hier in London. Noch in dieser Nacht wird er hier durch die Tür spazieren, seinen Mantel achtlos auf den Sessel werfen und nachsehen, ob ich auch ja seine Experimente auf dem Küchentisch in Frieden gelassen habe.
Meine Hände fangen an zu zittern. Ich schwitze. Starre auf die Tür. Wenn ich sie auch nur einen Augenblick aus den Augen lasse, werde ich ihn verpassen, dann wird er fortbleiben und ich für immer in dieser Dunkelheit festsetzen. Panik erfasst mich. Was wird er sagen? Wie wird er sich entschuldigen, wie sich erklären? Was soll ich tun, wie reagieren? Mein Herz überschlägt sich fast vor Aufregung. Ich brauche einen Drink. Etwas Starkes.
Gerade als ich mich aus dem Sessel erhebe um mir einen Whiskey Sour zu machen, höre ich, wie jemand die Haustür unten aufschließt. Ich werde kurzatmig. Zittere jetzt unverhohlen am ganzen Körper. Er ist zurück, wieder da, wieder hier in der Baker Street. Ich will zur Tür laufen und ihm entgegen kommen, doch an der Tür verharre ich plötzlich. Schritte auf der Treppe, langsam, viel zu langsam für Sherlocks energischen Gang.
Vier Sekunden absolute Stille. Ich halte den Atem an. Ein ganzes Leben liegt in diesen vier Sekunden. Was, wenn es nicht Sherlock ist? Was, wenn er es doch ist? Was wenn er-
Und die Tür öffnet sich.
