Liebe kommt auf leisen Sohlen
Er wälzte sich schwer und ruhelos im Bett herum. Ein Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims verhieß nichts Gutes. Es war bereits drei Uhr fünfundvierzig und er hatte noch kein Auge zugemacht. Seit er hier mit Bingley und dessen spitzzüngiger Schwester auf Netherfield weilte, verbrachte Fitzwilliam Darcy nun bereits die zweite Nacht innerhalb kurzer Zeit ohne Schlaf. Das hatte es seit der leidigen Angelegenheit mit Wickham im frühen Sommer nicht mehr gegeben. Er schlief normalerweise wie ein Stein.
Ärgerlich wand er sich aus dem Bett, trat ans Fenster und öffnete dieses. Die kalte Nachtluft strömte in einem Schwall herein und er versuchte, seinem Kopf dadurch Kühlung zu verschaffen. Es gelang eigentlich nicht. Es formte sich zwar immer wieder der Gedanke, dass vielleicht nicht nur sein Kopf abgekühlt werden müsse, sondern auch sein erhitzter Körper, aber diesen Gedanken schob er sofort als völlig absurd wieder von sich. Nein, er hatte sich natürlich total in der Gewalt. Was auch sonst. Irritierend war nur, dass diese Schlaflosigkeit jedes Mal nach einer Begegnung von ihm mit Miss Elizabeth Bennet auftrat. Das erste Mal vor einigen Tagen, als sie auf dem Tanzabend in Meryton aufeinander trafen. Als er sie so offensichtlich brüskierte, als er sich weigerte, auch nur einen Fuß auf das Tanzparkett zu setzen - und als er merkte, dass diese junge Frau ein wenig anders war als die meisten anderen die er kannte. Danach war er auch erst im Morgengrauen eingeschlafen, erschöpft, von den Bildern des Abends gepeinigt, die sich ständig vor sein geistiges Auge drängten.
Und nun war sie hier auf Netherfield. Bei ihrer Ankunft gestern Morgen hatte sie ihm förmlich die Luft zum Atmen genommen. Sie hatte so ungewöhnlich ausgesehen, so frisch und lebendig nach ihrem langen Spaziergang, ja wie gesagt, eben anders als alle Frauen, die er sonst kannte. Wie fürsorglich von ihr, so an ihre Schwester zu denken. Und wie wenig dachte sie dabei anscheinend an sich selbst, ihrer ganzen Aufmachung nach zu urteilen. Er war über ihr Eintreffen derart überrascht gewesen, dass es ihm nicht möglich gewesen war, ihr passabel Auskunft über ihre Schwester zu erteilen. Er musste wie ein Dummkopf auf sie gewirkt haben. Nun ja, so ähnlich hatte er sich auch gefühlt. Dumm und – er musste es gestehen – in dem Augenblick triebgesteuert. Ihr Anblick hatte in ihm eine ganz eindeutige körperliche Reaktion hervorgerufen. Er hatte sich darüber geärgert, maßlos, aber was nutzte es.
Er atmete noch einmal tief die frische Luft von draußen ein. Ihr Zimmer lag auf dem gleichen Flur am Anfang des Korridors, seines hier ganz am Ende. Er schloss das Fenster, weil er leicht fröstelte, was aber nur eine oberflächliche Reaktion seines Körpers war. In ihm drinnen brannte ein loderndes Feuer. Er wusste es selbst nur noch nicht so recht. Er riss seinen Morgenrock von einem Stuhl und warf ihn sich über. So untätig im Bett liegen, ohne Schlaf, das war nicht nach seinem Geschmack. Er ging mit ausholenden Schritten zur Tür, öffnete diese und spähte auf den dunklen Korridor. Wie zu erwarten war, lag alles in tiefer Ruhe. Er nahm einen Kerzenleuchter von der Kommode und lief den Flur entlang. Vor Miss Bennets Zimmer stoppte er, obwohl er es gar nicht beabsichtigt hatte, aber es war wie ein innerer Zwang. Er lauschte an der Tür. Kein Laut drang zu ihm. Er ging weiter, die Treppe hinunter.
Heute Mittag hatte es im Salon eine wahrlich interessante Konversation gegeben, wobei sich Bingley am wenigsten durch Beteiligung hervorgetan hatte. Seine Schwester hingegen war sehr bemüht, sich in ein gleißendes und überaus positives Licht zu setzen, was ihr aber gänzlich misslang und eigentlich als Schuss nach hinten zu werten war. Sie hatte sogar die arme Miss Bennet für ihre Zwecke schamlos missbraucht, als sie mit ihr wie ein eitler Pfau durch den Raum promenierte. Eigentlich gedachte Miss Bingley wohl, seine Aufmerksamkeit dadurch auf ihre Person zu ziehen, aber die einzige Person, auf die er sich fast unfreiwillig komplett fokussiert hatte, war Elizabeth Bennet. Sie hatten sich zuvor und währenddessen ein kleines Wortgefecht geliefert, dass er zugegebenermaßen sehr genossen hatte. Er hatte Miss Bennet deutlich unterschätzt, was den Grad ihrer Bildung, ihren Verstand und ihren Esprit anlangte. Caroline Bingley muss sich dessen wohl auch gewahr gewesen sein, denn sie fuhr beständig mit ihren unpassenden Bemerkungen dazwischen. Zu guter Letzt hatte er es richtiggehend als störend empfunden.
Inzwischen war er in der Küche des Netherfield'schen Haushaltes angekommen. Er wollte gerade die Kerze auf einem Tisch abstellen, als ihm aus der anderen Richtung, von den Vorratsräumen her, ein anderer schwacher Lichtschein entgegenkam. In typischer Manier zog sich fragend seine linke Augenbraue nach oben. Fitzwilliam Darcy traute seinen Augen kaum: Vor ihm stand im Nachtkleid, über das nur ein Schultertuch geworfen war, Elizabeth Bennet! Fast wäre ihm die Kerze aus der Hand geglitten. Er versuchte, sich so schnell es ging wieder zu fassen. Sie sagte kein Wort. Also machte er den Anfang: „Mäss B…", verflixt, er hatte einen Frosch im Hals, er hustete kurz, dann fuhr er fort „Miss Bennet, was tun Sie denn hier mitten in der Nacht?" Oh Gott, er könnte sich ohrfeigen, hatte er wirklich diese unmögliche Frage gestellt? Sie hatte einen Teller in der Hand, darauf etwas Obst. Sie lächelte nicht, als sie ruhig entgegnete: „Sehen Sie Mr. Darcy, das Gleiche könnte ich Sie fragen, aber ich tue es nicht, denn ich denke, Sie haben wahrscheinlich einen guten Grund, der Sie antreibt, nachts in die Küche zu wandern. Für meinen Teil kann ich sagen, dass Jane mich gebeten hat, ihr ein wenig Obst zu bringen, und da wir auf keinen Fall das Haus zu dieser Uhrzeit rebellisch machen wollten, haben wir darauf verzichtet, zu klingen und ich bin einfach selbst gegangen."
Er wollte nicken, konnte es aber irgendwie nicht. Stattdessen stand er da, hielt noch immer die Kerze in einer Hand und starrte sie mit halboffenem Mund an. Sie hatte ihre Haare nur zu einem leicht verfilzten Zopf gebunden, der ihr auf einer Seite über die Schulter nach vorn fiel. Wieder war es Miss Bennet, die die Stille unterbrach: „Jane wird sicher schon warten, das Obst wird ihr bestimmt gut tun." Und sie machte Anstalten, durch die Küche hindurch Richtung Verbindungsflur und Halle zu gehen. Auf halben Weg, wenige Schritte vor ihm, blieb sie stehen und schaute ihn ganz kurz durchdringend an, dann sage sie: „Übrigens sehen Sie ganz furchtbar aus, Sie sind doch nicht etwa auch krank?" In ihrer Stimme lag kein Spott, sondern in der Tat eine Spur Mitgefühl. Er merkte, wie seine Knie weich wurden.
Rasch setzte er den Leuchter auf dem Tisch ab und zog zwei Stühle herbei. Dann hörte er sich zu seiner eigenen Überraschung sagen: „Ihre Schwester wird es Ihnen sicher nicht nachtragen, wenn Sie noch ein paar Minuten hier verweilen. Bitte, setzen Sie sich doch und leisten Sie mir einen Augenblick Gesellschaft." Sie blickte ihn sprachlos an, deponierte ihren Leuchter und den vorbereiteten Teller auf dem Tisch und ließ sich ohne Widerrede auf dem ihr dargebotenen Stuhl nieder. „Um Ihre Frage zu beantworten", redete er schließlich weiter „nein, ich bin nicht krank, aber ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit diesbezüglich. Ich bin lediglich hierher gekommen, um …ähm…", er wusste nicht weiter, aber bevor er gänzlich ins Stottern geriet, beeilte er sich, halt irgendetwas von sich zu geben „ich war auf der Suche nach etwas zu Trinken, vielleicht sollte ich auch einen Happen essen, wenn ich schon hier bin".
Es klang nicht sonderlich plausibel. Er stand auf, nahm die Kerze von Tisch und steuerte in guter Absicht die Vorratsräume an. Mit zwei Sprüngen war Elizabeth Bennet bei ihm. „Sir, Sie wissen doch sicher nicht, wo sich hier welche Sachen befinden, oder? Das würde vielleicht auch eine schöne Unordnung geben, wenn Sie nachts hier herum wühlen. Da ich aber nun schon einmal hier war, kann ich Ihnen gerne etwas holen. Was möchten Sie denn bevorzugt?" Er drehte sich zu ihr um, völlig unerwartet, denn sie war noch im Gehen so dass sie frontal mit ihm zusammenprallte. Hätte er die dusselige Kerze nicht in der Hand gehalten, hätte er spontan seine Arme um sie gelegt, ein Impuls den er so aber gerade noch unterdrücken konnte. Sie wurde rot im Gesicht, aber im Schein der einzigen Kerze war das zum Glück kaum zu sehen. „Also Sir", hakte sie schnell nach „was darf es sein?" Er musste sich fest auf die Lippen beißen, um nicht mit einem leisen „Sie – nur Sie" zu antworten.
Langsam, ganz langsam begann es in ihm durchzusickern, was das bedeutete. Wie ein Sandkörnchen nach dem anderen durch die Sanduhr rinnt, ebenso brauchte es nun bei Fitzwilliam Darcy, um sich darüber klar zu werden, was da so in letzter Zeit mit ihm geschehen war und gerade geschah. Aber noch war die Sanduhr nicht durch, die Erkenntnis hatte sich noch nicht gesetzt. Er musste sich schon wieder räuspern, bevor er ansetzen konnte: „Vielen Dank, es ist sehr freundlich, dass Sie sich bemühen. Wenn Sie nur ein Stück Brot und vielleicht etwas Schinken auftreiben könnten, dann sehe ich in der Zwischenzeit, ob ich eine Flasche Wein finde. Im Weinkeller kenne ich mich wohl besser aus." Sie trennten sich. Er ging zu den Getränkelagern, sie in die Speisenkammern. Es dauerte nur ein paar Minuten, er besah sich gerade eine Flasche Rotwein im Gegenlicht der Kerze, als er ein Geräusch hinter sich hörte.
Er fuhr schnell herum. Dort stand sie, mit einem großen Teller in der einen Hand und einer Karaffe mit Bechern in der anderen. „Großer Gott, Miss Bennet, haben Sie mich erschreckt. Sie schleichen sich ja besser an als jeder Indianer. Beinahe wäre sogar die Flasche hier zu Bruch gegangen." Sie lächelte, zum ersten Mal seit sie sich hier unten begegnet waren. „Ich habe auch etwas Wasser mitgebracht", kam es nun aus ihrer Richtung „außerdem zwei Becher und Brot, Käse, Schinken sowie eingelegten Kürbis." Sie zeigte auf die jeweiligen Teile. Zwei Becher? Fitzwilliam Darcy dachte zuerst, er hätte sich verhört. Aber die Portionen auf dem Teller zeigten auch an, dass dies unmöglich von einer einzigen Person verspeist werden konnte. Sie platzierte den Teller kurzerhand auf einem Weinfass, dann zog sie sich ohne viel Federlesens eine Holzkiste heran und ließ sich darauf nieder. „Wenn ich es mir recht überlege", gab sie munter von sich „hatte ich nämlich auch ein wenig Hunger." Er war völlig verblüfft.
Seine Kehle war wie ausgedörrt. Und nur zum geringsten Teil, weil er durstig war. Sofort machte er sich daran, die Weinflasche zu öffnen. Als sie ihm den Becher reichte, musste er sich sehr bemühen, beim Ausschenken nicht zu zittern und am Ende noch etwas von dem guten Wein zu verschütten. Der Becher war nicht ganz halb voll, da machte sie ihm ein Zeichen, dass es genug sei. Den Rest füllte sie sich mit Wasser auf. Er hingegen brauchte nun einen Becher unverdünnten Wein. Und zwar dringend. Während sie an dem Getränk nippte und anschließend an einem Stück Käse nagte, stürzte er hastig den gesamten Becherinhalt hinunter. Bei Gott, er musste irgendetwas sagen, sonst würde er wie ein Idiot dastehen. Langsam ließ er sich auf eine andere Weinkiste nieder, ohne Elizabeth Bennet dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Die ganze Situation hatte eindeutig etwas Traumähnliches an sich, und fast war er sich sicher, dass er gleich aufwachen und bemerken würde, dass es heller Morgen war und er alles nur in einem verwirrenden Traum erlebt hatte.
Kurz rieb er sich mit der Hand über die Augen, das Bild jedoch von einer kerzenbeschienenen Miss Bennet im Nachtgewand, mit ihm im Weinkeller sitzend, wollte nicht vergehen. Es war also alles real. Fast wie automatisch griff er nach einem Brot und etwas Schinken. Er hatte keinen Hunger, nicht auf etwas Essbares, soviel war klar. Aber er zwang sich trotzdem, das Brot hinunterzuwürgen und den Schinken langsam zu kauen. Gut, mit vollem Mund konnte er ohnehin nicht sprechen. Er kippte einen weiteren guten halben Becher Wein hinterher. Dann beobachtete er, wie sie ein Stückchen Kürbis nahm und zum Mund führte. Er focht einen inneren Kampf aus mit seinen Gedanken und Gefühlen. Was, wenn er ihr das Kürbisstück gereicht und sie es aus seinen Fingern direkt mit ihren Lippen genommen und gegessen hätte? Das Blut schoss ihm förmlich in einem heißen Schwall durch den ganzen Körper.
Er zwang sich, dieses erregende Bild sofort aus seiner Gedankenwelt zu verbannen. Es wollte nicht recht gelingen. Er blickte zu Boden, dann war der Augenblick gekommen, wo er sich äußern musste: „Hmh, es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie mir hier Gesellschaft leisten, vielen Dank. Ihrer Schwester geht es besser heute Nacht, so hoffe ich?" „Ja, zum Glück hat sich ihr Fieber gelegt, und sie kann sicher in Kürze – wenn nicht heute früh, dann doch bestimmt morgen – nach Hause gebracht werden. Und was die Gesellschaft hier und jetzt anlangt", sie überlegte einen kleinen Moment, bevor sie weiter sprach „so wissen Sie doch sicher inzwischen, dass ich außergewöhnlichen Situationen selten aus dem Weg gehe. Es hat etwas Abenteuerliches, finden Sie nicht auch?" Er schluckte den nächsten Bissen hinunter, schenkte sich erneut Wein in den Becher (bei Gott, nur so war dies alles zu ertragen!) und antwortete dann: „Ja, in der Tat, das hat es wohl."
Er überlegte hin und her, ob und wie er es anstellen könnte, sie wenigstens einmal zu berühren. Er kam aber zu keinem praktikablen Schluss. Vorhin, als sie so unvermutet an seine Brust geprallt war, hätte er die Chance gehabt, wenn seine Arme frei gewesen wären. Ihre Größe war einfach perfekt, um sich mit ihrem Kopf direkt an seine Schultern zu schmiegen. Er ballte die Hände zu Fäusten, um auch diesen Gedanken schnell zu verscheuchen. Er konnte nicht fassen, was ihm alles durch den Kopf ging. Nur wirres Zeug, nur Dinge, die nicht sein durften, nicht sein konnten, niemals sein würden. Um diese fixen Ideen nachhaltig loszuwerden, spülte er sie demonstrativ mit dem ganzen Becherinhalt Wein hinunter und schenkte sofort wieder nach.
Sie nahm den Teller auf und erhob sich von der Holzkiste. Er verdrehte die Augen, im Gegenlicht schimmerte ihr Körper fast wie unverhüllt durch das helle Leinen des Nachtkleides. Sie war sich dessen zum Glück nicht bewusst. Eine weitere Woge der Erregung durchflutete ihn. Verdammter Mist, er konnte jetzt unmöglich aufstehen, auch wenn der relativ großzügig geschnittene Morgenmantel das Schlimmste vielleicht verbarg. Er beeilte sich daher zu sagen. „Ähm, warten Schie einen Augenblick, ich habe meinen Wein noch nicht ganz lee' getrunken!" Hoppla, was war denn das? Hatte er eben tatsächlich leicht gelallt? Und wie zur Bestätigung des Ganzen, kam auch noch ein kurzer Schluckser dazu. Besser für ihn, jetzt gleich in den Boden zu versinken. Sie jedoch lächelte nur und meinte dann: „Ich halte Sie nicht davon ab, leer zu trinken. Aber ob Sie es dann noch alleine die Treppe hoch schaffen, wage ich ernsthaft zu bezweifeln." Sie hatte ganz ruhig gesprochen. Er blickte sie mit nun leicht glasigen Augen an. Dann, der Alkohol wirkte jetzt sehr stark und sehr enthemmend, entgegnete er kühn: „Bliebe nur die Möglichkeit, dasch Schie mir beim Treppensteigen behilflich wären." Doch sie ließ sich nicht im Geringsten aus der Fassung bringen, als sie antwortete: „Wir würden ganz bestimmt ein reizendes Gespann abgegeben, aber in wirklich negativer Hinsicht und hätten noch keine zwei Stufen hinter uns, bis das ganze Haus in heller Aufruhr wäre. Wenn Sie das möchten, bitte sehr!"
Er schüttelte nachhaltig den Kopf und stand zögerlich auf. Er schwankte nicht, jedenfalls nicht merkbar, aber er fühlte sich seltsam allem entrückt. Sie hatte zwischenzeitlich bereits alles abgeräumt und die Spuren der letzten halben Stunde fast restlos beseitigt. Nicht absolut akribisch, warum sollte sie auch, man konnte ruhig merken, dass auch nachts Betrieb im Haus ist, schließlich war dies ja kein Verbrechen. Sie hatte nun wieder den Obstteller für Jane und ihren Kerzenleuchter in den Händen. Seiner stand mit der abgebrannten Kerze noch im Weinkeller. Er ließ ihn, wo er war. Sie gingen schweigend nebeneinander her, bis in die große Halle. Am Fuß der Treppe fragte sie ihn aber noch einmal: „Wird es gehen?" Er holte tief Luft und nickte. „Ja, esch geht schon, danke!" Sie lächelte still. Konzentriert setzte er einen Fuß vor den anderen. Aber am Geländer musste er sich doch festhalten, damit er die Stufen einigermaßen bewältigen konnte. Oben angekommen, schnaufte er kurz durch. Sie war stets nur einen Schritt hinter ihm geblieben, wohl mehr als moralische Stütze, denn wäre er gestrauchelt, hätte sie ihn garantiert nicht halten können.
Vor ihrer Zimmertür angekommen, blickten sie sich beide in leichter Verlegenheit an. Keiner konnte sich zunächst einen sinnvollen Satz abringen. „Kann ich Sie hier ohne Licht so alleine zurücklassen? Werden Sie es bis zur ihrem Zimmer packen?" fragte sie zur Sicherheit nach. „Oh ja, dasch wird kein Problem sein, danke", nuschelte er weiterhin undeutlich. Sie nickte und drehte den Türknauf. „Dann schlafen Sie wohl und gute Nacht". „Gute Nacht, Miss Elischabeth, war mir ein Vergnügen", war alles was er noch herausbrachte. Da war die Tür bereits vor ihm ins Schloss gefallen. Er blieb noch einen Augenblick an die Wand angelehnt stehen, hielt die Augen geschlossen. Dann raffte er sich seufzend auf und legte im Dunklen die letzten Yards zum Ende des Flurs hin zurück, wo sich sein Zimmer befand. Auf halbem Weg stieß er schmerzhaft mit dem Fuß an eine Kommode. Er fluchte halblaut, gerade so, dass es niemanden in seinem Schlummer stören würde. Endlich fand er seine Zimmertür, stieß sie auf, ließ sie ebenso schnell zufallen und machte die letzten Schritte auf sein Bett zu. Jetzt hatte ihn doch eine bleierne Müdigkeit erfasst. Der Alkohol, obgleich nicht viel für seine Verhältnisse, aber sehr schnell und auf fast nüchternen Magen getrunken, hatte seine volle Wirkung entfaltet. Er gürtete den Morgenrock auf und fiel erschöpft aufs Bett. Fast augenblicklich war er schnarchend eingeschlafen. Die Uhr zeigte mehr als halb fünf durch.
Am nächsten Morgen erwachte Fitzwilliam Darcy – natürlich – später als üblich. Während er sonst stets bemüht war, zwischen sieben und acht Uhr aus den Federn zu kommen, wachte er nun erst auf, als es bereits nach neun war. Er schreckte förmlich hoch. Zwar hatte er keinen Brummschädel, von daher wusste er auch noch genau, was sich in der Nacht zugetragen hatte, aber er fühlte sich wie von einer voll besetzten Postkutsche überrollt. Er fuhr sich mit der Hand durch die glatten, halblangen Haare und über die intensiv blauen Augen. Auf dem Rücken liegend, stöhnte er auf, als er seine Gedanken die vergangene Nacht Revue passieren ließ. Oh Herr im Himmel, er hatte sich gerade zu schändlich benommen. Was war da nur in ihn gefahren? Verflixter Rotwein, er hätte nichts trinken sollen.
Mit einer zittrigen Bewegung griff er nach der Klingelschnur. Er brauchte ein Bad und eine Rasur, höchst dringend.
Noch während er in der Wanne lag, hörte er von draußen vor dem Haus mehrere Stimmen. Er konnte zunächst nicht genau ausmachen, wer sich da so angeregt unterhielt. Aber da er weniger glaubte, dass die Dienerschaft so lautstark miteinander redete, blieben ja letztendlich nur noch Bingley, seine Schwester und – Miss Bennet! Schon meinte er auch, ihre lebhafte Stimme herauszuhören. Allerdings verstand er kein Wort von dem, was draußen geredet wurde. Herrgott, das Wasser war eindeutig zu heiß, oder warum geriet er plötzlich so ins Schwitzen? Er wickelte sich ein Laken um den nassen Körper und trat schnell ans Fenster, um zu sehen, was da draußen vor sich ging.
Bingley war nirgends mehr zu sehen, aber Caroline und Miss Bennet hatten offensichtlich einen kleinen Spaziergang gemacht. Sie sah wirklich erstaunlich frisch aus, nach dieser kurzen Nacht. Miss Bennet natürlich, nicht Miss Bingley. Die beiden Damen standen auf dem Rasen vor dem Haus und sprachen miteinander. Miss Bingley etwas mehr gestikulierend, als müsse sie dadurch ihren Mangel an Wortwitz gutmachen. Miss Bennet stand wesentlich ruhiger, sie hatte derartige Manöver nicht nötig. Er hielt fast den Atem an, so fasziniert war er von ihrem Anblick. Auch sein Körper begann bereits wieder auf die schöne Frau zu reagieren. Es gab nichts, womit sich dies verhindern ließe. Außer vielleicht, er würde sogleich vom Fenster zurücktreten und seinen Gedanken einen gewaltsamen Schubs in eine andere Richtung geben. Dann wurde ihm plötzlich klar, dass ihn die Damen, sollten sie denn unverhofft nach oben blicken, in seiner halbnackten Exposition sehen könnten. Schnell wich er ein kleines Stückchen weiter in den Raum zurück, um dies zu verhindern. Trotzdem hatte zumindest er noch Sicht auf beide Damen.
Sein rascher Rückzug hatte in der Tat die Aufmerksamkeit von Miss Bingley auf eine Bewegung oben am Fenster gelenkt und sie hatte ihn quasi bei seinen verborgenen Spähereien ertappt. Sie verzog missbilligend die Mundwinkel. Sie wusste genau, wer hinter diesem Fenster residierte. Außerdem hatte sie einen kurzen Blick in seine erstaunten blauen Augen werfen können, bevor er den weiteren Rückzug angetreten war. Und es war ihr fast automatisch klar, dass seine heimlichen Beobachtungen leider nicht ihr gegolten hatten. Miss Bennet hingegen schien nichts bemerkt zu haben. Sie zog sie mit sich fort, weg aus seinem Blickfeld. Er ließ das Laken fallen und widmete sich seiner Kleidung für den Tag. Es wurden ihm harte Prüfungen hier auferlegt, dessen war er sich bewusst.
Natürlich war Fitzwilliam Darcy alleine beim Frühstück. Alle anderen waren bereits fertig damit. Nach einiger Zeit jedoch kam Charles Bingley herein und richtete einen fragenden Blick auf seinen Freund. „Du lieber Himmel, du schaust richtig krank aus. Bist du deswegen so lange im Bett gewesen? Hast du ganz vergessen, dass wir heute ein paar Vögel erledigen wollten? Es ist bereits alles gerichtet, wir warten nur noch auf dich." „Hmh, ich fühle mich in der Tat etwas unwohl, ich bin mir nicht sicher, ob ich ein guter Partner beim Schiessen sein werde", antwortete Fitzwilliam Darcy langsam. „Hattest du heute Morgen denn Damengesellschaft beim Frühstück?" fügte er noch fragend an. „Damengesellschaft?" Charles Bingley wusste offensichtlich mit der Frage nichts anzufangen. „Ich meine deine Schwester und Miss Bennet, haben sie mit dir gefrühstückt?" „Ach so", jetzt verstand der Jüngere seinen Freund erst „ja, sie waren beide hier, Miss Bennet noch vor mir, dann später auch Caroline". Miss Bennet war also trotz allem früh auf gewesen, hatte zeitig gefrühstückt und bereits einen Spaziergang um das Haus oder sogar noch auf weiteren Wegen hinter sich. Fitzwilliam Darcy fühlte sich als Versager auf der ganzen Linie. Er schob seinen Stuhl nach hinten und stand auf. Wäre doch gelacht, wenn ein paar nette Stunden in der freien Natur und das Jagdfieber ihn nicht auf andere Gedanken brächten. Er nickte Charles Bingley zu: „Ich bin bereit, lass uns zur Jagd aufbrechen."
Das hatte er sich definitiv anders vorgestellt. Missmutig stapfte er durch die herbstliche Landschaft. Während Charles und sein Jagdgehilfe ein Rebhuhn nach dem anderen erledigten, hatte er von zehn Stück gerade mal eines richtig getroffen, ein zweites wohl nur gestreift. Der Hund hatte diesem Tier dann noch ordentlich nachsetzen müssen, um ihm ganz den Garaus zu machen. Während er einen weiteren Vogel mit der Flinte im Anschlag im Flug verfolgte, dachte er wieder und wieder daran, wie es ihm denn jemals gelingen könnte, einen Körperkontakt zu Miss Bennet herzustellen, der zwar unmissverständlich aber ebenso unverfänglich war. Dann drückte er den Abzug – und verfehlte den verdammten Vogel! Er fluchte, mehr als einmal.
Getanzt wurde hier nicht, jedenfalls derzeit nicht, obwohl Charles einmal erwähnt hatte, er gedenke vielleicht demnächst einen Ball auf Netherfield zu geben. Das wäre dann vielleicht eine Gelegenheit, Miss Bennet näher zu kommen. Da dieses Ereignis aber bislang weder terminiert noch geplant war, schien es besser, sich nicht darauf zu verlassen. Außerdem war es keinesfalls gewiss, dass Miss Bennet überhaupt mit ihm tanzen wollte. Wo er sich in Meryton doch so ungeschickt verhalten hatte. Ach, er wusste sich einfach keinen Rat.
Zum Tee waren die Herren wieder zurück auf Netherfield. Die Damen hatten gute Nachrichten, denn zum Dinner am Abend würde man Miss Jane Bennet erlauben, herunter zu kommen. Am nächsten Nachmittag würde sie dann wieder nach Longbourn zurückkehren können. Fitzwilliam Darcy war einfach nur elend müde. Er sehnte sich nach einem ruhigen, traumlosen Schlaf, wusste aber gleichzeitig instinktiv, dass ihm dieser Wunsch versagt bliebe, so lange er mit Elizabeth Bennet unter einem Dach weilen würde. Mit halb geschlossenen Augen fixierte er Miss Bennet beim Tee. Sie sprach nicht viel heute, er noch weniger, was im Prinzip gleich Null war. Caroline und Charles Bingley bestritten den Großteil der belanglosen Konversation. Miss Bennet berichtete nur kurz, man hätte Nachricht nach Longbourn geschickt, dass Jane morgen transportfähig sei. Und sie vermutete auch, dass man deswegen am morgigen Tag mit dem Besuch weiterer Familienmitglieder rechnen sollte. Fitzwilliam Darcy erwischte sich dabei, dass er darum betete, nicht auf Mrs. Bennet und die jüngste und offensichtlich albernste Schwester treffen zu müssen. Hoffentlich war es nur Mr. Bennet, der seine Tochter hier abholen kam. Ihm konnte er wenigstens einigermaßen unvoreingenommen entgegen treten.
Er flüchtete nach dem Tee förmlich aus dem Salon in sein Zimmer. Er hatte ihren sanften Blick nicht mehr aushalten können, es war ihm unerträglich, mit ihr in einem Raum sein zu müssen. Wenn er alleine mit ihr gewesen wäre… aber so, mit den beiden anderen - . Caroline hatte ihn sowieso die ganze Zeit nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen, hatte jede seiner Bewegungen, jedes Wort von ihm mit großer Aufmerksamkeit registriert und schlimmer noch – sofort auch kommentiert. Er wusste, das war ihre Art, sich für sein Verhalten am Fenster heute Morgen zu rächen. Sie hatte Freude an diesem durchtriebenen, grausamen Spiel, das war nur zu offensichtlich. Er lockerte sein Krawattentuch und schleuderte es bei dem Gedanken an Miss Bingley in einem Anfall von Jähzorn auf den Boden. Dann öffnete er die Knöpfe seiner Weste und seines Hemdes. Er schlüpfte aus dem Frack und der Weste und warf sich quer übers Bett. Er schlief überraschend schnell ein. Ein Wunsch aber blieb ihm verwehrt: Es war kein traumloser Schlaf…
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