Jinai: Okay, keine Panik, Leute, bringt mich nicht um! Es geht ja weiter!
Raffael: Das passiert, wenn man plötzlich aufhört und niemandem erzählt, dass es weitergeht.
Jinai: Wie? Meine Hinweise im letzten Kapitel von My Obsession waren nicht deutlich genug?
Raffael: *augenroll* Was du als Hinweise bezeichnest, wird woanders als grober Unfug angezeigt.
Rated: T
Disclaimer: Alles an Katsura Hoshino, nichts an Jinai. Und Here By Me ist ein Song von Three Doors Down.
Jinai: Hey, wir sind noch nicht fertig, junger Mann!
London, Hauptquartier des schwarzen Ordens:
Als das Telefon klingelte, hatte Komui Li schon abgehoben, bevor das erste Klingen verstummt war. „Habt ihr sie?"
„Wen? Hier ist…" Komui versuchte, sein enttäuschtes Gesicht zu verbergen. Seit zwei Wochen waren seine Linali-chan und die anderen vier Exorzisten, mit denen sie auf die Mission nach Szeged aufgebrochen war, wie vom Erdboden verschluckt. Niemand hatte sie finden können. Die Finder, die sie begleitet hatten, behaupteten steif und fest, dass sie von einem Moment auf den anderen aus dem Nebenzimmer verschwunden waren.
Er verpasste sich einen mentalen Tritt. Jetzt musste er sich auf das Gespräch mit dem Finder aus Rouen konzentrieren.
„…Aha…Ja…Ja, danke…Meldet euch, sobald ihr mehr habt. Wiederhören." Er legte auf und seufzte. Seit zwei Wochen waren die Exorzisten Linali Li, Allen Walker, Kanda Yuu, Lavi und Jinai verschwunden. Die Großmarschälle hatten darauf plädiert, sie aufzugeben, aber keiner war bereit, so weit zu gehen. Komui war nicht der einzige, der glaubte, dass sie noch lebten. Nie im Leben würden die fünf einfach so sterben.
Die Umstände ihres Verschwindens waren das mysteriöse an der ganzen Sache. Die Finder hatten sich im Nebenzimmer befunden, als auf einmal ein ohrenbetäubender Lärm aus dem Zimmer der Exorzisten kam. Sie beschreiben es als ‚ein Brausen oder so ähnlich'. Als sie die Tür aufgerissen hatten, um nachzusehen, war das Zimmer leer gewesen. Keine Kampfspuren, nichts. Alle Türen und Fenster verschlossen.
Wie ist das möglich?
„Abteilungsleiter… Hey, Abteilungsleiter… ABTEILUNGSLEITER LI!!!"
„Was? Was ist, River?"
„Telefon!"
Komui sah auf das Telefon auf seinem Schreibtisch. Tatsächlich, es klingelte. Sicher wieder einer der Finder mit dem Bericht, dass sie nichts gefunden hätten. Komui seufzte. In letzter Zeit fanden sie gar nichts mehr. Kein Innocence, keine Exorzisten, weder neue noch verschollene.
„Hallo?"
„Wir haben sie!!!" Der Mann am anderen Ende der Leitung schrie so laut, dass Komui den Hörer weiter weg halten musste. Dann riss er die Augen auf.
Er sprang auf. „WAS?!? Baku, bist du das!?"
„Ja! Ein paar Finder haben sie aufgegabelt, irgendwo auf der asiatischen Seite des Urals. Sie sind allem Anschein nach in Ordnung. Sag mal, was ist das? Weinst du?"
„Natürlich nicht." Komui wischte eine Träne aus dem Augenwinkel. „Sind sie es auch wirklich?"
„Alle vier."
Komui erstarrte. „Vier? Nenn mir ihre Namen."
„Linali Li." Er atmete erleichterte auf. Seine Linali-chan war in Sicherheit. „Allen Walker. Lavi. Kanda Yuu."
Komui starrte blind auf seinen Schreibtisch. „Habt ihr sonst niemanden gefunden? Ein Mädchen, ungefähr achtzehn, zwischen 1,70 und 1,75 mit langen dunklen Haaren und leicht gebräunter Haut?"
„Nein. Aber deine Beschreibung klingt nach einem Mädchen, von dem sie gesprochen haben."
„Was ist mit ihr?" Er war wieder aufgesprungen.
„Sie sagen… sie sei tot." Bei diesen Worten ließ sich Komui zurück in seinen Sessel fallen. Jinai war tot. Sie war noch keine drei Monate beim Orden gewesen und jetzt…
Er konzentrierte sich wieder auf das Gespräch mit Baku, dem Leiter der Asien-Zweigstelle. „Haben sie sonst noch was über sie gesagt? Vielleicht, wie es… was passiert ist?"
„Sie sagten, sie wären in Szeged von Akuma überrascht worden. Um die Finder nicht zu gefährden, haben sie sie weggelockt, aber es wurden immer mehr. Sie haben sie aus der Stadt gejagt, raus in die Wildnis. Danach folgte eine Odyssee durch halb Europa, bei der sie ständig von Akuma verfolgt wurden. Dabei wurde das Mädchen anscheinend getötet."
Die Geschichte hörte sich ziemlich unglaubwürdig an für Komui. „Schick sie mir her. Ich muss mit ihnen reden." Er musste sie direkt befragen, wenn er die Wahrheit wissen wollte.
„Ich weiß nicht, Komui. Sie sehen ziemlich geschafft aus. Wäre es nicht besser, sie kommen zu uns in die Asien-Zweigstelle? Die Reise wäre um einiges kürzer und sie sollten sich ausruhe-"
„Ausruhen können sie sich auch hier. Schick sie her."
„Hai, hai. Was ist denn mit dir los?"
„Gib endlich die Anweisungen, damit sie so schnell wie möglich hierher kommen können, Baku! Dann können wir weiterreden." Er legte nicht einfach auf, sondern schleuderte den Hörer auf die Gabel.
„Was ist los?" River hatte seine Arbeit unterbrochen und sah ihn besorgt an.
„Sie sind wieder da. Irgendwo im Ural. Aber nur zu viert." Er presste kurz die Lippen aufeinander. „Jinai ist tot."
River beobachtete ihn aufmerksam. Man sah Komui an, das ihm der Tod des Mädchens ohne Innocence ziemlich nahe ging. Kein Wunder. Obwohl sie für sie alle ein Rätsel war –gewesen war, hatten sie sie alle sehr gemocht. Sie war laut und hatte immer irgendeinen Streich oder einen Kampf am Laufen, aber sie war ein nettes Mädchen mit einem guten Herzen gewesen. Und eine gute Exorzistin.
Komui seufzte. „Wir haben nicht einmal eine Leiche, die wir begraben könnten. Wahrscheinlich hat sie ein Akumageschoss getroffen." Er legte die Brille ab, presste Zeigefinger und Daumen auf die Nasenwurzel und kniff die Augen zusammen. „Die vier müssten ungefähr morgen ankommen. Baku setzt alle Hebel in Bewegung, um sie möglichst schnell hierher zu bringen. Dann wissen wir mehr."
Bis dahin konnte er nur weiterarbeiten, sich Sorgen machen und auf sie warten. Er hasste sich dafür, dass er so hilflos war. Wünschte sich, mehr tun zu können. Aber er war kein Kompatibler. Er war Wissenschaftler. Alle seine Möglichkeiten erstreckten sich auf den Bereich des den Menschen Zugänglichen. Den Normalsterblichen. Als normaler Mensch ohne besondere Fähigkeiten war er dazu verdammt, zuzusehen und zu beobachten, wie die Exorzisten die Schlacht schlugen. Ihnen Aufgaben erteilen und zum Abschied winken. Das war alles.
Er dachte an seine Schwester. Sie hatte Jinai sehr gemocht, wahrscheinlich genau so sehr wie Lavi.
Lavi. Er musste mit Bookman sprechen. Auch wenn Lavi um seine ‚imouto' trauern wollen würde, sie brauchten ihn. Als Bookman und als Exorzisten. Der alte Mann war wahrscheinlich der einzige, der zu ihm durchdringen würde.
Er machte sich auch Sorgen um Allen. Der Engländer sorgte sich immer sehr um andere und würde ebenfalls etwas brauchen, das ihn ablenken konnte. Eine Mission oder so etwas. Wieso haben wir ausgerechnet jetzt nichts in petto?
Es wäre sowieso ein erbärmlicher Ersatz gewesen. Eine Mission für ein Menschenleben, das Leben eines Freundes. Lächerlich.
Aber irgendwas mussten sie tun können. Vielleicht könnten sie eine symbolische Beerdigung für das Mädchen abhalten. Aber ob das helfen würde?
Er setzte seine Brille wieder auf und beugte sich über seine Arbeit. Es war immer schlimm, einen Exorzisten und Freund zu verlieren, aber dadurch wurde der Berg an Arbeit nicht kleiner. Er konnte nicht den ganzen Tag um sie trauern. Komui wusste, dass er herzlos klang, aber auch noch andere Menschenleben hingen von ihm ab, Menschenleben, die er noch retten konnte. Jedes, das sie retten konnten, zählte.
Wenigstens um einen von ihnen musste er sich keine Sorgen machen. Kanda würde das wegstecken. Der Japaner war hart.
*~*------*~*------*~*------*~*
Sie saßen gemeinsam mit zwei Findern, die Baku ihnen geschickt hatte, im Abteil eines Zuges nach London. Anscheinend hatte man Angst, sie würden wieder verschwinden.
Keiner sah den anderen an. Die Finder starrten zu Boden, Allen sah an die Decke, Linali hatte seit Fahrtbeginn den Blick nicht von der Tasche in ihrem Schoß gewandt und Lavi und Kanda starrten aus dem Fenster.
Gerade zog Köln an ihnen vorbei. Aus dem Augenwinkel konnte Lavi die Domspitze erkennen, aber er machte sich nicht die Mühe, den Kopf zu wenden. Er hatte dem Dom schon gesehen. Im Moment war ihm ohnehin nicht nach Sightseeing.
Seit sie den Wald verlassen hatten, in dem sie gelandet waren, hatten sie kein Wort mehr miteinander gesprochen. Kurz und knapp hatten sie auf die Fragen der Finder geantwortet, einander dabei aber nicht angesehen. Als Allen sich überwunden hatte, den Namen ‚Jinai' auszusprechen, waren die anderen drei merklich zusammengezuckt. Die Wunde war noch frisch. Seitdem hatten sie kein Wort mehr gesagt, nur noch genickt oder den Kopf geschüttelt, wenn sie etwas gefragt wurden.
Lavi hätte am liebsten mit der Faust auf den Tisch gehauen, als ihn eine neue Welle der Wut überkam. Verdammt! Sie hätte sicher sein sollen! In ihrer Welt, ohne Akuma und Innocence, hätte sie sicherer sein sollen als hier. Aber sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass sie das nicht sein würde, hatte ihren nahen Tod hinter einem Lächeln versteckt. Sie hatte sie alle belogen. Ihnen vorgespielt, dass alles in Ordnung war, dass sie leben und regieren und was nicht noch alles würde.
Er wusste, dass ihre Heiterkeit nicht gespielt gewesen war. Sie war wirklich glücklich gewesen. Wie kann man glücklich sein, wenn man weiß, dass man sterben muss?
Aber sie hatte es vier Jahre lang gewusst. Sie hatte alle Zeit der Welt gehabt, um sich darauf vorzubereiten. Das leere Schloss, Elaine, Daralea und Arita verschwunden… Es war alles vorbereitet gewesen, die Bühne für ihren Heldentod. Ein makabres Schauspiel, und sie waren die einzigen Akteure gewesen, die keine Ahnung hatten, wie das Stück hieß.
‚Märtyrer oder Von dem Mädchen, das nicht alles sagte. Ein Stück in drei Akten.'
Erster Akt: Das Kennenlernen.
Zweiter Akt: Geheimnisse und Freundschaften.
Dritter und letzter Akt: Der Tod und das Mädchen.
Vorhang, Applaus, Applaus. Ein paar Blumen, die auf der Bühne landen. Schluss.
Lavi drehte sich der Magen um. Die Wut wurde von Trauer abgelöst. Nie wieder das Lächeln seiner kleinen Schwester sehen, nur noch eine blasse Erinnerung in seinem Gedächtnis. Ein Gedächtnis, das sich alles merkte. Auch den Anblick ihrer Leiche.
Er schloss sein Auge und atmete tief durch, um die Übelkeit zu verdrängen. Er war nicht der einzige, der dieses Bild nicht mehr vergessen würde können. Es würde auch Kanda verfolgen. Insofern hatten Allen und Linali Glück, dass sie das nicht sehen mussten. Das wünschte er wirklich niemandem, und wenn er ihn noch so hasste. Dem Grafen oder den Noah vielleicht, aber er bezweifelte, dass ihnen das viel ausmachen würde. Sie waren nicht Mensch genug, um um jemanden zu trauern. Er glaubte nicht mal, dass es ihnen irgendetwas bedeutete, einen der ihren sterben zu sehen. Noah kamen ihm vor wie die Maschinen der Akuma. Vielleicht Level 2, denn sie empfanden Vergnügen beim Töten. Aber sonst…
Lavi atmete tief aus. Er öffnete die Augen. Sie hatten Köln verlassen. Bald würden sie die Deutsch-Belgische Grenze erreichen. Dann war es nicht mehr lange bis Frankreich und danach würden sie in London ankommen, wo sie sich im Hauptquartier einer Menge Fragen stellen mussten. Ihre Geschichte war zu dünn, sie hätten sie noch weiter ausbauen müssen. Aber einerseits, je mehr Details dazu kamen, desto leichter verfing man sich darin, außerdem machten zu viele unnötige Details eine Geschichte unglaubwürdig, und andererseits hatte im Moment keiner von ihnen Lust, sich etwas zu überlegen. Sie wollten überhaupt nicht sprechen.
Es war unfair von ihnen, das wussten sie. Sie hatten nicht als einzige das Recht dazu, sich im Selbstmitleid zu suhlen, aber momentan waren sie zu nichts anderem fähig. Sie wären nicht richtig bei der Sache, wenn sie etwas anderes täten, und wenn man etwas nur halb machte, ließ man es besser gleich.
Linali zitterte neben ihm. Normalerweise wäre er so freundlich gewesen zu fragen, ob sie friere und vielleicht seine Mantel haben wolle, aber es erübrigte sich. Er wusste, warum sie zitterte. Ihm ging es ja nicht anders.
„Ich möchte keinen meiner Freunde verlieren." „Ich auch nicht."
„Du wirst mir fehlen." „Du mir auch, Linali."
Diese Sätze verfolgten sie. Hätte sie noch Tränen gehabt, dann hätte sie geweint. Aber ihre geröteten Augen blieben trocken. Wieder zitterte sie.
Jedes Zittern war wie ein körperlicher Schmerz. Jede Bewegung, schon das Bewegen der Augäpfel tat weh. Also ließ sie es. Aber gegen das Zittern konnte sie nichts tun. Sie zitterte einfach unkontrolliert vor sich hin, die Augen starr auf ihren Schoß gerichtet und die Hände in dem Stoff der Tasche darauf verkrampft. Seit Stunden hatte sie sie nicht mehr gelöst. Langsam waren sie taub geworden, bis sie sie gar nicht mehr spürte. Als ob sie neben sich selbst stehen würde, hatte sie den Vorgang desinteressiert verfolgt. Als ihre Hände dann taub waren, hatte sie ihre Aufmerksamkeit wieder anderen Dingen zugewandt.
Linali hatte stundenlang geweint, egal wie sehr sie versucht hatte, damit aufzuhören. Jetzt fühlte sie sich so taub wie ihre eiskalten Hände, aber sie war nicht tot. Der Schmerz war immer noch da und band sie an ihr Leben.
Jetzt hätte sie ihren Bruder gebraucht. Jemanden, der sich um sie kümmerte, ihr gut zuredete und sie schlafen ließ, tagelang schlafen ließ. Aber obwohl sie auf dem Weg zu ihm war, freute sie sich kein bisschen. Dafür war trotz der Leere kein Platz. Sie wusste, dass es seine Aufgabe als Leiter des Hauptquartiers war, herauszufinden, was passiert war. Aber eher würde sie sich die Zunge abbeißen, als irgendjemandem zu erzählen, was sie erlebt hatten.
„Nicht- bitte, Linali, nicht weinen." „Ich kann nichts dafür, es ist einfach…" „Denk… denk an alle, die du wiedersehen wirst. Komui, Miranda, Krory, Anna, Marie-"
Ihre Kehle war zugeschnürt, ihre Augen brannten, aber sie fand keine Tränen in der Leere in ihr. Alles was sie wahrnahm, und was nicht aus Schmerz bestand, war die Tasche auf ihrem Schoß. Aber diese war auch Schmerz. Kein körperlicher, aber jeder Blick darauf tat ihr in der Seele weh. Trotzdem konnte sie sich nicht davon losreißen. Sie hatte Angst, wenn sie die Tasche aus den Augen ließe, würde sie genauso verschwinden wie Jinai. Also bewachte sie sie, als ob sich in ihr die Kronjuwelen der Queen of England befinden würden.
Wieder ein Zittern. Es war vergebens, dagegen anzukämpfen, also ließ sie es gleich bleiben.
Linali sehnte sich nach nichts mehr als nach einer heißen Dusche und eine warmen, weichen Bett. Sie wusste, dass sie beides nicht so bald bekommen würde, aber im Moment wollte sie nur schlafen. Schlafen und vielleicht nie wieder aufwachen.
„So ist nun mal der Lauf der Dinge. Ihr werdet in eurer Welt gebraucht, und ich in meiner."
Sie durfte nicht einschlafen. Und wenn, dann musste sie wieder aufwachen. Noch war sie eine Exorzistin, noch hatte sie eine Aufgabe. Wenn alles vorbei war, wenn der Graf und die Noah besiegt, das letzte Akuma vernichtet war, dann konnte sie wieder an Jinai denken. Aber sie würde damit aufhören, sobald sie in London war. Für sie war Jinai nicht mehr als eine ferne Erinnerung, die sie erst dann wieder aus ihrem Gedächtnis kramen würde, wenn die Zeit reif dafür war. Solange musste sie durchhalten. Und wenn es sie umbrachte. Das war sie ihr schuldig, und allen anderen auch.
Die Exorzisten mussten stark sein. Lethargie war nicht erlaubt, Müßiggang bekanntlich aller Laster Anfang. Auch wenn ihr dabei schlecht wurde, sie musste positiv denken. Sie war am Leben, sie hatte ihre Dark Boots wieder und sie konnte kämpfen und ihre kleine Welt beschützen. Noch war sie nicht geschlagen.
Aber bis es so weit war, konnte sie die kleine Tasche auf ihrem Schoß anstarren, in der sich alles befand, was ihr noch von ihrer Freundin geblieben war und nicht aus Erinnerungen bestand, bis sie blind wurde.
Nur noch wenige Stunden. Dann würden sie im Hauptquartier ankommen. Was war dann?
Allen wusste es nicht. Er konnte es sich nicht vorstellen, was dann passieren würde. Sein Verstand sagte ihm, dass sie natürlich eine Menge Fragen beantworten müssten, aber wie diese aussahen, dieses Bild verweigerte er ihm. Das einzige, was er sah, war ein Gefühl. Endlose, zermürbende Verhöre. Erschöpfung.
Aber noch ließ er sie nicht an sich heran.
Er erinnerte sich daran, wie es gewesen war, als Narein starb. Marschall Cross hatte ihn davon abgehalten, zu lange zu trauern, einfach, indem er ihn zur Arbeit schickte, wo er nicht darüber nachdenken konnte. Aber jetzt lagen noch Stunden des Nichtstuns vor ihnen. Und sie waren voll mit Erinnerungen.
Das größte Bild war das von Jinai in ihrem Arbeitszimmer. Wie sie sich über die Papiere beugte, die Lippe zwischen den Zähnen. Wie sie sich eine Strähne hinters Ohr strich.
Und dann, wie sie mit Kanda getanzt hatte.
„Ich hasse sie!! Sie hatte kein Recht, das zu tun! Ich hasse sie und ihren beschissenen Märtyrerkomplex! Sie hatte kein Recht, uns zurückzuschicken! Sie hatte kein Recht, zu sterben!!"
Die Schreie des Japaners klangen immer noch in seinen Ohren nach.
Nein, Kanda hat kein Recht. Er hat kein Recht dazu, sie zu hassen.
Das hatte sie nicht verdient.
Aber er wusste, dass der Japaner sie nicht hasste. Auch wenn er ihn nicht mochte, ihm war der Unterton in seiner Stimme nicht entgangen. Verzweifelt hatte er versucht, das Gesehene abzustreiten, zu leugnen, was Tatsache war.
Und jetzt hatte ihn diese letzte Hoffnung, dass sie noch am Leben war, verlassen. Es war alles vorbereitet gewesen, niemand im ganzen Schloss oder in der Umgebung. Jede Hilfe wäre zu spät gekommen. Wahrscheinlich kamen gerade in diesem Moment die ersten Diener zurück, neugierig geworden, wieso sie das Schloss so plötzlich verlassen mussten. Allen mochte sich nicht vorstellen, was sie vorfinden würden.
Eine Märtyrerin… er hasste das Wort. Märtyrer starben meist umsonst. Undank war der Welten Lohn, hier wie dort. Sie alle hatten gesehen, wie die Leute ihr blind gefolgt waren. Sie hatten sie nicht gebraucht, weil es nötig war, sondern, weil sie nicht alleine zurechtkamen. Es war ihnen egal, wie es ihr dabei ging, ob sie völlig übermüdet und erschöpft war, weil sie bis zum Morgengrauen gearbeitet hatte und dann in Verruf geriet, weil sie nicht präsentabel aussah. Jeder hatte Ansprüche an sie, die sie erfüllen musste. Er konnte sich vorstellen, wie sie ihr das danken würden.
Und wie würde ihre Familie reagieren? Hatten sie es gewusst? Was passieren würde? Bestimmt, denn Elaine hatte ihnen doch eine Abschrift der Prophezeiung gegeben. Und wenn Elaine es wusste, dann Daralea mit Sicherheit auch.
Wieso hatte sie ihnen dieses Stück Papier mitgegeben? Es war bestimmt nicht geplant gewesen, dass sie davon erfahren sollten, sonst hätten sie es ihnen einfach sagen können. Wenn sie verschwunden gewesen wären, bevor der Angriff stattfand, hätten sie es nie mitbekommen. Aber wozu dann der Brief? Hatte Elaine gewusst, dass etwas schief laufen würde in der Planung? Oder hatte sie geglaubt, Kanda würde verstehen, was gemeint war und passieren würde, es aber für sich behalten?
All diese Fragen beschäftigten ihn, aber er fand einfach keine Antworten. Doch irgendwie musste er sich ablenken von den Erinnerungen. Auch wenn unbeantwortbare Fragen ein schlechter Ersatz waren.
Wieder musste er an sie denken. Wie sie immer gelächelt hatte. Als ob sie nicht glücklicher sein könnte. Langsam zweifelte er an der Echtheit dieses Lächelns. Möglicherweise war es eine Maske gewesen, genau wie die Königin. Um sie zu beruhigen, ihnen vorzugaukeln, dass alles in Ordnung sei. Damit sie nicht dahinter kamen, dass sie tatsächlich an dem Tag sterben würde, an dem sie sie zum letzten Mal sehen würden.
Wenn wir sie nie wiedersehen können, ist das als ob sie tot wäre. Wie dumm wir waren und wie Recht wir doch gleichzeitig hatten, als wir das dachten.
Er starrte jetzt schon sein Fahrtbeginn nur an die Decke. Nach links zu sehen, hätte bedeutet, den Finder neben sich anzusehen, und das wollte er nicht. Hätte er geradeaus gesehen, dann hätte er Linali und Lavi gesehen, wie sie mit ihrer eigenen Trauer kämpften. Das wollte er sowohl sich als auch ihnen ersparen. Und nach rechts konnte er sowieso nicht sehen. Also blickte er nach oben. Stundenlang einfach nur nach oben.
Normalerweise wäre er nie neben Kanda gesessen, aber jetzt machte es ihm nichts aus. Es war, als ob zwischen ihnen eine Betonwand war. Kein ‚moyashi', kein ‚Allen!', nichts. Obwohl sie keine zehn Zentimeter auseinander saßen, waren sie kilometerweit voneinander entfernt. Ausnahmsweise herrschte ein stilles Einvernehmen, keinen Kontakt zu dem jeweils anderen zu haben. Selbst wenn einer von beiden irgendetwas gesagt hätte, der andere hätte gar nicht reagiert.
Und das war beiden nur recht. Kanda ebenso wie Allen.
Es hätte Allen auch nicht bekommen, ihn jetzt anzusprechen. Kanda hätte ohne zu zögern Hackfleisch aus ihm gemacht, wütend wie er war. Mit aller Macht versuchte er, die Erinnerungen loszuwerden, aber vergebens. Als säße sie neben ihm.
Chikushou!
Er fürchtete sich davor, irgendwo anders hinzusehen als auf die vorbeifliegende Landschaft. Die Erinnerungen waren so deutlich, dass er das Gefühl hatte, dass sie ständig neben ihm stand. Lächelte, ihn ‚Yuu-chan' nannte, ihre Unterlippe zwischen die Zähne zog und sich eine ihrer widerspenstigen Strähnen aus dem Gesicht schob. Er wurde sie nicht los. Sobald sein Geist nicht mit anderen Dingen beschäftigt war, war sie wieder da. Und leider gab es nur sehr wenig zu tun, auf einer Reise, wo er nichts anderes tun konnte als zu warten.
„Jinai!" „Du hast mich vorher nie so genannt, Kanda."
Es stimmte. Er hatte sie auch in Gedanken fast immer nur ‚Gör' genannt, in Ermangelung eines anderen Namens. Ihren Namen hatte er nie genannt. Und jetzt brachte er es nicht mehr fertig, sie so zu nennen. Nur noch in seinen Erinnerungen existierte er, als wäre gemeinsam mit ihrer Lebenskraft auch seine Fähigkeit, ihn auszusprechen oder sogar nur zu denken, erloschen. Unwiederbringlich. Nie wieder würde er ihn nennen. Ihr Name war mit ihr gestorben.
Daralea bedeutet ‚Die Kriegerin', Maede ‚Die Mutter' und Jinai ‚Herz'.
Seine Bedeutung war womöglich das Schlimmste. Alle Erinnerungen an sie oder ihren Namen würden ihn unweigerlich an die Wunde erinnern, die er von dem Anblick ihrer Leiche davongetragen hatte. Die sich bis tief in sein Herz und seine Seele gebohrt hatte.
Er hatte ihr noch nicht einmal sagen können, dass er sie liebte. Und es noch immer tat. Sie hatte einen Platz in seinem Herzen eingenommen, den nie jemand anders haben würde.
Wieder lächelte ihr Geist. Es war ungerecht, dass er so lächeln konnte, wo ihm doch so elend zumute war. Noch immer war da diese Leere. Nein, nicht Leere. Seit er in diesem Wald gelandet war, fühlte er sich… zerrissen. Als hätte jemand sämtliche seiner Organe aufgeschlitzt und würde darauf warten, dass er verblutete. Alles in ihm war wild durcheinander geworfen, nichts mehr an seinem Platz. Er fragte sich, wie lange dieser Zustand noch anhalten würde, wie lange er noch dieses Gefühl haben würde, ein gefüllter Braten zu sein. Ungefähr so fühlte er sich nämlich. Alle Erinnerungen stauten sich in seiner Magengegend, bildeten einen eisigen Klumpen, das einzig Beständige in diesem Wirbelsturm in seinem Inneren. Immer wieder durchlebte er sie, gegen seinen Willen zwangen sie sich ihm auf, drängten ihn, nicht vergessen zu werden. Als ob er das könnte.
Kanda spürte Linali mehr zittern, als dass er sie durch das Spiegelbild im Fenster sah. Stur weigerte er sich, hinzusehen, einen einzigen von ihnen anzusehen, sondern starrte blind durch sie hindurch, auf einen unsichtbaren Fixpunkt in der fliegenden Landschaft. Aber für ihn war da ein Fixpunkt. Und er konnte den Blick nicht davon reißen. Er hatte das Gefühl, dass sie gleichzeitig neben ihm und vor ihm war, ihn von seinem Fixpunkt aus anlächelte. Ihr verfluchtes Lächeln lächelte und dann wieder die Unterlippe zwischen die Zähne zog, um sich selbst daran zu hindern. Als ob sie das je geschafft hatte. Nie hatte sie es verhindern können, dass das Lächeln sich auf ihr Gesicht stahl und ihm den Kopf verdrehte. Oft genug hatte er sich gefragt, ob sie das überhaupt wollte, ob sie es überhaupt verhindern wollte, oder doch viel mehr eine stumme Herausforderung damit aussprach.
Sag es. Sag, dass du mich liebst.
Aber er konnte es nicht. Stumm hatte er sie betrachtet und sich dann meistens mit einem verächtlichen Laut abgewandt, um nicht doch der Versuchung zu erliegen. Und jetzt war es zu spät. Die letzte Gelegenheit, es zu gestehen, war vorbei. Tot wie sie.
Im Nachhinein betrachtet war es vielleicht sogar besser, wenn er diese Worte für sich behielt. Was hätte es gebracht, wenn sie kurz darauf starb?
Aber die unausgesprochenen Worte lagen schwer auf seiner Seele. Sie brannten förmlich, wollten gesagt werden. Auch wenn dazu keine Möglichkeit mehr war, sie waren noch da und weigerten sich, mit ihr zu verschwinden. Ihr.
Nie wieder werde ich ihren Namen nennen.
Raffael: Er ist der große, tragische Held, der in jedem Hollywood-Blockbuster auftaucht.
Jinai: 1) Hör auf, die Stimmung kaputtzumachen. Ich habs dir schon x-mal gesagt. 2) KRITISIERST DU ETWA YUU-CHAN? *drohend über ihm aufrag*
Raffael: *winzig* äh... nein?
Jinai: Dann is ja gut. Also, Leutchen, bis Geister dauerts noch ein bisschen, übt euch also in Geduld und versucht nicht, die Schreiberin umzubringen. Und: Ooooommmmmmmmmmmm.........
