Spoilerwarnung: Die Geschichte beginnt mit der letzten Episode von Staffel 10. Sie folgt von da an zwar einem eigenen Handlungsstrang (AU), enthält aber dennoch Spoiler zu Staffel 11. (Vor Allem bezüglich in Staffel 11 vorkommender Personen.)

Im Ersten Kapitel gibt es noch wenig neue Handlung. Die folgt dann in Kapitel 2.

Kapitel 1

Sternenhimmel

Es war eine sternklare Nacht. Sam saß auf der Motorhaube des Impalas, den Blick gen Himmel gerichtet. Millionen von Sternen leuchteten über ihm, durchbrachen die Dunkelheit, die ihn umgab. Doch die Finsternis, die ihre kalten klauen um sein Herz geschlungen hatte, vermochten sie nicht zu durchdringen. Nichts vermochte das. Er hatte schon so lange kein Licht mehr gesehen.

Die Sterne vor seinen Augen begannen zu verschwimmen, als er die Tränen nicht länger zurück halten konnte. Beinahe unbewusst schickte er ein Stummes Gebet gen Himmel.

„Bitte, Gott, das hat er nicht verdient. Bitte, ich … ich weiß nicht weiter. Bitte, …"

Mehr als ein gestammeltes Flehen brachte Sam nicht zustande. Nicht heute Nacht. Er betete und flehte, er schrie und tobte, seit Wochen, seit Monaten. Etwas anderes blieb ihm nicht übrig. Etwas anderes konnte und durfte er nicht tun. Um Deans Willen. Also betete er, zu einem Gott, von dem er nicht wusste, ob er ihn überhaupt hörte. Und von dem er nicht wirklich glaubte, dass es ihn interessierte. Er betete jede Nacht, manchmal voller Verzweiflung, manchmal voller Wut.

Sams Augen drifteten zwischen all den Sternen umher, die am Nachthimmel leuchteten. Wie oft hatte er mit seinem Bruder so dagesessen, stundenlang, in die Unendlichkeit des Weltalls geblickt. Wie sehr hatten sie die Gegenwart des anderen genossen, sich sicher und geborgen gefühlt neben der vertrauten Seele, klein und schmal im Angesicht der unfassbaren Weite des Alls. Jetzt fühlte er sich einfach nur winzig und machtlos, das war alles was geblieben war. Und einsam, so unendlich einsam.

„Dean, wo bist du?"

5 Monate und 6 Tage früher…

„Dean, wo bist du?"

Sam presste den Hörer ans Ohr. Die Sorge um Dean wühlte in seinem inneren. Vorsichtig gestatte er sich einen Hauch von Erleichterung darüber, dass sein Bruder ein Lebenszeichen von sich gab. Wenn er ihn nur finden würde, könnten sie alles andere aussortieren. Sie würden eine Lösung finden, er würde nicht aufgeben. Gemeinsam würden sie das Kainsmal besiegen.

„Sam, wir müssen reden." Deans Stimme klang merkwürdig verhalten. Gepresst. Sam wusste nicht, was es war, dass seinen Bruder umtrieb, aber er klang gar nicht gut!

„Wo bist du? Ich komme!"

Die Bar lag mitten im Nirgendwo. Längst verlassen, die großen Bogenfenster mit Brettern vernagelt, strahlte sie Trostlosigkeit aus. Was wollte Dean an diesem Ort? Sam parkte Baby auf der Wiese vor dem Gebäude, die sicher einmal ein Parkplatz gewesen war. Das ungute Gefühl, dass ihn bei Deans Anruf befallen hatte, verstärkte sich noch. Und doch hielt sich auch der Hoffnungsschimmer hartnäckig in seinem Inneren.

Als er in dem Hotelzimmer Deans Autoschlüssel und den Zettel mit den Worten „Sie gehört ganz dir" gefunden hatte, hatte ihn Verzweiflung überfallen. Und eine Angst, die sich in seine Eingeweihte fraß. Er wusste, das war ein Abschiedsbrief. Wusste es leider nur zu gut aus Erfahrung. Doch dann kam der Anruf. Dean wollte reden. Sam hatte noch eine Chance, seinem Bruder zu helfen. Ihm beizustehen. Ihm zu zeigen, dass er nicht allein war. Wie sehr er gebraucht wurde.

Entschlossenen Schrittes betrat Sam die Bar.

Was er sah, ließ sein Blut in den Adern gefrieren. Dean stand mitten im Raum, erwartete ihn. Und hinter ihm … Tod.

„Was soll das?", fragte er, obgleich er die Antwort doch schon kannte.

Dean sah ihn nur ausdruckslos an und sagte mit ruhiger, entschlossener Stimme: „Wir müssen reden."

Alles in Sam schrie. Nein, nein, nein, Dean, bitte nicht! Tu das nicht!

Vorsichtig, als stünde Dean auf einem Brückengeländer und wäre bereit zu springen, ging Sam auf seinen Bruder zu, eine Hand ausgestreckt, in dem Versuch ihn zu beschwichtigen. Oder vielleicht auch, um sie ihm zu reichen, wie eine Rettungsleine. Er wusste es selbst nicht. Er legte so viel Überzeugungskraft wie möglich in seine Stimme, als er auf Dean einredete: „Was du auch immer vorhaben solltest, tu es nicht. Es gibt einen anderen Weg. Du musst noch nicht sterben. Du musst nicht mit ihm gehen."

Deans Antwort war das letzte, womit er gerechnet hätte. Sam konnte nicht glauben, was er hörte, als Dean völlig gelassen erwiderte: „Lustig, dass du das sagst. Die Wahrheit ist, dass ich dachte, dass mein Tod der einzige Ausweg sei. Ich hatte Unrecht, Sam. Es ist deiner."

Ungläubig starrte Sam seinen Bruder an. Deans Worte trafen ihn wie Messerstiche. Und er sprach mit solch einer Resignation, mit solcher Hoffnungslosigkeit. Er sprach davon, dass das Kainsmal eine Gefahr für die Menschheit sei. Dass es von der Erde verschwinden müsse. Und damit er, Dean selbst, auch. Wie hinter Watte hörte Sam Deans Erklärungen. Er sei böse, er müsse ein- für allemal unschädlich gemacht werden. Aber das Mal würde ihn nicht sterben lassen. Also würde Tod ihn an einen Ort bringen, an dem er keinen Schaden anrichten könne. Und weil er wisse, dass Sam mit allen Mitteln versuchen würde ihn zurück zu bringen, müsse Sam sterben. Das sei die einzige Möglichkeit.

„Was? Er wird dich in den Weltraum beamen?"

„Nein, er hat nicht Weltraum gesagt."

„Das ist doch Wahnsinn, Dean!" Sam hätte seinen Bruder am liebsten geschüttelt. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Wieso nur hatte Dean so ein schlechtes Bild von sich selbst. Erkannte er denn nicht, wieviel Güte in ihm steckte? Er war sogar bereit, sich selbst aufzugeben, zum Wohle aller! Aber das würde Sam nicht zulassen. Niemals!

Das letzte, was Sam brauchte, war Tods Einmischung, der nicht sehr Hilfreich von der Seite „Ganz und gar nicht, fürchte ich!" einwarf. In seiner Wut fuhr er ihn an: „Dich hat keiner gefragt!". Wäre er nicht so aufgewühlt gewesen, hätte er niemals so respektlos mit dem obersten Sensenmann gesprochen, doch im Moment fiel ihm das nicht einmal auf. Ungläubig starrte er Dean an, als dieser nun doch eine Emotion zeigte. Entnervt. Dean war eindeutig entnervt, als er Sam anfuhr: „Hör ihm zu!" Erwartete Dean allen Ernstes, dass Sam diesen ganzen Bullshit einfach so schluckte? Dass er ihn einfach so aufgab? Dass er Dean zustimmte – „Guter Plan" - und sich dann zum Sterben hinlegte? Du lieber Himmel, es ging hier um Dean. Dass Dean (oder besser Tod, das war ja wohl Tods Idee; er hatte Dean diesen Schwachsinnigen Gedanken ins Hirn gepflanzt) seinen Tod wollte, spielte in Sams Emotionswirrwar nur eine untergeordnete Rolle. Er war schon so oft gestorben. Er lebte jeden Tag mit der Möglichkeit, auf der Jagd umzukommen. Aber wenn er Tod war, wer stand dann Dean zur Seite? Wer half seinem Bruder, das Mal loszuwerden? Wer überzeugte ihn, dagegen anzukämpfen, jeden Tag auf´s neue? Und Dean wollte sich allein, mutterseelenallein ins All beamen lassen? Auf irgendeinen fremden Planeten? Allein mit dem Mal für immer – das würde seinen Bruder zerstören. Dean, der so ein Familienmensch war. Der immer Menschen um sich herum brauchte, und etwas zu tun. Der weder mit Langeweile noch mit Einsamkeit gut zurechtkam. Allein der Gedanke verursachte Sam beinah körperliche Qual. Er durfte auf keinen Fall zulassen, dass Tod ihm das antat. Dass Dean sich das selbst antat.

Tod faselte irgendetwas von einem Unheil, das hervorbrechen würde, wenn das Mal von Deans Arm entfernt würde. Doch im Moment konnte sich Sam einfach kein schlimmeres Unheil vorstellen, als seinen Bruder für alle Ewigkeit zur Einsamkeit verdammt, seine einzige Gesellschafft das Mal, das seinen Geist vergiftete.

Trotzdem fragte er: „Welches Unheil?"

„Die Finsternis", antwortete Dean.

„Und was soll das sein?"

„Wonach hört es sich denn an? Vielleicht nach etwas Gutem?"

Nein, Dean, dachte Sam, das klingt natürlich nicht gut. Aber weißt du, was noch viel schlimmer klingt? Unsere Seelen - für immer getrennt. Doch er sagte nichts, wusste nicht, wie er seinem Bruder begreiflich machen sollte, was er fühlte. Er drang einfach nicht zu ihm durch.

Nun versuchte auch Tod Sam davon zu überzeugen, dass er sterben müsse. Er sei zu Loyal seinem Bruder gegenüber, würde ihn niemals aufgeben. Ja, richtig, er war Loyal. Da hatte Tod verdammt recht! Er schuldete Dean diese Loyalität. Dean hatte ihn schon so oft gerettet, ihn niemals im Stich gelassen. Dean hatte Sam selbst durch seine dunkelsten Stunden begleitet, und Sam tat nun dasselbe für Dean. Das war Loyalität. Und das war noch viel mehr. Tiefe Verbundenheit, Liebe, Seelenverwandtschaft, wie auch immer man es nennen wollte, was ihn mit Dean verband, es würde ihm die Kraft geben, weiter zu kämpfen. Für Dean. Da konnte Tod reden so viel er wollte. Und dass Dean sich von ihm abwandte, während Tod sprach, zeigte Sam, dass auch er, dem Einfluss des Mals zum Trotz, diese Gefühle noch hegte. Er musste nur irgendwie zu ihm durchdringen.

Sam trat um Tod herum, der ihn zugegebenermaßen doch etwas einschüchterte. Unter anderen Umständen hätte er die Nervosität, die ihn befiel, als der Sensenmann mit all seiner Autorität vor ihm stand und ihm scharf klar machte, dass das Mal niemals Deans Arm verlassen durfte, vermutlich nicht so einfach abgetan. Doch hier ging es um Dean. Er schluckte, und sobald Tod aus seinem Blickfeld verschwunden war, hatte er sich wieder so weit gefasst, dass er sich auf das Gespräch mit seinem Bruder konzentrieren konnte.

Sam versuchte an Deans ältesten, am tiefsten verwurzelten Instinkt zu appellieren. Der Instinkt, seinen kleinen Bruder um jeden Preis zu beschützen.

„Du hast mein Leben eingetauscht", sagte er mit leisem Vorwurf in der Stimme. Eigentlich machte er Dean nicht wirklich vorwürfe. Nicht Dean hatte sein Leben eingetauscht, das Mal hatte ihn dazu verleitet. Doch wenn er Deans schlechtes Gewissen wach rief, war er vielleicht von diesem Wahnsinn abzubringen.

„Ich bin dazu bereit, mit diesem Ding zu leben. Für immer. Solange ich sicher sein kann, dass ich und es nie wieder ein Lebewesen verletzen." Dean klang zwar nicht mehr emotionslos, aber er klang auch nicht nach Dean. Nicht wirklich.

„Das bist doch nicht du!" Sam versuchte verzweifelt zu ihm durchzudringen. „Das alles ergibt doch überhaupt keinen Sinn!"

„Doch, es ergibt einen perfekten Sinn. Wenn du für eine Sekunde aufhören würdest, nur über dich selbst nachzudenken!" Deans Stimme wurde lauter, vorwurfsvoll.

Wie konnte er so etwas sagen? Er dachte nicht an sich selbst, überhaupt nicht. Sein Leben war ihm wirklich nicht so wichtig. Er dachte ausschließlich an seinen Bruder. Und doch verspürte er einen leisen Stich der Schuld bei Deans Worten. War das nicht das alte Lied? Der Punkt, an dem sie immer wieder ankamen? Beide konnten sie nicht mehr klar denken, wenn sie den anderen verloren. Hatte er selbst Dean nicht vorgeworfen, egoistisch gehandelt zu haben, als er ihn davon abgehalten hatte, die Höllentore für immer zu schließen und anschließend einen Engel in seinen Körper gelassen hatte, um ihn zu heilen? Ja, sie waren beide immer und immer wieder bereit, ans Äußerste zu gehen, um einander zu retten. Und wenn er ehrlich war, war seine Motivation nicht nur selbstlos. Natürlich wollte er Dean um jeden Preis vor dem grauenvollen Schicksal ewiger Einsamkeit bewahren. Aber das war nicht alles. Ein nicht allzu kleiner Teil von ihm hielt auch die bloße Vorstellung nicht aus, für immer von seinem Bruder getrennt zu sein.

Dass Dean noch nicht ganz dem Mal verfallen war, dass immer noch sein Bruder in ihm steckte, zeigte sich daran, dass er genau darauf zu sprechen kam. Ihre Gedankengänge verliefen einfach häufig in die gleiche Richtung und Dean konnte Sam lesen wie ein offenes Buch. Genau wie umgekehrt.

Nun hakte Dean zielsicher bei Sams Schuldgefühlen ein: „Erinnerst du dich an diese Kirche? Als wir Crowley zum Menschen gemacht und beinah für immer die Höllentore geschlossen hätten? Nun, damals warst du auf jeden Fall dazu bereit, für ein höheres Ziel zu sterben."

Nun, dieses Spiel konnten zwei spielen. Sam versuchte Dean mit seinen eigenen Waffen zu schlagen: „Ja, und du warst es, der mich zurück gehalten hat."

„Und das war ein Fehler! Du hattest Recht, Sam. Du hast gewusst, dass es dieser Welt ohne uns besser gehen würde."

„Nein, nein, nein. Warte mal. Du drehst mir die Worte im Mund um." Sam wurde langsam bewusst, dass er mit Logik und Argumentation nicht weiter kam. Deans Geist war vom Mal vergiftet.

Jetzt zog er sogar das, was ihm sein Leben lang so wichtig gewesen war, in den Schmutz, als er voller Ironie und mit einer Spur Verachtung sagte: „Wieso? Weil wir … weil wir das Böse jagen und es töten? Unser Familienauftrag? Ist es das?" Dean trat um Sam herum, bevor er in seinem Rücken fortfuhr: „Sieh uns doch an, Sam. Das böse jagt uns. Es zerstört alles in unserer Nähe. Unsere Familie, unsere Freunde." Nun schlich sich Selbsthass in seine Stimme: „Es ist an der Zeit, uns als das zu sehen, was wir wirklich sind. Und dafür einzustehen."

Wie konnte Sam seinem Bruder nur klar machen, dass er nicht böse war? Das Mal war böse, keine Frage. Aber nicht Dean. Dean war gut. So gut. Er war selbstlos, sogar jetzt. Er hatte so viele Menschenleben gerettet, wieder und wieder. Sam versuchte noch einmal, zu ihm durchzudringen: „Was soll das? Wir sind nicht böse! Hör zu, wir … sind ganz sicher nicht perfekt. Wir sind die Guten! Das Ding auf deinem Arm ist das Böse. Aber weder du, noch ich…"

„Ich habe Rudi sterben lassen." Dean sagte diesen einen Satz, als wäre damit zweifelsfrei bewiesen wie böse er war und alle anderen Argumente überflüssig. Sam holte tief Luft. Irgendwie musste es ihm gelingen, zu Dean durchzudringen. Doch dieser fuhr fort: „Bösartiger geht's doch gar nicht. Ich weiß was ich bin, Sam." Aus seinen Augen sprach echte Verzweiflung ob der Tat, und das war eindeutig Dean, der da sprach. Doch im nächsten Moment übernahm das Mal, als er beinahe boshaft fortfuhr: „Aber was warst du, als du diesen Mann dazu gebracht hast, seine Seele zu verkaufen? Oder als du Charly verraten hast und sie getötet wurde? Zu welchem Ende soll das führen? Zu einem guten Ende? Einem gerechten Ende? Das Mal zu entfernen, egal wie die Konsequenzen aussehen, Sam, wie kann das nicht bösartig sein? Ich hab dieses Ding auf meinem Arm und du willst zulassen, dass die Finsternis in die Welt gelangt."

Es brach Sam das Herz, dass Dean sich für böse hielt. Er blickte seinem Bruder tief in die Augen: „Du warst auch dazu bereit, den Tod zu beschwören, um sicher zu gehen, dass du nie wieder jemandem etwas antust." Dean wandte den Blick ab, doch Sam gab nicht auf: „Du hast mich angerufen, weil du wusstest, dass ich alles tun würde, um dich zu beschützen. Das ist nicht bösartig, Dean. Du bist kein bösartiger Mensch, du bist ein guter Mensch! Der um Hilfe schreit. Der irgendwie … einen Ausweg sucht."

„Nein, es gibt keinen Ausweg, Sam. Es tut mir leid."

Die Verzweiflung in Sam, die Wut auf das Mal, das seinen Bruder verzehrte, die Hilflosigkeit, all diese Gefühle wurden übermächtig.

Und er schlug zu.