„Warum redest du nie darüber?"
Ungläubig sah Kelly seine Freundin an, die sich von ihm abwandte und ihm den Rücken zudrehte.
„Erin, wir sind jetzt seit über einem Jahr zusammen. Wir leben in einer Wohnung. So wie es auf deine Kindheit oder deine Teenagerzeit zu sprechen kommt, machst du komplett zu. Was ist denn so schlimm, dass man nicht darüber sprechen kann?"
Nervös strich sie ihre langen Haare hinter das Ohr, widmete sich dann wieder der Zubereitung des Essens.
Doch Severide ließ nicht locker. Behutsam tastete er sich von hinten an sie heran, weshalb sie ihn abschüttelte, anschließend lautstark das Messer bei Seite legte.
„Ich bin auch immer ehrlich", sprach er verletzt, während sie mit den Tränen kämpfte.
Irgendwann musste sie es ihm sagen. Er hatte ein Recht darauf.
„Kelly, ich weiß nicht, ob ich dir das jetzt alles erzählen möchte."
Aber er ließ nicht locker.
„Du brauchst dich für nichts zu schämen", betonte er wiederholt, weshalb sie resignierend die Augen schloss. Jetzt war er offenbar gekommen. Der Moment, indem sie es aussprechen musste.
Sie wandte sich von ihrem Freund ab, nahm auf einem der Hochstühle in der Küche Platz.
„Versprich mir etwas", setzte sie ihn unter Druck, traute sich aber nicht Kelly in die Augen zu sehen. Dieser nickte verstehend.
„Die Sache bleibt unter uns. Ich möchte nicht, dass es in einer Woche deine komplette Wache weiß."
Er erhob Zeige und Mittelfinger zum Schwur. Erin stöhnte, bevor sie zu reden begann.
„Voight ist nicht mein leiblicher Vater. Ich habe vier Jahre auf der Straße gelebt, bevor ich zu ihm gekommen bin. Meine Jugend war nicht einfach."
Geschockt sah Kelly seine Freundin an, setzte sich aber ihr gegenüber, um ihren Worten zu lauschen. Damit hatte der junge Lieutenant nicht gerechnet.
Als Erin realisierte, dass er Mitgefühl für ihre Geschichte zeigte, setzte sie fort.
„Meine Mutter ist drogenabhängig. Mein Vater war im Knast, seitdem ich denken kann. Raubüberfälle, Beschaffungskriminalität. Das komplette Programm. Ich habe ihn nie richtig kennen gelernt. Mit 10 musste ich zum ersten Mal für meine Ma dealen. Ab da ging es dann immer weiter bergab. Ich fing an Marihuana zu rauchen, wurde selbst abhängig. Mit 14 bin ich bereits 5 Mal festgenommen wurden. Irgendwann ist meine Mutter aus dem Therapieprogramm rausgeflogen, nachdem ich auf der Straße und in Notunterkünften groß geworden bin. Sie kam nicht mehr nach Hause. Danach sollte ich endgültig ins Heim. Ich bin immer wieder abgehauen, bis ich selbst obdachlos war. Ich habe unter Brücken geschlafen, geklaut, gedealt, bin mit Freunden irgendwo eingestiegen, bis ich bei Festnahmen auf Voight traf."
Sie sah auf den Boden, während Kelly sie bestürzt musterte.
„Ich habe für Hank als Zuträger gearbeitet. Später hat Voight die Sozialarbeiterin von der Fürsorge bequatscht. Seine Frau und er haben mich bei sich aufgenommen. Da war ich 15. Er hat mich richtig hart behandelt, aber im Nachhinein war es genau das was ich brauchte, damit mein Leben wieder in geregelte Bahnen verlief."
Erins Stimme zitterte. Es war eines dieser finsteren Kapitel, über die sie sehr selten sprach.
Kelly strich über ihren Arm.
„Ich kam auf diese katholische Mädchenschule. Anfangs war es in Ordnung, bis einige Mitschüler über Dritte von meiner Vergangenheit erfuhren. Es wurde die Hölle auf Erden. Aber ich habe es durchgestanden, war einfach zu stolz. Ich hätte Hank nie davon erzählt. Ich wollte ihn nicht enttäuschen. Mit 20 bin ich zur Polizei gegangen, habe mich ausbilden lassen. Entweder gut oder schlecht. Etwas dazwischen gab es für mich nicht mehr. Über Voights Beziehungen bin ich in seiner Einheit gelandet."
Severide nickte verstehend.
„Wann hast du deine Mum zum letzten Mal gesehen?"
Lindsey lächelte traurig, schüttelte dann mit dem Kopf.
„Vor zehn Jahren, schlafend in Pappkartons vorm Supermarkt. Ich weiß nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebt."
Erin traten die Tränen in die Augen.
„Ohne Voight wäre ich jetzt nicht hier."
Kelly nickte ihr ernst zu.
„Für mich war er der Vater, den ich nie hatte."
Ihre Stimme brach am Ende des Satzes.
„Vor zwei Monaten traf ich diesen Teenager. Ihr Name war Nadia. Straßenkind, kein fester Wohnsitz. Die Arme komplett zerstochen. Kein freier Platz vor lauter Einstichstellen. Jedes Mal wenn ich jemanden wie sie sehe, fühle ich mich an damals zurück erinnert. Sie war wie die 14 jährige Erin, die von einem Tag zum anderen lebte. Und das tut weh."
Sie weinte leise, weshalb Kelly sie wortlos in seine Arme nahm.
Er wiegte sie leicht hin und her, während sie ihren Tränen freien Lauf ließ.
„Es war hart so aufzuwachsen", stellte Erin kurz darauf fest, nachdem sie sich schniefend von ihm löste.
„Ich möchte diesen Fehler meiner Mum später nicht wiederholen", stellte sie fest und musste sich dabei scharf auf die Zunge beißen.
Severide sah sie verständnisvoll an, obwohl er kaum ahnte, was es mit dieser Aussage auf sich hatte.
Sie atmete tief ein und aus. Wann wenn nicht jetzt? Eigentlich wollte sie es ihm schon viel eher mitteilen.
„Kelly, ich…muss dir etwas sagen."
Der Lieutenant, der nichts Gutes erahnte, sah sie verwundert an, während sie seine Hand griff.
„Ich bin schwanger."
Verdattert starrte er sie an, bis sich seine geschockte Miene zu einem breiten Grinsen wandelte.
„Seit wann? Ich meine…?"
„Achte Woche", flüsterte Erin, während sie aus ihrer Hosentasche ein viel sagendes Ultraschallbild holte und beide anschließend in einem tiefen Kuss versanken.
Erin musste trotz ihrer Tränen lächeln.
