Dunkelheit.

Er konnte förmlich riechen wie die Ratten an der Matte, die ihm als Bett diente knabberten. Und doch sah er in seinem Kopf fünf blassblaue Hefte an ihrer Stelle, sorgsam nummeriert, mit dem Stempel des Évêché – Gefängnisses versehen. Seine Erinnerungen, sein Leben. Ihm entrissen und so genannten Gelehrten zum Fraße vorgeworfen. Alles, was er noch hatte, alles. Das letzte Stück Freiheit, in den Händen Füße küssender Großmäuler, die zusahen wie die Armen ärmer, die Hungernden schwächer und schwächer, die Könige, Kaiser, Zaren immer fetter und fetter, sorgloser und verschwenderischer wurden. Während Menschen starben und hungerten und Verfechter des Rechts wie er in Dunkelzellen saßen.

Zwölf Jahre. Zwölf Jahre war es her das er das Licht gesehen, eine Frau geküsst, geatmet, gelebt hatte. Leben. Es war ihm fremd geworden, nachdem sie ihm den Stolz genommen hatten. Ohne vieles hatte er es zu Leben geschafft, ohne eine richtige Mahlzeit, Wasser, Kleidung, Fürsorge. Liebe. Selbst die Freiheit hatte er gegeben. Doch ohne seinen Stolz war er gebrochen. Nach zwölf langen Jahren Anstrengung hatten sie es geschafft ihm den Stolz zu nehmen. Der Schlüssel waren seine Erinnerungen.

Er zitterte, am Boden, nicht in der Lage die Kontrolle über seinen Körper wiederzuerlangen. Er hatte keinen Willen mehr. So viele klägliche Versuche waren gescheitert, so viele Hilfeschreie verstummt worden, er konnte sie nicht zählen. Luigi war nicht dumm. Man musste ihn los werden. Er wusste, er war ein Aussätziger, auch hier zwischen all den Mördern.

Er bereute nichts. Nichts, nichts, gar Nichts. Er hatte nichts getan, was falsch war. Nicht aus Eitelkeit, nicht aus Dummheit. Er war nicht dumm. Zwölf Jahre waren genug Zeit die Bibel zu studieren, die großen Philosophen auswendig zu lernen, Französisch zu sprechen. Die Sprache der Aristokratie.

"Ich bereue nichts!" Stille.

"Ich bereue nichts! Hört ihr! Nichts!" Seinen Stimme lockte die Stille wieder aus den Löchern hervor. So laut und bedrohlich, das sie nicht nur zusehen konnte, denn sie hatte ihren Stolz noch.

Sie war das Schlimmste.

Die Stille. Sie war das Nichts. Sie leget sich wie Samt auf Luigis Ohren, den er noch nie zwischen den Fingern gespürt hatte, drückend, erdrückend. Er hatte sie nie gekannt. Woher auch? Im Kinderheim das lärmende Grölen heranwachsender Jungen, der trunkene Gesang des alten Monici in seiner ersten Pflegefamilie, das hysterische Gekreische der Nicasi Jahre später... der Trubel auf der Rue da la Mercerie. Stille war ihm fremd. Sie beängstigte ihn, sie trieb ihn in eine Ecke. Also sang er, schrie er, redete er, las er dem Nichts vor. "Ich BEREUE nichts!"

Mit dem Schreien ging die Wut einher, mit der Wut die Aggression. Luigi neigte schon immer dazu, um sich zu schlagen zu zertrümmern, was an leblosem zu zertrümmern war. Doch hier war nichts. Nichts außer Stroh und Ratten. Und ihm. Hilflos stolperte er, schlug sich ins Gesicht.

"Wach auf, wach auf, WACH AUF, Lucheni!" Er klammerte sich am Stroh fest, das auf dem Boden lag, schmutzig, stinkend, alt.

"Ich bereue nichts! NICHTS!" Er hatte das Richtige getan. Er hatte aus Überzeugung gehandelt, ja, aus Glauben. Glauben an Gerechtigkeit.

Die Stille war nicht das Schlimmste.

Er hatte zwar die Welt gehasst, doch das Leben aufrichtig geliebt. Zwei Dinge, die nicht in einem Herzen miteinander einhergehen. Es war die Zerrissenheit, sein unbefriedigtes Verlangen nach Recht, diese Verzweiflung.

"Ich bereue... bereue..."

Luigis Luchenis Hände fanden seinen Gürtel. Er fühlte die Stille, wie sie seinen Hals abschnürte. Sah sich in der Dunkelheit um, die Augen weit aufgerissen.

"Nichts."