Eine Spaghetti-Katastrophe mal anders

"Hallo!"

Kaum war die Haustür offen, stürmten schon die fünfjährigen Zwillinge aus dem Wohnzimmer in den Flur, um Ran zu begrüssen.

"Hallo Mama!", riefen beide im Chor und umarmten jeweils eines der Beine ihrer Mutter.

"Na ihr zwei?", fragte Ran lächelnd, stellte ihre Einkäufe ab und wuschelte ihnen durch die Haare. "Könnt ihr mir kurz helfen? Diese beiden Tüten gehören in die Küche."

Ohne dass Ran noch weitere Erklärungen abgeben musste, packten die Zwillinge je eine Tasche und trugen sie zu ihrem Bestimmungsort. Erleichtert und froh sah Ran ihnen nach, während sie sich ihre Jacke auszog. Sie war stolz auf sich, ihre Erziehungsmethode trug prächtige Früchte. Sie hatte anständige, nette und gehorsame Kinder. Der Traum aller Eltern. Und wer wollte das schon nicht?

"Wo ist denn euer Daddy?", fragte Ran, als die Zwillinge wieder bei ihr ankamen. Während Reika einmal um ihre Mutter herum drippelte und somit ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, schaute Shinichi Jr. verstohlen in eine der weiteren Taschen, die Ran mitgebracht hatte. Sie nahm von ihm keine Notiz, und als Shinichi Jr. gesehen hatte, was er sehen wollte, verdrückte er sich lautlos wieder ins Wohnzimmer, im Bewusstsein, dass seine Mutter sein Verschwinden gesehen hatte. Ran jedoch ging nicht auf ihn ein, sondern widmete ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Tochter.

"Wo ist dein Daddy, Reika?"

"Daddy hat gekocht!", jubelte die Kleine und drippelte noch einmal um ihre Mutter herum. "Daddy hat gekocht! Er hat gesagt, es gibt was ganz Leckeres!"

"Etwas Leckeres?", fragte Ran nach und schnupperte kurz. Dem Geruch nach zu urteilen konnte es kein japanisches Essen sein, so viel stand fest. Es roch sehr nach Tomatensauce.

Also befand sich Shinichi in der Küche - und steckte sie wahrscheinlich gleich in Brand. Ran schüttelte bei dieser Vorstellung lächelnd den Kopf. Ihr Mann war zwar als Detektiv unangefochtene Nummer Eins, ein Meister seines Faches, aber wenn es ums Kochen ging, war klar, dass auch er nur ein gewöhnlicher Mensch war. Shinichi konnte eigentlich nicht kochen. Aber was nicht war, konnte ja noch werden. Er brauchte nur etwas Übung!

"Mama?"

Ran spürte ein beständiges Ziehen an ihrem Pullover, und sie sah nach unten. Schon fast besorgt schaute Reika zu ihr hoch, zog jedoch noch immer am Pullover. Das machte sie jedes Mal, wenn ihre Mutter in Gedanken war.

Lächelnd beugte sich Ran zu Reika runter.

"Was hat er denn gekocht? Was hat er zu dir gesagt?"

"Daddy hat gesagt, ich dürfe dir nicht sagen, dass es Italien ist!"

Ran sah ihre Tochter erstaunt und fragend an. Was hatte sie gesagt?

"Italien? Was meinte er mit Italien?"

"Ich meinte damit, dass es heute ein Abendessen gibt, das ursprünglich aus Italien stammt", erklang es plötzlich aus der Richtung der Küche. Ran sah hoch und musste sich zuerst ein Lachen verkneifen, als sie Shinichi sah. Er sah zwar aus wie immer, doch mit der Schürze, die er sich umgebunden hatte, erweckte er eher den Eindruck, als wäre er ein Koch-Lehrling. Doch nicht nur das, auch das Wort, das auf seiner Schürze stand, erweckte nicht gerade Vertrauen. Piraten-Frass.

Sich noch immer das Lachen verkneifend hob Ran Reika auf den Arm, richtete sich auf und ging auf ihren Mann zu.

"Wie weit bist du?", fragte sie und küsste ihn zur Begrüssung, ehe sie ihre Tochter wieder runterliess.

"So gut wie fertig!", meinte Shinichi grinsend und beobachtete, wie Reika zu ihrem Bruder ins Wohnzimmer verschwand.

Ran war sichtlich beeindruckt.

"Na dann, wenn du das sagst...", sagte sie und ging gleich in die Küche.

Shinichi räusperte sich, ehe er die Zwillinge rief.

"Kinder, Essen fassen!"

Wie der Wind stürmten die Zwillinge in die Küche und kletterten auf ihre Stühle. Da Shinichi ihnen nicht gesagt hatte, was genau es zum Abendessen gab, waren sie schon sehr gespannt darauf.

Als Shinichi die grosse Schüssel mit den Spaghetti auf den Tisch stellte, rümpfte Reika bereits die Nase.

"Daddy", sagte sie und schaute ihren Vater misstrauisch an. "Was ist das? Das sieht aus wie Würmer."

"Was?" Shinichi Jr., der bisher nur seine Schwester beobachtet hatte, schrak auf. "Würmer?"

"Stimmt doch gar nicht", sagte Shinichi und stellte nun auch den Topf mit der blubbernden Tomatensauce auf den Tisch.

"Blut!", kreischte Reika sofort und hüpfte vom Stuhl. "Blut! Daddy hat Blut gekocht!"

"Reika, beruhige dich doch!"

Während Shinichi versuchte, das total aufgebrachte Mädchen zu schnappen, musste sich Ran mächtig zusammenreissen, um nicht laut loszulachen. Die ganze Situation war aber auch zu komisch.

"Hilf mir doch mal!"

Doch auf Shinichis Bitte ging Ran nicht ein. Sie hatte bereits Bauchweh und Tränen in den Augen. Die reinste Schadenfreude spiegelte sich in ihrem Gesicht, was Shinichi nur mit einem Grummeln quittierte.

Reika inzwischen schaffte es spielend, Shinichis Griff auszuweichen und krabbelte schnell unter dem Tisch durch, so dass sie auf der gegenüberliegenden Seite wieder zum Vorschein kam. Zwischen Shinichi und Reika stand nun der Tisch, an dem Shinichi Jr. ganz verdattert sass und sich noch keinen Millimeter geregt hatte. Ungläubig sah er zu seinem Vater hoch, der gerade entschieden hatte, seine Tochter zu lassen, wo sie gerade war. Dafür schöpfte er jetzt etwas Spaghetti mit Tomatensauce in eine kleine Schüssel, stellte sie vor seinen Sohn und zerkleinerte die langen Nudeln etwas.

"Ich wünsche guten Appetit."

Während Shinichi Jr. misstrauisch seinen kleinen Berg vor sich begutachtete, fischte sich Shinichi mit einer Gabel ein einzelnes Spaghettistück aus der grossen Glasschüssel und stopfte es sich in den Mund. Sofort kreischte Reika wieder los.

"Iiiihhh! Daddy isst Würmer! Wäh!"

Wie der Wind verschwand sie aus der Küche und polterte die Treppe hoch. Shinichi war ihr wieder dicht auf den Fersen, und dieses Mal schaffte er es. Noch bevor Reika ihr Zimmer erreichen konnte, hatte ihr Vater sie eingeholt und hochgehoben.

"Halt, halt, halt, meine Kleine. Wohin denn so schnell?"

"Fliegenklatsche holen", presste Reika zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und versuchte krampfhaft, sich aus Shinichis Umklammerung zu befreien.

"Eine was?", fragte Shinichi und musste schlucken. Die Vorstellung, wie Reika mit einer Fliegenklatsche auf die Spaghetti einhieb, behagte ihm ganz und gar nicht.

"Du brauchst keine Fliegenklatsche, Reika. Komm jetzt, wir wollen deine Mama nicht warten lassen."

Als Shinichi mit seiner Tochter auf dem Arm langsam die Treppe wieder runterstieg, hörte er ein lautes Klirren. Sofort beschleunigte er seine Schritte, und als er in die Küche trat, fiel sein Blick zuerst auf Ran, die lachend am Boden sass und sich den Bauch hielt.

"Ran, was...?"

Dann fiel sein Blick auf seinen Sohn, und ihm fiel die Kinnlade herunter.

Shinichi Jr. sass noch immer am Tisch und hatte jeweils eine Gabel in beiden Händen. Sein gesamtes Gesicht war mit Tomatensauce und Spaghettistückchen bekleckert, und die kleine Schüssel, die sein Vater vorhin für ihn gefüllt hatte, hatte sich Shinichi Jr. einfach über den Kopf gestülpt, so dass nun der gesamte Inhalt auf seiner Kleidung, auf dem Tisch und auf dem Boden verteilt war.

Während Shinichi fassungslos seinem Sohn zusah, wie er mit den beiden Gabeln auf die Tomatensauce auf dem Tisch klopfte uns sie somit noch weiter verspritzte, bog sich Ran vor Lachen.

Endlich kam wieder Leben in Shinichis Beine.

"Shinichi, Junge, was machst du denn?", fragte sein Vater, liess Reika runter und bemächtigte sich der beiden Gabeln. Shinichi Jr. jedoch fand das Verhalten seines Vaters so lustig, dass er nun mit der flachen Hand auf die Saucepfützen klatschte und Shinichi somit auch gleich bekleckerte. Mehrere grosse Saucenspritzer und ein lautes "Wäh! Blutige Würmer!" von Reika später hatte Shinichi endlich wieder die Küche und die beiden Kinder unter Kontrolle. Ran hingegen lag schon gekrümmt am Boden. Vor lauter Lachen hatte sie ihrem Mann nicht helfen können. Warum auch? Er war der Herr im Haus. Oder in der Küche, wie man es nahm.

Während Shinichi das Gesicht seines Sohnes abwischte, kam Ran endlich wieder auf die Beine. Doch anstatt dass sie sich den Küchentisch vornahm, verschwand sie kurz und kam mit dem Fotoapparat zurück.

"Das ist nicht dein Ernst, oder?", fragte Shinichi schon fast verzweifelt, als er das kleine, silberne Gerät in ihren Händen erblickte.

"Und wie es das ist! So was sieht man nicht alle Tage! Ich muss doch ein Foto davon machen!", meinte sie kichernd.

"Nein, musst du nicht!"

"Doch!"

"Bist du mit meiner Mutter verwandt?"

Ran lachte nur, ehe sie gleich mehrere Fotos schoss. Dann endlich half sie Shinichi, und nur ein paar Minuten später sah die Küche wieder einigermassen sauber aus.

Ran war schwer beeindruckt. Spaghetti kochen konnte Shinichi, auch die Tomatensauce hatte er gut hingekriegt. Doch während Ran sich das italienische Essen schmecken liess, weigerte sich Reika stur, auch nur einen Bissen davon zu probieren. Shinichi Jr. hingegen leckte sich mit der Zunge über die Lippen, was hiess, dass er es trotz anfänglicher Spielerei köstlich fand. Seine Schüssel war bereits leer, der Spaghetti-Berg seines Vaters jedoch war noch unberührt. Noch immer versuchte Shinichi, Reika zum Essen zu überreden, doch egal, was er versuchte, es blieb erfolglos. Seufzend gab er auf und widmete sich endlich seinem eigenen, inzwischen kalten Essen. Reikas anschliessende Versuche, die Aufmerksamkeit ihres Vaters auf sich zu ziehen, ignorierte Shinichi bewusst, auch Ran nahm von ihr keine Notiz. Strafe musste schliesslich sein.

"Du, Mama?"

Shinichi Jr. hatte seine eigene Methode, die Aufmerksamkeit seiner Mutter zu gewinnen. Er schüttelte Rans Arm, in dessen Hand sie die Gabel hielt, wodurch die aufgedrehten Spaghetti sofort zurück in ihren Teller fielen.

"Ab morgen kochst du wieder, okay?"

Shinichi und Ran tauschten stumm einen Blick, doch sie wussten, dass sie beide dasselbe dachten. Obwohl Shinichi durchaus das Zeug zu einem guten Koch hatte, war es vielleicht doch besser, Ran würde diesen Teil der Hausarbeit wieder übernehmen.

Schliesslich konnten sie nicht wissen, wie die Kinder auf weitere Kochversuche ihres Vaters reagieren würden...

Owari

01.01.09 19:30 5