It's Valjean and Javert"

von Michelle Mercy

Sequel zu „ Voices soft as thunder" und „Become a thief in the night", Slash,

Sechs Jahre nach der Seine ermitteln Javert und Valjean im Fall eines verschwundenen weißen Elefanten, begegnen dem Grafen von Monte Cristo und treffen Verwandtschaft.

Ich erzähle nichts Neues, die Jungs gehören Hugo und einander, ebenso Cosette und Marius, der Graf und Haydee gehören ebenfalls einander und ansonsten Dumas, dem auch einige weitere Personen gehören, „Robert le diable" gehört Meyerbeer, „Lucia di Lammermoor" gehört Donizetti, „Barbiere di Siviglia" gehört Rossini, der Rest ist meins.

Author's note:

Die Idee mit dem weißen Elefanten stammt aus einem Cartoon von Chlodwig Poth. Giacomo Meyerbeer Opern sind berüchtigt für ihren Gigantomanismus, weswegen sie beim Publikum sehr beliebt waren.

1. Kapitel

„...Und da nahm der Drache all seine Kraft zusammen, und im Sturzflug ging er über der Burg des Riesen nieder," durchdrang die Stimme von Pierre Danois den Garten des Hauses in der Rue Plumet. „Feuerspeiend jagte er den Riesen über den Hof der Burg, bis der Riese mit dem Rücken zur Wand stand.

Der Drache holte tief Atem, um den Riesen zu verbrennen, da hörte er hinter sich die Stimme des Zauberers. ‚Nicht', sagte er nur.

Der Drache schnaufte, so daß er nur eine kleine Rauchwolke ausstieß. ‚Nur, weil du es wünscht', sagte er ärgerlich, wandte sich von dem Riesen ab und ließ den Zauberer auf seinen Rücken steigen. Gemeinsam erhoben sie sich in die Lüfte und flogen neuen Abenteuern entgegen..."

Pierres Publikum, bestehend aus seiner Mutter Violetta und seinem Adoptivvater Lucien Danois, inzwischen Inspecteur der Pariser Polizei, dem Baron und der Baronin Pontmercy und ihren Kindern, den Zwillingen Jean-Luc und Fantine-Euphrasie, sowie Marie-Eponine applaudierten dem zehnjährigen Erzähler enthusiastisch. Das jüngste Pontmercy-Kind Georges applaudierte nicht, er schlief auf dem Arm seiner Mutter, aber er war entschuldigt, da er erst vier Monate alt war.

Auch Javert, Inspecteur der Pariser Polizei im Ruhestand, und gelegentlich als privater Ermittler tätig, fiel in den Applaus mit ein. Es war unglaublich, was der Junge aus einer ihm vor Jahren erzählten, improvisierten und nicht besonders inspirierten Gute-Nacht-Geschichte gemacht hatte. Mit Phantasie und Geschick hatte Pierre sie auf mittlerweile ein Dutzend Fortsetzungen weiter gesponnen, die das Original bei weitem übertrafen. Es bedurfte keiner großen Prophetie, um Pierre eine Karriere als Schriftsteller vorauszusagen.

„Das war spannend, nicht war, Grandpère?" fragte Marie-Eponine und kletterte von Javerts Knie herunter, wo sie gesessen hatte. Irgendwann hatte das Mädchen begonnen, ihn „Großvater" zu nennen, denn offenbar fand sie es logisch, daß der Mann, der mit Valjean lebte, genauso ihr Großvater sein mußte.

Javert hatte sich nicht dagegen gewehrt, aber er hatte sich noch immer nicht hundertprozentig daran gewöhnt, daß er wie selbstverständlich Teil von Valjeans Familie geworden war.

Apropos Valjean, wo war der eigentlich abgeblieben? Javert ließ seinen Blick ein wenig träge durch den Garten wandern. Sein Blick blieb am Rosenbeet hängen. Natürlich, Valjean und seine Rosen! Da kniete er mit seinem leuchtend weißen Haar mitten im Beet und tat weiß Gott was, damit die Rosen schöner blühten als in jedem anderen Garten in Paris. Neben ihm kniete Jeanne, die dreijährige Schwester Pierres und lauschte andächtig, was Valjean ihr über das Gärtnern erklärte.

Plötzlich hob Valjean den Kopf, wandte den Blick in Javerts Richtung und sah ihn an. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als sich ihre Blicke trafen. Es lag soviel Liebe, soviel Vertrauen in Valjeans Augen, daß Javerts Herzschlag erheblich beschleunigte.

Beinahe hätte Javert über sich selbst gelacht. Sechs Jahre, und Valjean schaffte es noch immer, mit einem einzigen Blick Herzklopfen auszulösen. Sie waren einen weiten Weg zusammen gegangen, und hätte Javert jemand vorhergesagt, daß es diese Form des Glücks geben konnte, und daß sie ihm in seinem Alter noch widerfuhr, so wäre er bestenfalls ungläubig, schlimmstenfalls ärgerlich geworden.

Langsam erhob sich Javert und schlenderte zum Rosenbeet herüber. Betont beiläufig berührte er Valjean im Nacken. „Überanstrenge dich nicht," sagte er nicht ohne Besorgnis.

„Wieso? Hast du heute noch etwas vor mit mir?" erwiderte Valjean mit einem nachsichtigen Lächeln, und Javert zwang sich, nicht zu erröten.

XXX

Valjean lehnte sich im warmen Wasser der Badewanne zurück und genoß, wie sich seine Muskeln entspannten. Auch wenn er noch immer mindestens zehn Jahre jünger wirkte, als er war, spürte er inzwischen gelegentlich sein Alter, besonders wenn er ein paar Stunden in einem Rosenbeet kniete. Aber trotzdem kamen diese letzten Stunden einem perfekten Nachmittag nahe, alle, die er liebte, zusammen an einem sonnigen Spätsommertag im Garten versammelt zu sehen, und dann dieser lange Blick, den er mit Javert getauscht hatte, der so voller Versprechen gewesen war...

Er liebte es zu beobachten, wie liebevoll Javert mit den Kindern umging, wie er ganz ohne die Mauern, die er so viele Jahre um sich aufgebaut hatte, Gefühle zuließ. Diese Seite sahen allerdings nur ausgewählte Personen, gegenüber Fremden war er nach wie vor reserviert und formell.

Ganz und gar nicht formell war allerdings der Aufzug, in welchem Javert ins Badezimmer kam. Er trug lediglich seine Hosen und das Hemd, bei dem ein paar Knöpfe offen standen, und die Ärmel hochgekrempelt waren, sowie seine Lesebrille. Javert war barfuß und starrte ein wenig fassungslos auf zwei Briefe in seiner Hand. „Ich habe hier zwei Angebote, Ermittlungen zu übernehmen, und ich weiß nicht, welches davon absurder ist." Er schüttelte den Kopf. „Hier will mich ein besorgter Ehemann verpflichten, seine Frau zu beschatten, die in einem Verein verkehrt, der möglicherweise Frauenrechte befürwortet."

„Wie schockierend," bemerkte Valjean.

„In der Tat. Wie denkt sich der Mann, daß ich seine Frau in so einen Verein verfolgen soll? Soll ich mich etwa in Frauenkleidern dort einschleichen?"

Die Vorstellung war tatsächlich absurd, so daß Valjean zu lachen begann. „Das wäre eine Ermittlung, an der ich mich beteiligen würde, nur um deine Einsätze zu sehen."

„Es freut mich immer, wenn ich zu deiner Unterhaltung beitragen kann," entgegnete Javert trocken. „Das zweite Angebot kommt von der Oper."

„Die Oper?"

„Ja, offenbar vermissen sie ein wichtiges Requisit."

„Ein Requisit? Wer stiehlt denn so etwas?"

„Das würde ich herausfinden müssen."

„Und, hast du dich schon entschieden, welches Angebot du annehmen willst?"

Javert nahm seine Brille ab, legte sie zusammen mit den beiden Briefe sorgfältig auf den Waschtisch und ging um die Badewanne herum. „Ich denke, ich bevorzuge die Oper." Er griff nach dem Badeschwamm, hockte sich hinter Valjean und begann, ihm den Rücken zu waschen. Er tat es des öfteren, und immer war er überaus sanft, denn die vielen Narben von Peitschenhieben und Stockschlägen schmerzten ihn allein vom Sehen; zumal er sich im Stillen immer fragte, ob auch er einige davon verursacht haben mochte.

„Daß ich dich so etwas jemals sagen hören würde, habe ich auch nicht erwartet," spottete Valjean.

„Was habe ich denn gesagt?"

„‚Ich bevorzuge die Oper'? Du bist bisher nicht gerade als großer Musikliebhaber in Erscheinung getreten."

Javert würdigte diese Unterstellung keiner Erwiderung, warf stattdessen den Schwamm nach Valjean und begann dann, betont langsam, sein Hemd weiter aufzuknöpfen.

„Was soll das jetzt werden?" wollte Valjean interessiert wissen.

„Was denkst du, was es werden soll?"

„Ich denke, du wirst es mich gleich wissen lassen."

Javert ließ das Hemd achtlos zu Boden gleiten und stieg in die Badewanne. „Ich werde dafür sorgen, daß dein Mund anderes zu tun bekommt, als derartige Unverschämtheiten zu äußern. Irgendwelche Einwände?"

Statt einer Antwort zog Valjean Javert zu sich herunter und küßte ihn.

XXX

Javert war außergewöhnlich guter Laune, als er sich am nächsten Morgen auf den Weg zur Oper machte. Diese gute Laune übertrug sich sogar auf Passanten, denen er begegnete, denn ein paar Male wurde er tatsächlich angelächelt, und erst im Nachherein wurde ihm klar, daß dies offenbar die Erwiderung auf sein eigenes Lächeln war, welches in Erinnerung an die vergangene Nacht seine Lippen umspielte.

In der Oper selbst benötigte er einige Zeit, bis es ihm gelungen war, sich bis zum Direktor durchzufragen. Zu seiner Schande mußte er noch zweimal nach dem Weg fragen, weil er sich verirrt hatte, nachdem ihm dieser schon einmal gezeigt worden war, aber wie sollte man auch den Auskünften einer Frau mit leicht wirrem Blick in einem weißen blutbefleckten Kleid, das verdächtig nach einem Nachthemd aussah, Vertrauen schenken? Hätte Javert mehr von Musik und Theater verstanden, so hätte er sicherlich gewußt, daß er ausgerechnet die amtierende Primadonna des Hauses, die von einer Probe von „Lucia di Lammermoor" kam, um eine Auskunft gebeten hatte.

Schließlich schaffte er es jedoch, seinen Weg im Dunkel des Bühnenhauses so weit zu finden, daß er das Büro des Direktors erreichte. Er ließ sich anmelden und betrat dann ein chaotisches Büro, in dem er selbst im Leben nicht hätte arbeiten können oder auch nur wollen.

„Ah, M. Javert, ich bin ja so froh, daß Sie gekommen sind. Sie machen sich ja keine Vorstellung, es ist eine Katastrophe, ach, was sage ich, ein katastrophaler, desaströser Alptraum." Der Direktor sah aus, als sei er kurz vor einem Nervenzusammenbruch. „Sie müssen uns retten, Sie sind unsere einzige Hoffnung."

„Ich habe Ihrem Schreiben entnommen, daß Ihnen ein Requisit abhanden gekommen ist, M. Biscrome," begann Javert und machte den vergeblichen Versuch, etwas Ordnung in das wirre Gerede des Direktors zu bringen.

„Ja, es ist verschwunden, gestohlen, entführt, ich weiß nicht, wie man das nennen soll," plapperte Biscrome weiter. „Wenn die Presse davon Wind bekommt, dieser Skandal wird uns alle ruinieren."

„Ich verstehe, die Lage ist ernst." Manchmal wünschte Javert sich, ein wenig von Valjeans Geduld eines Heiligen borgen zu können. „Und Sie möchten, daß ich die Sache diskret behandele, weil Sie kein Aufhebens darum machen wollen, weswegen Sie nicht die Polizei einschalten können."

„Wie könnte ich die Polizei alarmieren? Soll ich denen etwa sagen, Napoleone Gisquet sei verschwunden?"

Alte Gewohnheiten sterben schwer, und so war Javert für eine Sekunde versucht, beim Namen des Präfekten Haltung anzunehmen. Hatte der Polizeipräfekt von Paris etwa Verwandtschaft beim Theater? Verwandtschaft mit dem italienischen Vornamen von Bonaparte? Und wieso war jemand, der Napoleone Gisquet hieß, ein Requisit? „M. Biscrome, noch einmal ganz langsam," sagte Javert mit erzwungener Ruhe. „Was genau ist das Requisit namens Napoleone Gisquet?"

„Na, unser weißer Elefant," antwortete Biscrome, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt.

Es geschah selten, daß es jemandem gelang, Javert die Fassung verlieren zu lassen; meist schaffte es höchstens Valjean oder zumindest ein Umstand, der mit ihm zu tun hatte. In diesem Fall lag eine Ausnahme vor. „Sie haben einen weißen Elefanten namens Napoleone Gisquet als Requisit?"

„Maestro Meyerbeer hat sehr genaue Vorstellungen von den Aufführungen seiner Opern. Und dazu gehört eben auch ein weißer Elefant."

„Namens Napoleone Gisquet?"

„Ja, mein Gott, er heißt Napoleone wegen des Ägyptenfeldzuges, und Gisquet kam später dazu, weil er ständig seinen Rüssel in Sachen steckt, die ihn nichts angehen."

„M. Biscrome, wie... groß ist Napoleone?" Javert konnte sich nicht überwinden, den zweiten Teil des Namens zu benutzen.

„Wie groß ist schon ein ausgewachsener Elefant?"

„Wir reden hier wirklich über einen lebendigen, weißen Elefanten?"

„Also wenn Sie so schwer von Begriff sind, weiß ich nicht, ob wir diesen Fall wirklich in Ihre Hände legen sollen."

Javert riß sich zusammen, was gar nicht so einfach war, denn er mußte sich zwingen, nicht daran zu denken, was Valjean für ein Gesicht machen würde, wenn er von dem weißen Elefanten erzählte. „Wann hat man Napoleone das letzte Mal gesehen? Und wer hat ihn als letztes gesehen?"

„Vorgestern abend hat sein Pfleger ihn zuletzt in seinem Stall gesehen. Gestern morgen war er verschwunden."

„Ist jemand wegen eines Lösegeldes an Sie herangetreten?"

„Sie meinen, er wurde deswegen entführt?" Biscrome schüttelte den Kopf. „Nein, es hat sich niemand gemeldet."

Javert konnte kaum glauben, daß er die nächste Frage wirklich stellte. „Hat der Elefant Feinde?"

XXX

Valjean hatte den Vormittag währenddessen in der Fantine-Stiftung zugebracht, dort einige Briefe mit der Bitte um Spenden oder einen Arbeitsplatz für einen seiner Schützlinge verfaßt und sich zwei neue Geschichten angehört von Neuankömmlingen, deren Schicksal sich in nichts von dem zahlloser anderer Frauen unterschied. Obgleich er nicht wirklich eine grundsätzliche Änderung der Verhältnisse erkennen konnte, erlahmte sein Elan, Gutes zu tun, in keiner Sekunde.

Am frühen Nachmittag kehrte er in die Wohnung zurück, wo ihn Marguerite, ihre derzeitige Haushälterin empfing. Alphonsine hatte es geschafft, genügend Geld zu sparen, um eine kleine Putzmacherei eröffnen und ihre Kinder zu sich nehmen zu können. Danach hatten zwei Frauen ein kurzes Zwischenspiel gegeben, die eine war mit einem verheirateten Stallknecht aus dem Nachbarhaus durchgegangen, die andere war von Javert zweimal mit der Hand in Valjeans Börse erwischt worden. Einmal hätte Valjean dies mit mahnenden Worten zur Kenntnis genommen und belassen, beim zweiten Mal gab er Javert nach und erlaubte diesem, dem Mädchen die Tür zu weisen.

Marguerite war fast schon zwei Jahre bei ihnen. „Sie haben Besuch, M. Jean," sagte sie, während sie Hut und Stock entgegen nahm. „Ich hätte sie nicht hereingelassen, aber Sie haben ja gesagt, ich darf niemanden abweisen."

„Hat sie gesagt, was sie will?"

„Nein, sie sagte nur, sie wolle den Herrn sprechen, der hier wohnt. Ich denke, daß sie Sie meinte, ich kann mir nicht vorstellen, daß so eine M. Javert sprechen will."

Valjean mußte grinsen, als er die Treppe nach oben stieg. Marguerite hatte offenbar sehr genaue Vorstellungen davon, wer von ihrer Herrschaft welche Besucher empfing: Javert die gutgekleideten Auftraggeber für seine Ermittlungen und Valjean die hoffnungslosen Fälle.

Im Salon fand Valjean eine farbenfroh gekleidete junge Frau Mitte Zwanzig vor, deren Erscheinung ein wenig an Esmeralda aus diesem „Notre-Dame"-Roman von Hugo erinnerte. Als sie Valjeans Eintreten bemerkte, hob sie den Kopf – und beinahe hätte Valjean einen Schritt rückwärts gemacht. Diese Augen, diese forschenden Augen, kannte er ganz genau, er sah sie täglich, und oft waren sie nur Zentimeter von seinem eigenen Gesicht entfernt.

Javerts Augen im Gesicht einer jungen Frau waren ein schöner Anblick, wobei sich Valjean sofort fragte, wie die Augen dort hingeraten sein konnten. Vor einem Vierteljahrhundert war Javert in Toulon gewesen. Hatte er dort etwa eine Affäre gehabt, deren Ergebnis nun vor ihm stand? Sofort verwarf er den Gedanken wieder. Nein, er konnte sich nicht vorstellen, daß jemals eine Frau so dicht an Javert herangekommen war. Valjean war sich sicher, der erste Mensch gewesen zu sein, den Javert geküßt hatte, und er hätte ganz bestimmt nicht gelogen, als er gestand, daß es vor Valjean niemanden gegeben hatte.

Die junge Frau sagte etwas in einer Sprache, die Valjean nicht kannte. „Entschuldigen Sie," sagte er, „ich habe Sie nicht verstanden."

„Dann sind Sie vermutlich nicht mein Onkel," erwiderte die Frau trocken.

„So sehr ich es bedauere, nein, ich fürchte nicht." Valjean lächelte. „Aber ich vermute aufgrund einer gewissen Ähnlichkeit, daß Sie eigentlich zu meinem Freund Javert möchten, Mademoiselle."

„Richtig. Das sagt wohl einiges über meine Fähigkeiten als Wahrsagerin, daß ich vermutete, Sie seien mein Onkel." Sie erwiderte Valjeans Lächeln. „Ich bin Fides, M. Javerts Großmutter ist meine Urgroßmutter gewesen."

„Was führt Sie hierher? Ich habe immer geglaubt, er habe mit seiner Familie gebrochen, als er noch ein Junge war."

„So ein Graf meinte, ich solle hier dringend vorbeikommen. Er sei ihm noch etwas schuldig, daraufhin hat er mir ein paar Francs gegeben, und hier bin ich."

Wenn dieser Graf ein früherer Auftraggeber Javerts war, sagte er Valjean nichts, und normalerweise wußte er, womit Javert sich beschäftigte. Und es war eine merkwürdige Art, sich erkenntlich zu zeigen, in den persönlichen Verhältnissen des Ermittlers herumzuschnüffeln. Andererseits hatte Valjean immer schon gefunden, daß Javerts kategorische Ablehnung seiner Familie und seiner Herkunft übertrieben war. Doch so sehr der ehemals so beherrschte Ex-Polizist gelernt hatte, Gefühle zuzulassen, in diesem Punkt war er unerbittlich geblieben.

Nun, vielleicht würde sich das ändern, wenn er ein Mitglied seiner Familie leibhaftig vor sich sah. „Neben Sie doch Platz. Ich denke, Javert wird in Kürze hier sein."

Fides setzte sich. „Ich könnte Ihnen so lange aus der Hand lesen."

Valjean wies sie nicht darauf hin, daß sie gerade ihre Fähigkeiten als Wahrsagerin selbst für fragwürdig erklärt hatte, und reichte ihr seine rechte Hand.

Fides nahm sie und starrte angestrengt darauf. „Hhm," machte sie. „Da ist ein großer dunkler Mann in Ihrem Leben. Normalerweise sage ich den Satz zu Frauen," fügte sie verwirrt hinzu.

„So schlecht sind Ihre wahrsagerischen Fähigkeiten ja gar nicht," beruhigte Valjean sie. Er lauschte aufmerksam und hörte tatsächlich die Eingangstür ins Schloß fallen. Vielleicht war es besser, Javert entgegenzugehen, um zu verhindern, daß er zu sehr überrascht wurde. So entschuldigte sich Valjean hastig bei Fides und ging zur Tür des Salons. Javert war bereits mit diesem sehr anziehenden Glitzern in den Augen, was sich immer dann zeigte, wenn er amüsiert war, oben an der Treppe angekommen.

Plötzlich wußte Valjean nicht, was er sagen, wie er beginnen sollte. So sagte er das erste, was ihm in den Sinn kam. „Wo bist du denn so lange herumzigeunert?"

Das Glitzern verschwand sofort aus Javerts Augen. Es irritierte ihn sehr, daß Valjean diesen Satz gesagt hatte. Er mußte doch ganz genau wissen, wie empfindlich Jabert bezüglich seiner Herkunft war, um darüber gedankenlose Witze zu machen. Wortlos schob sich Javert an Valjean vorbei und blieb wie erstarrt stehen.

Die Frau, die im Salon saß, war das Ebenbild seiner Mutter, nur viel jünger und nicht durch Elend und Alkohol gezeichnet.

Die Frau begann zu sprechen, und obgleich Javert die Sprache, die sie benutzte, eine Ewigkeit nicht gehört und noch länger nicht gesprochen hatte, verstand er jedes Wort. „Ich bin Fides, der Graf von Monte Cristo sagte mir, du wärest mein Onkel."

Javert starrte sie weitere zehn Sekunden lang an, drehte sich abrupt um und verließ das Haus.

Valjean stieß ein Seufzen aus. Ganz offensichtlich war der Versuch dieses ominösen Grafen, sich zu bedanken, absolut nicht als Wohltat aufgenommen worden. Alles in ihm drängte dazu, Javert hinterher zu stürzen, doch er widerstand dem Drang. Stattdessen wandte er sich zunächst an Fides. „Er wird sich wieder beruhigen, er wird nur etwas Zeit brauchen. Warten Sie hier, ich werde ihn zurückholen."

Valjean griff nach Hut und Stock und verließ langsam das Haus. Er hatte keine Eile, Javert sollte sich zunächst ein wenig fangen können, bevor er ihn einholen würde. Es gab keine Sekunde des Zweifels in Valjeans, wohin Javert gehen würde; man konnte nicht dreißig Jahre auf der Flucht vor einem Mann sein und sechs Jahren in dessen Armen liegen, ohne das Wissen zu entwickeln, was dieser Mann als nächstes tun würde.

Der Weg war bekannt, sie hatten ihn in den vergangenen Jahren an jedem 9. Juni in den frühen Morgenstunden zurückgelegt; immer gemeinsam. Zweimal nur war Valjean bisher allein gegangen, beide Male in Panik und Todesangst um Javert. Diesmal war er jedoch ruhig und konnte gemächlichen Schrittes gehen.

Javert lehnte am Geländer der Brücke und blickte auf die Seine. Er mußte den Blick nicht vom Wasser wenden, um zu wissen, daß es Valjean war, der neben ihm stand.

„Wieder die Brücke?" fragte dieser nur.

„Immer wieder diese verdammte Brücke." Das Lächeln um Javerts Lippen war schmerzlich. „Was denkt sich dieser verdammte Graf nur?"

„Wahrscheinlich dachte er, es würde dir Freude machen."

„Wie könnte es das? Ich bin fünfzig Jahre ohne sie ausgekommen, ich brauche keine Familie."

„Du hast eine Familie," erinnerte Valjean ihn sanft.

Deine Familie," verbesserte Javert grimmig.

„Das ist Unsinn, und das weißt du auch." Fast klang Valjean ärgerlich. „Die Kinder sagen mit der gleichen Selbstverständlichkeit zu dir ‚Grandpère', wie sie es bei mir tun, und ich bin sicher, daß sie nicht einmal wissen, daß keiner von uns tatsächlich mit ihnen verwandt ist."

„Ich werde darüber nicht streiten," Javert klang weniger grimmig als zuvor, „aber was ich wirklich nicht benötige, ist meine Familie. Ich brauche sie nicht, ich will sie nicht."

„Warum nicht?" fragte Valjean einfach, und für einen langen Moment starrte Javert ihn ungläubig an, als würde er die Augen vor der Wahrheit absichtlich verschlossen halten.

„Ich habe mir ihnen gebrochen, als ich noch ein Kind war. Warum sollte ich mit einer Bande von Herumtreibern und Dieben Kontakt pflegen?"

Valjean lachte leise auf. „Weil sich einiges geändert hat seitdem, und du nicht nur akzeptiert hast, daß sich ein Dieb und Herumtreiber wandeln kann, sondern daß du ihn gerne in deiner Nähe hast," sagte er ohne jede Bitterkeit.

Javert zuckte sichtlich zusammen. „Du weißt genau, daß ich dich nicht gemeint habe."

„Natürlich nicht. Aber wenn ich mich ändern konnte, wieso nicht deine Familie? Und dieses Mädchen hat doch nichts damit tun, was deine Eltern vor einem halben Jahrhundert getan haben oder gewesen sein mögen. Sie war doch noch nicht einmal geboren."

„Diese Sippschaft ist verdorben, durch und durch."

„Ach, ja?" Valjeans Lächeln wurde breiter. „Und wieso bist du es dann nicht?"

Javert öffnete den Mund und schloß ihn dann wieder, ohne etwas zu sagen. Wieder einmal hatte ihn Valjean mit seiner ganz eigenen verdrehten Logik aus seinem festgefügten Denkbahnen gebracht. „Was soll ich also deiner Meinung nach tun?"

Valjean legte seine Hand zärtlich auf die Hand Javerts, mit der dieser sich auf dem Geländer abstützte. Mehr war hier draußen, am hellichten Tage auf einer belebten Brücke nicht möglich, um seine Gefühle der Dankbarkeit auszudrücken darüber, daß sich Javert nicht mehr störrisch benahm. „Lerne sie kennen, und wenn du dann findest, sie ist verdorben, höre ich auf, dir in den Ohren deswegen zu liegen."

„Ist das ein Versprechen?"

„Sicher."

„Dann werde ich mir diese Nichte von mir ansehen." Javerts Finger drückten sanft gegen Valjeans Hand. „Und ich tue das nur, um Ruhe vor dir zu haben, du Quälgeist."

7