Disclaimer: Labyrinth does not belong to me. I make no profit off of this writing.
*Perhaps you should read chapter 18 and 22 only when you're old enough...*
*Kapitel 18 und 22 sollte man vielleicht besser erst lesen, wenn man alt genug ist...*
Labyrinth - die magischen Jahre (the magic years)
fanfiction by Lorelei Lee
Teil eins (part one)
"Opening titles"
Kapitel 1
Mißmutig sah sich Tandor, der Koboldkönig, in seinem Thronsaal um. Was er sah, gefiel ihm nicht besonders. Es war nicht so sehr das ewige Durcheinander, die immer gleiche Unordnung und der Schmutz in allen Ecken und Winkeln, der seinen Unwillen erregte, sondern vielmehr das Verhalten seines Kronprinzen Jareth.
Jareth saß mit einigen Kobolden in einer Ecke des Thronsaales und spielte Karten.
"Wenigstens gewinnt er", dachte Tandor bei sich. Und zum wohl tausendsten Male fragte er sich, ob er mit Jareth eine gute Wahl getroffen hatte. Doch wie jedesmal mußte Tandor sich eingestehen, daß Jareth von allen Babys, die er jemals gestohlen hatte, die einzig richtige Wahl gewesen war. Jareth war der einzige Säugling gewesen, der wenigstens einen Funken Magie in sich gehabt hatte. Nur Dank diesem Funken hatte er Jareth in seiner menschlichen Gestalt aufwachsen lassen können. Ohne diese Gabe wäre er in einen Kobold verwandelt worden.
Tandor seufzte leise. Jareth war tatsächlich die einzige Möglichkeit gewesen. Außer ihm war er noch nie in den Besitz eines Kindes mit magischen Fähigkeiten gelangt. Wie lange war es nun schon her, seit er begonnen hatte sich Jareths Ausbildung
zu widmen? Er sah zu dem kartenspielenden Jareth hinüber. Mittlerweile war ein junger Mann aus ihm geworden. Nach menschlichen Maßstäben sah er aus wie ein Zwanzigjähriger. Doch Zeit hatte hier im Land der Kobolde keine Bedeutung. Tandor selbst hatte vor 200 Jahren aufgehört sein Alter zu zählen. Doch seit einiger Zeit fühlte er die Last der Jahrhunderte. Er war des Regierens müde geworden. Früher oder später würde Jareth ihm auf den Thron folgen. Warum also warten?
Tandor gab sich einen Ruck und erhob sich aus dem Thronsessel.
"Jareth, mein Prinz!"
Jareth erhob sich sofort und kam auf den König zu.
"Ja, mein König?"
"Folge mir in meine Gemächer, ich habe mit dir zu reden."
"Ja, mein König."
Tandor verließ den Thronsaal und Jareth folgte ihm leicht bedrückt. Kurz überlegte er, was er sich seit der letzten Aussprache mit dem Koboldkönig hatte zu Schulden kommen lassen. Eine Katze getötet, zwei Kobolde getreten,...Nein, das war nicht schwerwiegend genug für eine Unterredung zwischen vier Augen. Und für die zerbrochene Zauberkugel war er schon das letzte Mal bestraft worden. Mochte der Teufel wissen, was sein König schon wieder von ihm wollte, er wußte es auf jeden Fall nicht.
Mittlerweile waren sie vor Tandors Gemächern angekommen und traten nacheinander durch die schwere, vom Alter dunkel gewordene Eichentür ein.
Wie alle Zimmer des Schlosses waren auch die Räumlichkeiten des Königs spärlich möbliert. Die Mauern aus roh behauenem Stein wurden nur durch wenige Fenster durchbrochen, durch die nun die letzten Strahlen der Nachmittagssonne fielen. Der Raum, den Jareth und Tandor gerade betreten hatten, diente dem König als Arbeitszimmer. Auf der rechten Seite des Zimmers waren vom Boden bis zur Decke Regale angebracht. Hier befanden sich die meisten Unterlagen über das Königreich
und die wichtigsten der magischen Bücher. Daneben standen Stuhl und Schreibtisch des Königs. Für Bittsteller und Besucher standen lediglich eine paar lederbespannte Schemel bereit. In der linken Wand war ein offener Durchgang der in das angrenzende Schlafzimmer des Königs führte. Der Koboldkönig ging langsam auf seinen Stuhl zu und setzte sich. Da Jareth nicht die Erlaubnis erhalten hatte, sich ebenfalls zu setzen, blieb er stehen und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Tandor musterte seinen Prinzen. Was er sah, hätte ihm eigentlich gefallen können. Jareth war zu einem attraktiven jungen Mann herangewachsen. Er war zwar nur mittelgroß, doch schlank und von muskulösem Körperbau. Er war immer gut gekleidet, für Tandors Geschmack war er vielleicht etwas zu eitel. Seine Gesichtszüge waren ebenmäßig, fast aristokratisch. Das einzig bedauerliche waren seine widerspenstigen blonden Haare. Jareth hatte schon alle möglichen Frisuren ausprobiert, um sie zu bändigen, doch seine Haare hatten allen Bemühungen getrotzt, und so trug er sie in einer offenen Mähne, die ihm bis auf die Schultern herabfiel. Sie zerstörte den eleganten Eindruck, den seine Kleidung hervorrief und ließ ihn bedrohlicher wirken. Dennoch war Tandor nicht völlig zufrieden. Jareth wurde durch die Stille und die Betrachtung durch seinen König immer unbehaglicher zumute.
Schließlich brach Tandor das Schweigen.
"Du solltest aufhören, die Kobolde beim Spielen zu betrügen. Ich wünschte, ich hätte dieses Kartenspiel nie von der Erde mitgebracht."
Jareth war erleichtert. Wenn das seine ganzen Verfehlungen waren...
"Mein König, ich habe die Kobolde nicht betrogen. Sie sind so dumm, daß ich mir diese Mühe nicht zu machen brauche. Ich gewinne auch so."
"Ich finde trotzdem, daß Kartenspiele kein angemessener Zeitvertreib für meinen Kronprinzen sind. Aber genug davon. Ich habe wichtigeres mit dir zu besprechen. Ich habe vor, diese Welt für immer zu verlassen."
"Für immer? Vater, damit meinst du doch nicht, daß du stirbst? Ich dachte wir wären unsterblich!"
"Jareth, nimm Platz. Ich habe dir viel zu erklären." Tandor wartete, bis Jareth sich auf einen der Schemel gesetzt hatte und fuhr dann erst fort.
"Du mußt wissen, daß ich nicht dein Vater bin. Ich habe es dir zwar nie gesagt, aber du wirst dich erinnern, daß ich dir nie erlaubt habe, mich Vater zu nennen. Du warst noch ein Baby als ich dich geraubt habe. Ja, ein Baby, genau wie die anderen, die ich und du geraubt haben, um sie zu Kobolden zu machen. Mit dem einen winzigen Unterschied. Du hattest schon als Säugling Magie in dir. Ich spürte es sofort. Du allein warst würdig, mein Nachfolger auf dem Thron zu werden. Und so behielt ich dich bei mir, erzog dich, lehrte dich die Magie zu gebrauchen, und bereitete dich auf den Tag vor, an dem du selbst einmal der König der Kobolde sein würdest. Was nun die Unsterblichkeit angeht ... Du kannst hier leben und regieren, solange du willst. Zeit hat hier keine Bedeutung, wie du weißt. Doch ich rate dir, dich unter den geraubten Babys beizeiten nach einem Nachfolger umzusehen, denn glaube mir, irgendwann wirst auch du die Last der Jahrhunderte spüren. Ich für meinen Teil habe genug gelebt. Nach deiner Krönung werde ich diese Daseinsform verlassen."
Jareth saß wie betäubt auf dem Schemel.
Er hatte diesen Mann jahrelang für seinen Vater gehalten. Sie waren doch die einzigen menschlichen Wesen in diesem Königreich der Kobolde. Daß auch er nur ein geraubtes Baby gewesen sein könnte, war ihm nie in den Sinn gekommen. Und nach seiner Mutter hatte er sich nie getraut zu fragen.
"Nun, Jareth, hast du denn gar keine Fragen?"
"Wer sind meine richtigen Eltern?"
"Ich hatte befürchtet, daß du mir diese Frage eines Tages stellen würdest. Ich kann sie dir leider nicht beantworten. Ich weiß es nicht. Du warst ein Findelkind. Ich habe dich von einer Kirchentreppe aufgelesen." Aus Tandors Stimme klang echtes Bedauern. Auf seine Art hatte er Jareth liebgewonnen. Er hätte ihm diese Enttäuschung gerne erspart. Denn eine Enttäuschung war es. Tandor hatte noch nie eine solche Traurigkeit in Jareths Augen gesehen. Er wartete einen Moment auf eine Reaktion von ihm. Als er sich nach einer Weile immer noch nicht rührte, stand Tandor auf. Er ging um seinen Schreibtisch herum und stellte sich hinter seinen Prinz. Schließlich legte er ihm seine Hände auf die Schultern.
"Du kannst dich jetzt nicht so gehenlassen. Sei ein König, Jareth! In einer Woche soll deine Krönung stattfinden, und du mußt noch einiges lernen. Um König zu sein, genügt es nicht, wenn man ein bißchen mit den Kristallkugeln jonglieren kann."
Bei diesen Worten drehte sich Jareth um und sah seinem König fest in die Augen.
"Ich weiß, daß Sie mich gern für einen Nichtsnutz halten. Aber ich verspreche Ihnen, ich werde Sie nie enttäuschen, mein König."
"Lost and lonely"
Kapitel 2
Jareth saß auf der steinernen Brüstung seines Balkons, den er an sein Schlafzimmer hatte anbauen lassen, als er König geworden war. So war es für ihn einfacher, sich in eine weiße Eule zu verwandeln. Wenn es um Magie ging, liebte Jareth die Bequemlichkeit. In den letzten Jahren war fast kein Tag vergangen, in denen er nicht an das Versprechen gedacht hatte, das er dem verstorbenen König vor seiner eigenen Krönung gegeben hatte. Jahrzehnte-, fast Jahrhundertelang hatte er sein Versprechen erfüllt. Tandor wäre zufrieden mit ihm gewesen. Er verbreitete Angst und Schrecken, nicht nur auf der Erde, sondern auch bei seinen Untertanen. Er raubte Babys wo er nur konnte und seine Magischen Kräfte schienen mit jedem Tag stärker zu werden. Bis er eines Nachts ein Baby namens Toby gestohlen hatte. In Toby hatte er einen Hauch Magie gespürt. Er hatte sich darauf gefreut, aus dem kleinen Kerl einen großen, mächtigen Koboldkönig zu machen, doch dann hatte ihm Tobys Schwester Sarah einen Strich durch die Rechnung gemacht. Jareth hatte die Magie, die in Sarah schlummerte unterschätzt. Sarah hatte ihn besiegt und ihren Bruder zurückbekommen. Dergleichen war seit Koboldgedenken nicht geschehen!
Jareth hatte versagt. Die Magischen Kräfte seines Reiches waren durch Sarahs Sieg schwer erschüttert worden und Jareth hatte über Jahre hinweg seine ganze Konzentration und Geschicklichkeit aufbringen müssen um das sensible magische Gleichgewicht seines Reiches wiederherzustellen.
Seit diese Arbeit getan war, hatte er plötzlich sehr viel Zeit um Nachzudenken. Er dachte oft an Tandor und sein Versprechen, doch immer öfter dachte er auch an Sarah.
Die Niederlage, die er durch sie erlitten hatte, nagte noch immer an seinem Stolz, doch irgendwie konnte er ihr nicht wirklich böse sein. Er hätte nie gedacht, daß ein Mädchen dazu fähig sein sollte, seine Sinne derart zu verwirren. Ein Mädchen. Aber was für ein Mädchen! Wenn er daran dachte, wie sie ihm seine schöne Ballsaal-Illusion zerstört hatte, konnte er nicht umhin, ihren Mut zu bewundern. Was war damals eigentlich über ihn gekommen? Er hatte schließlich nicht vorgehabt mit ihr zu tanzen auch noch ein Lied für sie zu singen! Und doch hatte er es getan. Wie lange mochte es wohl her sein, daß sie sein Angebot abgelehnt hatte? Nach irdischer Zeitrechnung vielleicht fünf oder sechs Jahre...Wie es ihr wohl in der Zwischenzeit ergangen war? Jareths Blick schweifte über sein Reich und ihm wurde bewußt wie schrecklich einsam er sich plötzlich fühlte. Die Kobolde waren auf Dauer einfach nicht die richtige Gesellschaft für ihn. Vielleicht...vielleicht sollte er einmal bei Hoggle nach dem Rechten sehen. Der Zwerg war immer wieder für etwas Abwechslung gut. Zudem war er nicht ganz so dumm wie die Kobolde.
Jareth erhob sich von der Balkonbrüstung. Sein Entschluß stand fest. Er würde Hoggle besuchen.
Jareth hatte sich direkt vor Hoggles Haus gezaubert, das sich der Zwerg vor einiger Zeit im Wald des Schweigens gebaut hatte. Jareth hatte sich gewundert, als er davon erfahren hatte. In den Wald des Schweigens "verirrte" sich nur sehr selten jemand und Hoggle hatte immer als sehr gesellig gegolten. Doch Jareth hatte anderes zu tun gehabt, als sich darüber zu wundern, warum einer seiner Untertanen es plötzlich vorzog ein Einsiedlerdasein zu führen. Das winzige Häuschen machte einen relativ guten Eindruck auf Jareth. Immerhin versuchte der Zwerg wenigstens es sauber zu halten. Jareth seufzte. Wenn nur seine Kobolde ein bißchen mehr wie Hoggle wären...Er bückte sich, um an die Tür zu klopfen. Als sich im Inneren des Hauses nichts regte, trat er ein. Als sich seine Augen an das Halbdunkel im Zimmer gewöhnt hatten, sah er sich um. Das Haus war nicht unterteilt, sondern bildete lediglich einen Raum. Hoggle war augenscheinlich nicht Zuhause. Jareth beschloß, da er nun schon einmal hier war und sonst nichts anderes zu tun hatte, auf ihn zu warten. Sein Cape war ihm in der kleinen Behausung hinderlich und so nahm er es ab und legte es auf einen Stuhl. Außer dem einen Stuhl konnte er keine andere Sitzgelegenheit erkennen, die seiner Körpergröße eher entsprochen hätte und so ließ er sich auf dem Tisch nieder. Dort fand er auch eine Kerze, die er entzündete um sich besser umsehen zu können. Der Eindruck den das Haus von außen auf ihn gemacht hatte wurde nun auch durch die Einrichtung bestätigt. Die Möbel schienen zwar ausnahmslos alt und reparaturbedürftig zu sein, doch Hoggle war augenscheinlich bemüht, alles sauberzuhalten. Im Schein der Kerze konnte Jareth noch ein Bett, eine Kommode und mehrere kleine Wandregale erkennen. Auf der Kommode lag ein mit Tüchern verhüllter Gegenstand. Was mochte das wohl sein. Jareth stand auf um es sich näher anzusehen. Vielleicht ein Bild? Er hob die Tücher hoch und starrte völlig verblüfft auf den Zauberspiegel, der darunter verborgen gewesen war. Er hielt ihn hoch und trat damit an das kleine Fenster um ihn besser betrachten zu können. Es bestand kein Zweifel. Der Zwerg besaß einen Zauberspiegel! Jareth spürte, wie er langsam aber sicher sehr, sehr wütend wurde.
In diesem Moment öffnete sich die Tür des Häuschens und Hoggle trat ein.
"Eure Majestät!", rief Hoggle zu Tode erschrocken. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Der Koboldkönig hatte seinen Zauberspiegel gefunden. Warum hatte er nur immer so viel Pech. "Bitte nicht in den Sumpf des ewigen Gestanks!"
"Der Sumpf ist noch viel zu gut für dich!", brüllte Jareth. Seine Augen blitzten vor Wut. "Wie kommst du zu diesem Spiegel! Weißt du nicht, daß niemand außer mir einen Zauberspiegel besitzen darf? Du hast ihn doch womöglich nicht auch noch benutzt?" Jareth holte mit dem Spiegel aus um ihn an der Wand zu zerbrechen. Hoggle sah ihm voller Entsetzen dabei zu und ohne es zu wollen, entfuhr im ein Schrei.
"Nein, nicht!"
Jareth brachte dieser Ausbruch so aus dem Konzept, daß er in seiner Bewegung inne hielt und den Zwerg ungläubig anstarrte.
"Majestät, ihr dürft den Spiegel nicht zerbrechen, ich kann sonst nicht mehr... wir können sonst nicht mehr.... sie glaubt dann...."
Ein Verdacht stieg in Jareth hoch und er unterbrach Hoggles Gestammel.
"Du hast doch nicht etwa über diesen Spiegel mit Sarah Kontakt aufgenommen?" Er konnte es kaum glauben, doch als Hoggle schuldbewußt den Kopf senkte, wurde sein Verdacht zur Gewißheit. Sein Magen krampfte sich zu einem Eisklumpen zusammen und er wollte nur noch weg von Hoggle, weg von diesem Haus und diesem Wald. Behutsam stellte er den Spiegel auf den Boden.
"Hm, Hoggle, es ist schon spät geworden... ich... ich habe noch zu tun...Bis bald."
Ohne ein weiteres Wort abzuwarten stürmte er aus der Hütte.
Erleichtert sah ihm Hoggle nach. Das war noch einmal gut ausgegangen! Der Spiegel war noch ganz, und der Koboldkönig war weg! Vielleicht würde heute doch noch ein schöner Tag werden. Hoggle hob die Tücher auf um den Spiegel wieder darin einzuwickeln und entdeckte dabei Jareths Cape, das noch immer auf dem Stuhl lag.
"Verdammt! Er hat es wohl vergessen. Wird wohl besser sein, wenn ich es ihm bringe, sonst kommt er am Ende noch mal hierher um es zu holen." Hoggle schauderte bei dem Gedanken an einen zweiten Besuch des Koboldkönigs, also nahm er das Cape und verließ sein Haus, um Jareth hinterherzueilen.
"Hat sich wahrscheinlich schon auf sein Schloß gezaubert und ich kann sehen, wie ich hinkomme - Ach herrje! Da steht er ja noch - sieht fast so aus, als wäre er zu Fuß gegangen.... Komisch, das tut er doch sonst nicht..."
Mittlerweile hatte er Jareth fast erreicht und rief ihm nun zu:
"Eure Majestät! Eure Majestät!"
Zornig blieb Jareth stehen und drehte sich um. Was wollte dieser Zwerg nun schon wieder von ihm!
Hoggle hatte den wütenden Blick bemerkt, und verwünschte seine eigene Courage. Sarah hatte einfach unrecht gehabt. Mut brachte einen nirgendwo hin! Außer vielleicht in den Sumpf des ewigen Gestanks.
"Eure Majestät haben Euer Cape vergessen." Zitternd hielt er es Jareth entgegen, dessen Wut genauso schnell erloschen war, wie sie aufgeflackert war. Auch wenn er noch immer diesen Eisklumpen in sich fühlte, ein paar Fragen sollte er dem Zwerg schon noch stellen. Wer konnte wissen, wann sich wieder eine solche Gelegenheit bot. Er würde jedoch sehr aufpassen müssen, damit der Hoggle nichts von seiner inneren Erregung verriet. Er war immerhin der König. Er biß sich kurz auf die Lippen, dann sah er Hoggle scharf an.
"Danke, Hoggle. Ich war wohl etwas in Gedanken. Ich hätte auch fast vergessen, warum ich eigentlich gekommen bin." Er machte eine kurze Pause um das Gesagte bei Hoggle einwirken zu lassen und fuhr dann fort. "Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, warum du dir wohl dieses Haus gebaut hast... so weit weg...von allem..." Er hob fragend die linke Augenbraue. "Ich warte."
Hoggle lachte nervös.
"Jaja, das Haus...nun...das Haus..."
"Hoggle, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit! Hör mit dem Gestotter auf! Ich will die ganze Wahrheit wissen. Und wehe dir, wenn du mich anlügen solltest, ich finde es ja doch heraus und dann gnade dir Gott, denn von mir kannst du dann keine Gnade mehr erwarten!"
"Nun gut." Hoggle seufzte, holte noch einmal tief Luft und berichtete Jareth, was dieser wissen wollte.
"Bei der großen Katastrophe hat einer Eurer Wachposten einiges beiseite geschafft. Und da war auch dieser Spiegel darunter. Als ich von Sir Dydimus davon erfuhr, haben wir unsere Ersparnisse zusammengelegt und dem Kobold den Spiegel abgekauft. Das war aber eigentlich keine so gute Idee, weil wir nicht wußten, wohin wir den Spiegel tun sollten, damit ihn keiner findet. Da sind wir auf die Idee gekommen, daß ich mir hier ein Haus bauen sollte. Ein neues Haus hätte ich schon lange gebraucht, da haben wir gedacht, daß es dann nicht so auffällt. Ludo wohnt ja im Wald und nicht in Häusern und Sir Dydimus genießt mehr Aufmerksamkeit als ich. Also haben wir es so gemacht. Und es ging ja auch gut....bis jetzt." Während seines Berichtes hatte er immer wieder ängstlich nach Jareth geschielt, doch der König hatte sich auf den Waldboden gesetzt, den Rücken an einen Baumstamm angelehnt und ihm mit nachdenklicher Miene zugehört, ohne ihn zu unterbrechen. Diesen Tag würde sich Hoggle im Kalender rot anstreichen!
"Ich muß zugeben, daß euer Plan sehr klug war. Ihr habt also all die Jahre mit Sarah gesprochen, ohne daß jemand etwas davon gemerkt hat."
"Ja."
"Wie geht es ihr?" Kaum hatte Jareth die Frage ausgesprochen, hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen. Wirklich, ein sehr königliches Verhalten. Aber die Neugier war stärker gewesen.
"Ich weiß es nicht, Euer Majestät."
"Du weißt es nicht, aber wieso..?"
"Sie hat sich schon lange nicht mehr gemeldet...leider."
"Wie lange?"
"Vielleicht ein oder zwei Jahre nicht mehr." Hoggle nahm seinen ganzen Mut zusammen um eine Frage zu stellen, die ihm die ganze Zeit über keine Ruhe gelassen hatte: "Ist es möglich, auch von dieser Seite des Spiegels aus Kontakt mit ihr aufzunehmen?"
"Nein, Hoggle. Die gibt es nicht." Jareth erhob sich. "Wir werden wohl nie erfahren, was aus ihr geworden ist."
Eine unendliche Traurigkeit hatte von Jareth Besitz ergriffen. Mit gesenkten Kopf verließ er den Zwerg und ging tiefer in den Wald des Schweigens hinein.
Kapitel 3
"Nein, Greg! Laß das. Du sollst das lassen!"
"Nun zier dich nicht so, Sarah. Ich bin nun schon seit fast zwei Jahren dein Freund und du läßt mich immer noch nicht ein bißchen fummeln."
Sarah war blaß geworden vor Wut.
"Du widerliches Schwein! Ich will dich nie mehr sehen! Wenn du dich noch einmal hier blicken läßt rufe ich die Polizei! Und hier hast du deinen blöden Ring zurück!"
Mit einem Ruck war Sarah aus Gregs parkendem Wagen ausgestiegen und auf das Haus ihrer Eltern zugerannt. "Hoffentlich läuft er mir nicht auch noch nach," dachte sie noch, als sie hörte wie er den Motor anließ und mit Vollgas wegfuhr.
"Scheißkerl!" rief sie ihm noch durch die Nacht nach. Dann schloß sie die Tür auf und ging ins Haus.
Im Wohnzimmer brannte noch Licht. Vorsichtig öffnete Sarah die Tür und sah hinein.
"Ach, Mam. Du sollst doch nicht aufbleiben und auf mich warten." Sarah ging ins Wohnzimmer und setzte sich mit Schwung neben ihre Stiefmutter auf das Sofa.
Seit dem Ende ihrer Pubertät hatte Sarah aufgehört, ihre Stiefmutter ständig zu bekämpfen. Zur großen Freude und Überraschung aller beteiligten Parteien entwickelten beide eine dauerhafte Zuneigung zueinander, so daß seit einigen Jahren nichts mehr den häuslichen Frieden der Familie Williams gestört hatte.
"Wenn dein Vater schnarcht, kann ich sowieso nicht einschlafen. Das weißt du genau. Außerdem ist es doch gar nicht so spät." Sie sah auf die Uhr. "Kurz nach Mitternacht. Warum bist du eigentlich schon da? Und was war das für ein Geschrei vor unserer Haustür?"
Sarah seufzte und machte einen Schmollmund.
"Ich habe mit Greg Schluß gemacht. Frag mich bitte nicht warum. Ich weiß nämlich nicht einmal mehr, warum ich mich überhaupt mit diesem Idioten eingelassen habe."
Ihre Mutter nahm Sarah in den Arm.
"Ach, Kindchen. Nein - ist schon gut. Ich sage nichts weiter. Du mußt schließlich mit ihm auskommen - oder auch nicht. Nur eines würde mich schon interessieren: du bist jetzt über zwanzig - für wen sparst du dich auf? Doch nicht für einen Märchenprinzen oder Mr. Perfect."
Sarah stand auf und gab ihrer Mutter einen Kuß auf die Wange.
"Wenn ich ihn gefunden habe, werd ich's wissen. Vorher nicht. Ich geh jetzt schlafen. Gute Nacht."
"Gute Nacht, Sarah. Ich werde noch ein bißchen aufbleiben. Schlaf schön."
"Danke, Mam."
Als Sarah in den ersten Stock zu ihrem Zimmer ging mußte sie unwillkürlich lächeln. Fast hätte ihre Mutter richtig geraten. Ein Koboldkönig war allerdings nicht unbedingt ein Märchenprinz....
Nachdenklich betrat Sarah ihr Zimmer, knipste das Licht an und sah sich unsicher um. Das Zimmer war leer. Ärgerlich über sich selbst schüttelte sie den Kopf. Als ob es genügen würde an ihn zu denken um ihn herbeizuschaffen. Was für ein Blödsinn. Wenn das ausgereicht hätte, dann hätte er schon seit einigen Jahren in diesem Zimmer auftauchen müssen. Ach Jareth. Sie seufzte. Vor über einem Jahr hatte sie beschlossen, das Labyrinth und alles was dazugehörte endgültig zu vergessen. Sie hatte es redlich versucht und sich sogar mit Greg eingelassen. Auch den Spiegel ihrer Frisierkommode hatte sie nicht mehr dazu benutzt um mit Hoggle und ihren anderen Freunden zu sprechen. Es war ihr nämlich immer schwerer gefallen nicht nach Jareth zu fragen. Gleichzeitig fühlte sie sich gekränkt, daß er nie einen Versuch unternommen hatte, um sich mit ihr zu treffen. "Was für ein Blödsinn," dachte sie zum zweiten Mal. Das hörte sich ja an wie dieses pubertäre Spielchen: Wenn-er-mich-nicht-zuerst-anruft-rufe-ich-ihn-auch-nicht-An! Sie stöhnte. Er hatte ihr ihre Teenagerzeit gründlich verdorben. Was war schon ein Nachmittag in der Eisdiele, oder eine Fahrt im Cabrio, oder sogar ein Schulball gegen einen Tanz mit ihm! Komisch, daß sie nach ihrer Rückkehr aus dem Labyrinth gar nicht mehr an ihn gedacht hatte. Erst nach ein paar Jahren war ihr aufgegangen, wie einmalig er doch war und wie aufregend es gewesen war, als er sie in seinen Armen gehalten hatte. Langsam zog sie ihre Kleidung aus und ihren Pyjama an. Sie löschte das Licht und blickte durch ihr Fenster verträumt auf den Mond. Es war Vollmond. Eigentlich keine Nacht um früh zu Bett zu gehen. Und schon gar nicht alleine! Sie lächelte wehmütig. Warum war sie nur so dumm gewesen. Sie hätte die Worte nicht aussprechen dürfen. Wenn sie nur damals schon erkannt hätte, daß er ihr nicht ihre Träume anbot, als er ihr die Kristallkugel zeigte. Er hatte es zwar gesagt, aber eigentlich hatte er ihr sein Herz und seine ganze Liebe angeboten. Und sie war noch nicht reif dafür gewesen und hatte sie ausgeschlagen....Ob er wohl wußte, was er ihr eigentlich angeboten hatte?
Männern wird ja manchmal gar nicht bewußt, wie groß ihre Liebe zu einer Frau ist. Ob Jareth auch hier eine Ausnahme war? Verdammt, sie liebte diesen Hundesohn namens Jareth! Wenn er doch bloß noch einmal erscheinen würde. Müde und traurig ging sie schließlich zu Bett.
"No one can blame you"
Kapitel 4
Immer tiefer war Jareth in den Wald des Schweigens vorgedrungen. Die ganze Zeit über hatte er nachgedacht. Darüber was ihm der Zwerg erzählt hatte und seine eigene Reaktion darauf. Er verstand sich selbst nicht. Wenn von Sarah die Rede war, oder er auch nur an sie dachte, benahm er sich so... so... eigenartig. Sogar jetzt bemerkte er eine Veränderung an sich: sein Herz klopfte ein kleines bißchen anders. Geradeso, als sei es etwas aus dem Takt geraten. Seit seiner Auseinandersetzung mit Sarah schien sich alles verändert zu haben! Sein Reich, seine Untertanen und nun sogar er selbst. Er durchforschte seine Erinnerung bis zu dem Tag an dem Tandor "gestorben" war. Es war ein schmerzlicher Tag gewesen und die Erinnerung daran keinesfalls angenehm. Er hatte den alten König gemocht. Und doch waren seine Gefühle damals bei weitem nicht so konfus gewesen, wie sie jetzt waren, wenn er an Sarah dachte. Wenn er nur wüßte, was eigentlich mit ihm los war! Vielleicht...wenn er Sarah noch einmal sehen könnte....dann könnte er vielleicht herausfinden, was mit ihm nicht stimmte. Sie hatte diese ganze Konfusion verursacht, warum sollte sie sie nicht auch wieder beseitigen können? Verdammt, es mußte doch einen Weg geben um mit ihr Kontakt aufzunehmen. Wenn sie nur noch einmal den Spiegel benutzen würde....Und wenn sie ihn gar nicht mehr benutzen konnte? Vielleicht war ihr ja etwas zugestoßen? Jareth runzelte die Stirn. Es war zum Verrücktwerden! So oft wie in den letzten Minuten hatte er das Wort "vielleicht" in seinem ganzen bisherigen Leben nicht gebraucht. Es mußte eine Möglichkeit geben um Sarah wiederzusehen! Er beschloß, auf der Stelle ins Schloß zurückzukehren. Eigentlich hatte er auch diesen Weg zu Fuß gehen wollen, doch er bemerkte erst jetzt, daß die Dämmerung schon lange vorbei war, und es allmählich Nacht wurde. Sogar Jareth zog es vor, bei Nacht nicht mehr ohne Eskorte in seinem Labyrinth herumzulaufen und so zauberte er sich stattdessen direkt in seine Bibliothek.
Die Bibliothek war ursprünglich ein kleiner, dunkler Raum mit verstaubten Bücherregalen gewesen, auf denen sich Magische Werke mit Trivialliteratur vermischten. Doch Jareth hatte sich gleich nach seiner Krönung darum gekümmert, daß zumindest seine persönlich Räume etwas gemütlicher hergerichtet wurden. Die Bücher standen nun -zwar immer noch unsortiert- ordentlich in sauberen Regalen, zwei schwere Ledersessel standen am Fenster und an den Wänden waren reichlich Kerzenhalter angebracht. Jareth entzündete die Kerzen und machte sich an die Arbeit. Er wußte selbst nicht, wie lange es dauern würde, bis er in einem dieser Bücher einen Hinweis darauf finden würde wie man es anstellte, bei einer Person zu erscheinen, die gar nicht besucht zu werden wünscht. Er blickte ein wenig verzagt die langen Bücherreihen an. Es würde eine lange Nacht werden!
Die aufgehende Sonne weckte Jareth. Verschlafen sah er sich um. Er saß in einem Sessel in der Bibliothek. Er mußte wohl doch eingenickt sein. Ein Buch war von seinem Schoß auf den Boden gefallen. Er hob es auf und strich die umgeknickten Seiten mit einem zärtlichen Lächeln glatt. Er hatte die Lösung seines Problems gefunden. Doch was hatte er nicht alles lesen müssen, bis er es endlich gefunden hatte! In einem der Bücher hatte sogar gestanden, daß das Labyrinth erst durch einen Fluch seine heutige "Form" erhalten habe und es vorher ein Paradies mit glücklichen Untertanen gewesen sein solle. Wie alle Flüche sollte auch dieser Fluch durch den Eintritt eines höchst unwahrscheinlichen Ereignisses aufgehoben werden können... Jareth schüttelte immer noch lächelnd den Kopf. Da mußte er wohl aus Versehen ein Märchenbuch aufgeschlagen haben. Mit einer anmutigen Geste seines rechten Armes zaubert er die herumliegenden Bücher wieder an ihre Plätze. Nur das eine Buch drückte er fest an seinen Körper.
Heute Nacht! Jareth würde nur noch bis heute nacht warten müssen um den Trick aus dem Buch auszuprobieren. Es war tatsächlich nur ein Trick, der mit Magie sehr wenig zu tun hatte, aber sehr effektvoll. Jareth würde sich in eine weiße Eule verwandeln und zur Erde fliegen, bis vor Sarahs Fenster. Von dort konnte er sich ohne Probleme in ihr Zimmer hineinzaubern. Der Kniff dabei war der, daß sie ihn nicht sehen durfte. Denn wenn sie schlief konnte man nicht mehr sagen, ob diese Person nun besucht werden wollte oder nicht. Für ein sichtbares Erscheinen hätte es Sarahs Einladung bedurft. So konnte er diese magische Regel umgehen. Bei dem Gedanken, daß er ihr in ein paar Stunden gegenüberstehen würde geriet sein Herz wieder aus dem Takt. Ärgerlich legte er seine Hand auf seine Brust. Doch wenn er ehrlich war, war es eigentlich kein unangenehmes Gefühl....
Kapitel 5
Es hatte geklappt! Jareth stand in Sarahs Zimmer und sah sich vorsichtig um. Er durfte unter keinen Umständen irgendwelchen Lärm verursachen von dem Sarah aufgeweckt werden könnte. Glücklicherweise hatte er auf ein Cape verzichtet und nur enganliegende, schwarze Kleidung angezogen. Es war nicht mehr das penibel aufgeräumte Kinderzimmer von früher. Sie hatte wohl auch andere Möbel angeschafft. Jareth war beeindruckt. Das wenige was er im Mondlicht erkannte, wirkte sehr elegant. Erstaunt bemerkte er einen PC auf ihrem Schreibtisch. Überall lagen Zeitschriften und Bücher. Das meiste schien Fachliteratur zu sein. Er hätte zwar eher auf Modezeitschriften getippt, aber Sarah hatte ihn schließlich schon öfter überrascht. Langsam tastete er sich zu ihrem Bett vor, bis er direkt davor stand und endlich auf ihr schlafendes Gesicht herunterblicken konnte.
Ihr Anblick benahm ihm für einen Augenblick den Atem. Sein Herz geriet nicht nur ein bißchen aus dem Takt sondern es klopfte ihm bis zum Hals. Seine enge Kleidung schien ihn nun unbarmherzig einzuschnüren und ohne es recht zu merken, sank er vor ihrem Bett auf die Knie.
Sie war so schön geworden.... gerade jetzt mußte sie etwas sehr Schönes träumen, denn sie lächelte im Schlaf.
In diesem Moment wußte Jareth, daß er sie liebte. Er hatte sich vom ersten Augenblick an in sie verliebt und hatte es gleichzeitig nicht wahrhaben wollen. Je mehr er sie liebte, desto mehr hatte er seine wahren Gefühle hinter immer mehr Grausamkeit versteckt. Als er dann mit ihr getanzt hatte, war es endgültig um ihn geschehen. Sie hatte ihn verzaubert ohne es zu wissen. Jetzt erkannte er auch, daß er ihr eigentlich viel, viel mehr als nur ihre Träume angeboten hatte. Wie hatte er nur so dumm sein können? Sie war damals noch viel zu jung gewesen, um zwischen den Zeilen zu lesen. Sie hatte ihn gehaßt, sie hatte ihn besiegt und sie hatte versucht, ihn zu vernichten. Vielleicht war sie jetzt reifer? Er musterte sie genauer. Ihre Haare waren nicht mehr so lang wie früher, doch sie waren lockiger. Es gefiel ihm. Es gefiel ihm sogar sehr gut. Richtig frisiert mußte ihr Haar jetzt fabelhaft aussehen. Ihr Gesicht war nicht mehr so rundlich. Die Wangen hatten einen aparten Schwung bekommen. Sie hatte etwas von einer herben, wilden Schönheit. Ihre Lippen wölbten sich geheimnisvoll und Jareth ertappte sich bei dem Gedanken, wie es wohl sein mußte, diese Lippen zu küssen.
Er beugte sich langsam über sie. Sein Blick hing an ihren Lippen. Doch bevor sein Mund sein Ziel erreicht hatte, bewegte sich Sarah im Schlaf. Jareth erstarrte.
Als er sicher sein konnte, daß er sie nicht geweckt hatte, zog er sich von ihrem Bett zurück und setzte sich auf ihren Stuhl. Er hatte unwillkürlich den Atem angehalten und holte erst jetzt wieder tief Luft.
Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht? Scheu warf er einen Blick in ihre Richtung. Ihre Anmut und Unschuld nahmen ihn völlig gefangen. Wie recht sie doch damals gehabt hatte: Er hatte keine Macht über sie! Es war genau umgekehrt. Wäre er doch nur nie auf die Idee gekommen, ihr diesen Besuch abzustatten. Die Ahnung, daß er sie nun nie mehr würde vergessen können, wurde zur Gewißheit.
Jareth war in seinen menschlichen Anlagen ein leidenschaftlicher Mensch. Wenn er haßte, war sein Haß grenzenlos. Wenn er grausam war, nahm seine Grausamkeit gigantische Ausmaße an. Wenn er strafte, strafte er gnadenlos. Diese Anlagen hatten ihm dabei geholfen, ein mächtiger und gefürchteter Herrscher zu werden.
Doch nun war zum ersten Mal in seinem langen Leben sein Herz berührt worden.
Eine Berührung nicht mehr als ein Schmetterlingsflügel an einem Blütenblatt und doch hatte sich von einem Augenblick auf den anderen sein Denken und Fühlen, sein Handeln und sein Leben, ja, sein ganzes Wesen verändert.
Nichts würde mehr so sein, wie es vorher war. Alles verändert sich immerzu. Ein Schritt zurück ist vielleicht ein Schritt nach vorn.
Die Erkenntnis, daß er Sarah liebte, liebte mit all seiner Kraft, mit seinem ganzen Herzen, mit seiner ganzen Verzweiflung und seiner ganzen Einsamkeit, war für ihn zu plötzlich gekommen. Er war dem Ansturm sich widersprechender Gefühle kaum gewachsen. Er mußte eine Entschluß treffen, bevor er noch den Verstand verlor. Je eher desto besser. Er riß sich von ihrem Anblick los und vergrub das Gesicht in seinen Händen.
"Was soll ich nur tun?", dachte er verzweifelt. "Ohne sie kann ich nicht mehr leben."
Neidisch sah er noch einmal zu Sarah hinüber. Wie konnte sie nur so friedlich daliegen und schlafen? Ihr Anblick beruhigte seine verwirrten Gedanken etwas und es gelang ihm, etwas Ordnung in seine Überlegungen zu bringen.
"Ich weiß, daß wir zueinander gehören. Wir sind füreinander bestimmt. Wahrhaft glücklich können wir nur miteinander werden. Doch wie soll uns das gelingen? Ich kann mich ihr nicht einmal in einer sichtbaren Gestalt zeigen." Traurig schüttelte er den Kopf. "Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als auf ein Wunder zu warten und bis dahin deinen Schlaf zu hüten, mein Dornröschen ...." Bei diesem Gedanken zeigte sich ein melancholisches Lächeln auf seinen Lippen.
Von da an verbrachte der Koboldkönig tatsächlich jede Nacht in Sarahs Zimmer. Niemand bemerkte ihn oder die weiße Eule, die in die Morgendämmerung eines jeden Tages entschwand. Wenn Jareth bei Sarah war, vergaß er für diese wenigen Stunden seine drückenden Sorgen. Er konnte sich einreden, sie wäre schon bei ihm, auf seinem Schloß, in seinem Bett, als seine Königin. Es war ein armseliges Märchen, aber für Jareth bedeutete es eine große Erleichterung. Die Realität - ein Leben ohne Sarah, eingepfercht zwischen Kobolden - war zu erdrückend geworden.
Dabei wurden seine nächtlichen Besuche zu einer Art Besessenheit. Er wollte Sarah öfter sehen - also fertigte er ein Portrait von ihr an, welches er in seinem Schlafgemach aufhängen ließ. Es zeigte Sarah nicht so, wie sie jetzt war, sondern wie sie damals gewesen war, als er sie zum erstenmal in seinen Armen gehalten hatte. Jedesmal wenn er das Bild betrachtete, stieg die Erinnerung wie süßer Schmerz in ihm auf.
Bald genügte es ihm auch nicht mehr sie nur anzusehen. Er wollte wissen, zu welcher Persönlichkeit sie gereift war. Wie sehr ihr Körper gereift war, konnte er zwar meist nur erahnen, doch bereits diese Ahnung genügte, um ihn unruhig werden zu lassen. Besonders jetzt, da es Sommer geworden war, trug sie oft sehr verführerische Spitzennachthemden. Immer öfter ertappte sich Jareth bei dem Gedanken, sie möge einen nicht ganz so ruhigen Schlaf haben und wie angenagelt unter ihrer Bettdecke zu liegen. Doch so sehr ihn auch ihr Körper beschäftigte, genauso sehr beschäftigte ihn auch ihr Geist.
Nachdem der Sommer langsam in einen milden Herbst übergegangen war, wußte Jareth alles über sie, was er eben aus ihrer Handtasche, ihrem Kleiderschrank oder auch ihren Schreibtischschubladen und Büchern in Erfahrung hatte bringen können.
Jareth hatte eine bemerkenswerte Geschicklichkeit darin entwickelt, alles wieder so zurecht zu rücken, daß Sarah nie bemerkte, daß sich Nacht für Nacht jemand in ihrem Zimmer umgesehen hatte. Zu seinem Bedauern führte sie auch kein Tagebuch, so daß er die meisten seiner Informationen ihrem Filofax entnehmen mußte. Besonders ernüchternd war ihm noch die Nacht vor einigen Wochen in Erinnerung, als er in ihrer Handtasche auf ein eingeschweißtes Kondom gestoßen war. Er wußte zuerst nicht recht, wozu dieses Ding überhaupt gebraucht wurde. Als ihm dann die Erkenntnis dämmerte, schwappte eine Woge aus unkontrollierter Eifersucht über ihm zusammen. Er hatte Tage gebraucht um sich wieder zu beruhigen. Seither suchte er verzweifelt nach irgendwelchen Anzeichen für Männerbekanntschaften.
Er war ja so naiv gewesen zu glauben, sie würde ihn genauso lieben wie er sie. Mein Gott! Sarah würde nicht ewig auf ihn warten. Sie war teuflisch attraktiv geworden. Die jungen Männer standen gewiß Schlange bei ihr.
Doch so sehr er auch suchte, er fand keinerlei Beweise. Keine Liebesbriefe, keine Freundschaftsringe, keine Termine für Rendezvous in ihrem Kalender. Danach war ihm wieder etwas wohler zumute. Allerdings brannte ihm jetzt die Zeit unter den Fingernägeln. Ihm mußte etwas einfallen - und zwar schnell! Er mußte sie unbedingt sehen, mit ihr sprechen. Er mußte wissen, was sie für ihn fühlte. Und wenn es ihn vor Schmerz umbrachte!
Die nächste Nacht hielt neue Schrecken für ihn bereit. In ihren Unterlagen fand er das Schreiben einer Firma. Sie bestätigten den Erhalt eines unterschriebenen Vertrages und freuten sich darauf, Sarah zum nächsten Ersten in ihrem Hause als neue Mitarbeiterin begrüßen zu dürfen.
Der Schock, daß Sarah weggehen würde, traf ihn völlig unvorbereitet. Fieberhaft suchte er nach einem Ausweg. Da er niemand - schon gar nicht Hoggle - anvertraut hatte, wohin er jede Nacht ging, konnte er nun auch niemand um Hilfe bitten.
Diese Suppe hatte er sich ganz alleine eingebrockt und nun suchte er verzweifelt eine Möglichkeit, um sie auch auszulöffeln.
Plötzlich kam ihm die Erleuchtung!
Sarah feierte am 20. September ihren 21. Geburtstag. Er würde ihr einfach ein Geschenk zukommen lassen, aus dem eindeutig hervorging, daß er sie sehen wollte. Ja, das konnte klappen! Es mußte klappen, denn bis sie am 01. Oktober nach Phoenix, Arizona ging war nicht mehr allzu viel Zeit. Und der Himmel mochte wissen, ob er sie je wiederfand wenn sie erst einmal in Phoenix lebte.
Kapitel 6
Sarah erwachte an ihrem Geburtstagmorgen voller unruhiger Vorfreude. Sie wußte einfach, daß heute alles ganz phantastisch werden würde! Wohlig dehnte und streckte sie sich in ihrem Bett. Bald - bald würde sie endlich alles hinter sich lassen und aus dieser engen Stadt verschwinden. Der neue Job den sie bei einer großen Werbefirma in Phoenix bekommen hatte, war fast zu gut um wahr zu sein. Der Personalchef hatte ihr so gut wie versprochen, daß sie in zwei bis drei Jahren eine eigene Abteilung leiten konnte. Man stelle sich vor: Sarah Williams, Abteilungsleiterin! Wow! Wie hatte sie sich nur jemals wünschen können, eines Tages Schauspielerin zu werden. Pah. Es gab nichts Erregenderes als die Werbebranche. Mit einem tiefen, zufriedenen Seufzen öffnete sie die Augen und sah auf den Wecker auf ihrem Nachttisch.
Da sah sie es.
Sofort saß sie kerzengerade in ihrem Bett. Ihr Herzschlag raste, doch ihr Kopf war merkwürdig leer. Mechanisch streckte sie die Hand nach dem fremden Gegenstand auf ihrem Nachttisch aus und nahm ihn an sich. Es war ein goldenes Medaillon, nicht größer als eine Münze, mit einem wundervollen, filigranen Muster auf der Vorderseite. Sie umschloß es fest mit ihrer Hand und preßte sie gegen ihre Brust.
Jareth!
Er war hier gewesen. Er mußte es gewesen sein.
Und wenn er es doch nicht gewesen war? Wenn es nur ein Geschenk von ihren Eltern war? Die Ungewißheit brachte sie fast um. Mit zitternden Fingern öffnete sie den Deckel. Sie glaubte fast ohnmächtig zu werden vor Glück.
Im Inneren des Medaillons befand sich ein Miniaturportrait von ihr selbst. So wie sie damals ausgesehen hatte, als sie mit Jareth in seinem Ballsaal getanzt hatte.
Ein Irrtum war ausgeschlossen.
Seine Majestät, Jareth, der Koboldkönig hatte ihr zu ihrem 21. Geburtstag ein Geschenk gemacht. Da bemerkte sie, daß sie weinte. Hastig schloß sie den Deckel, damit ihr Bild nicht naß wurde. Sie hatte nie begriffen, warum manche Menschen vor Glück weinten. Jetzt begriff sie es. Die Tränen liefen an ihren Wangen hinab und tropften von da aus auf ihr Nachthemd. Sie ließ es geschehen und war so glücklich wie nie zuvor in ihrem ganzen Leben.
Ein Klopfen an ihrer Zimmertür riß sie aus ihren Träumen.
"Sarah?" Es war ihr Vater. "Bist du schon auf?"
"Noch nicht, Dad. Ich komme gleich."
Flüchtig wischte sie sich die Tränen aus ihrem Gesicht und wartete, bis sie hörte, daß ihr Vater die Treppe hinunter ging. Fieberhaft überlegte sie, wo sie das Medaillon verstecken konnte um peinliche Fragen zu vermeiden. Sie schob es schließlich zwischen ihre Büstenhalter. Dort würde so schnell niemand danach suchen.
Als sie kurze Zeit später in das Eßzimmer hinunter ging, um die Glückwünsche und Geschenke ihrer Familie entgegenzunehmen, gab es keine äußeren Anzeichen für den Aufruhr von Gefühlen, der in ihrem Inneren tobte. Die letzten Tränenspuren wurden von sorgfältig angebrachtem Make-up verdeckt und ihr nervöses Herz von einem eleganten hellgrünen Kostüm verborgen.
"Guten Morgen Prinzessin," begrüßte sie ihr Vater. "Alles Gute zum Geburtstag."
Ihre Mutter umarmte sie. "Alles Glück der Welt, mein Mädchen."
Sogar ihr Bruder Toby gab ihr einen Schmatz auf die Wange. Sie rechnete ihm das hoch an. Er war bereits in dem Alter, in dem richtige Jungs diese ganze Küsserei höchst albern fanden. Sie setzten sich an den liebevoll gedeckten Frühstückstisch. Toby drückte seiner Schwester verlegen ein zerknittertes Päckchen in die Hand.
"Ein Geschenk für dich", murmelte er.
Neugierig riß Sarah das Geschenkpapier auf. Was Geschenke anging, so hatte sie nie gelernt, sich zu beherrschen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein Geschenk langsam und vorsichtig ausgepackt zu haben. Dazu war sie viel zu gespannt auf den Inhalt.
Als sie sah, was er ihr geschenkt hatte, hielt sie unwillkürlich die Luft an.
Er hatte ihr einen Briefbeschwerer in Form einer Kristallkugel gekauft.
"Gefällt es dir?" Wollte Toby wissen.
"Oh, ja, es ist - es ist wundervoll." Mißtrauisch sah Sarah ihren Bruder an. Sie hatte eigentlich gehofft, er könnte sich nicht mehr an seinen Aufenthalt im Labyrinth erinnern. Er war doch noch so klein gewesen.
Ihre Mutter stupste sie an. "Ich habe ihm ein bißchen beim Aussuchen geholfen," flüsterte sie Sarah zu. "Du liebst solche eleganten Kleinigkeiten."
Sarah war grenzenlos erleichtert. "Ja," lachte sie. "Ja, es gefällt mir wirklich! Vielen Dank Toby!"
Ihre Eltern lächelten sich an und Sarah bemerkte, wie Mutter ihrem Vater einen Wink gab. Ihr Vater wirkte plötzlich ein wenig verlegen und bevor er sich an Sarah wandte, räusperte er sich erst ausgiebig.
" Wir haben uns lange überlegt, was wir dir schenken können. Wie du dir denken kannst, ist uns nicht viel eingefallen. Dann haben wir uns überlegt, was du wirklich brauchen könntest du da ist uns eine ganze Menge eingefallen: neue Kleider, neue Möbel, neue Töpfe und Pfannen.... kurz und gut, du wirst dir, wenn du nach Phoenix ziehst, eine Menge anschaffen müssen. Vielleicht nicht alles auf einmal, aber auch das Notwendigste für den Anfang kostet eine schöne Stange. Und da sind wir auf so etwas profanes verfallen, dir Geld zu schenken." Er gab ihr einen Briefumschlag. "Wir haben dir deshalb schon einmal ein Konto bei einer Bank in Phoenix eingerichtet. In dem Umschlag sind die Unterlagen darüber."
Sarah war sprachlos.
"Oh Sarah, bitte sie uns nicht böse," bat ihre Mutter. " Wir wissen ja, daß du dir alles selbst erarbeiten willst, aber wir wollen auch, daß es dir gut geht."
"Ach Mam, du verstehst das falsch, ich - ich bin nicht böse mit euch.... ich war nur zu überrascht. Das ist so lieb von euch." Nach einer kurzen Pause fügte sie mit einem Lächeln hinzu: "Aber ihr hättet es nicht tun dürfen." Sie umarmte ihre Eltern voller Dankbarkeit. "Hergeben werde ich es allerdings auch nicht. Vielen Dank!"
Ihr Blick fiel dabei zufällig auf ihre Armbanduhr. Erschrocken stellte sie fest, daß sie eigentlich schon längst in ihrem Auto sitzen sollte.
"Oh-Oh. Ich muß los. Bis heute abend!"
"Aber du hast noch nicht gefrühstückt!" rief ihr ihre Mutter noch hinterher.
Doch das hatte Sarah schon nicht mehr gehört. Sekunden später konnten ihre Eltern hören, wie Sarah ihren kleinen weißen Golf viel zu hochtourig aus der Einfahrt jagte.
"No love injection"
Kapitel 7
Nach Abschluß ihrer Schul- und Ausbildungszeit hatte Sarah begonnen bei verschiedenen Zeitungen und Werbe-Agenturen zu jobben. Nur so hatte sie sich genug Wissen erarbeiten können um für eine wirklich gute Stelle qualifiziert zu sein.
Ihre Rechnung war aufgegangen, sie hatte die ersehnte Stelle in Phoenix erhalten.
Amazing Advertising war eine der fünf größten Agenturen im Süden der USA. Wer weiß, wozu sie es noch bringen konnte, wenn sie nur ehrgeizig genug war.
Auf der Fahrt zu ihrem derzeitigen Job überschlug sie kurz im Kopf ihren Terminplan.
"Noch drei Tage hier arbeiten, dann zwei Tage packen, ein Tag Fahrt mit der Spedition nach Phoenix, zwei Tage auspacken - bleiben noch 3 Tage, bis ich mich in meiner neuen Firma melden muß." Sie grinste zufrieden. Was Selbstmanagement anging, war sie immer eine der besten gewesen! Doch dann war ihre gute Laune wie weggewischt. Sie grübelte über Jareths Geschenk nach. "Was bezweckt er nur damit? Ich bin mir sicher, er tut nichts ohne Grund. Ob er irgendeine Gemeinheit im Schilde führt?" Ungläubig schüttelte sie den Kopf. " Das kann nicht sein. Er hat damals nur etwas Böses getan, weil ich es mir gewünscht hatte. Diesmal habe ich mir sicher nichts derartiges gewünscht. Im Gegenteil! Aber was will er nun wirklich von mir?"
Obwohl sie den ganzen Tag darüber nachdachte, fand sie auf diese Frage keine befriedigende Antwort. Abends war sie dann nahe daran zu verzweifeln und als ihre Eltern wissen wollten, wie ihr Tag heute gewesen wäre, konnte sie sich nicht erinnern, wie sie überhaupt zu ihrer Arbeit gekommen war und was dort den ganzen Tag über vorgefallen war. Sie gab ihnen eine nichtssagende Antwort, als sie plötzlich einen Geistesblitz hatte.
In dem Medaillon mußte eine Botschaft verborgen sein! Daß ihr das nicht früher eingefallen war! So was Blödes.
Während des Abendessens konnte sie ihre Ungeduld, endlich in ihr Zimmer zu gehen, kaum bezähmen. Sofort nachdem sie aufgegessen hatte, schützte sie bleierne Müdigkeit vor und zog sich zurück.
Kaum in ihrem Zimmer, schloß sie auch schon die Tür hinter sich ab, um wirklich ungestört zu sein. Mit zitternden Fingern nahm sie das Medaillon an sich. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, um es in Ruhe betrachten zu können. Als sie an der Gravur nichts geheimnisvolles entdeckte, spielte sie so lange damit herum, bis sie ein leises Klicken hörte. Hinter ihrem Bild sprang ein Geheimdeckel auf, aus dem ein Zettelchen herausfiel. Sarah atmete tief durch. Erst als sie sicher sein konnte, nicht in Ohnmacht zu fallen, nahm sie den Zettel und faltete ihn mit bebenden Fingern auseinander.
"Nenn den Namen nur ganz sacht,
Träume werden wahr zur Nacht."
Sarah schloß die Augen um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten.
"Ich bin eine richtige Heulsuse geworden," dachte sie. "Das ist also das ganze Geheimnis. Ich muß ihn rufen. Ich muß nur seinen Namen aussprechen. Wenn ich es nicht tue, kann er auch nicht zu mir kommen. Mein Gott, ist das einfach!"
Nachdem dieses Problem gelöst war, sah sie sich nun mit weitaus größeren Sorgen konfrontiert. "Will ich ihn überhaupt sehen? Andererseits, wenn ich ihn nicht sehe, werde ich nie erfahren, was er von mir will. Warum steht auf diesem Zettel nichts von einer Gültigkeitsdauer! Womöglich funktioniert das nur heute nacht und dann nie wieder. Scheiße! Was soll ich denn jetzt bloß tun?"
Die Entscheidung lag nun eindeutig bei ihr. Einerseits rechnete sie es Jareth hoch an, daß er sie nicht einfach so überfiel, andererseits hätte so ein Überfall ihr die Entscheidung abgenommen. Sie zermarterte sich das Gehirn nach einer Lösung. Warum mußte er sich ausgerechnet jetzt melden, wo für sie alles so gut lief.
Unschlüssig stand sie von ihrem Schreibtisch auf. Vielleicht war es besser wenn sie sich erstmal in ihr Bett legte um etwas zur Ruhe zu kommen....
In der Zwischenzeit saß Jareth in seinem Schlafgemach in einem reichgeschnitzten Lehnstuhl und betrachtete Sarahs Portrait. Er wartete. Er war sich sicher, daß sie ihn rufen würde. So sicher, daß er sich bereits für diese Begegnung umgezogen hatte.
Er hatte sich für enge, schwarze Hosen, eine ebensolche Weste und dazu passende Stiefel entschieden. Dazu trug er ein tiefblaues Rüschenhemd mit weiten Ärmeln und schwarzen Spitzenmanscheten. Sein bodenlanges Cape war von demselben Blau wie sein Hemd. Auf Handschuhe hatte er bewußt verzichtet. Er wollte Sarah spüren.
Sarah hatte mittlerweile ihr dunkelrotes Spitzennachthemd angezogen und sich in ihr Bett gekuschelt. Das Medaillon trug sie um den Hals. Sie dachte wohl stundenlang über ihr Problem nach, wendete es von innen nach außen, betrachtete Pro und Kontra, drehte es hin und her.... und schlief schließlich völlig erschöpft ein.
"Sarah."
Sarah drehte sich im Bett auf die andere Seite.
"Sarah." Die Stimme war sanft und drängend.
"Sarah. Wach auf."
Sie blinzelte verwirrt. In ihrem Zimmer war es dunkel. Da spürte sie eine Bewegung im Raum. Jemand setzte sich auf ihr Bett. In Panik wollte sie aufschreien, da erhellte ein sanfter Lichterschein, der von nirgendwoher zu kommen schien das Zimmer und das Gesicht des Eindringlings.
Jareth.
Er lächelte.
Immer noch verwirrt flüsterte Sarah: "Aber ich habe doch gar nicht...."
Jareths Lächeln vertiefte sich. "Du träumst sehr deutlich, meine Liebe."
"Oh." Hauchte Sarah. Sie fühlte wie sie rot wurde und wandte den Blick verlegen von ihm ab.
Jareth sah das Medaillon an ihrem Hals glitzern. "Ich hoffe, mein Geschenk hat dir gefallen."
Sarah richtete sich in ihrem Bett auf und hob den Blick. Sie konnte nicht anders, sie mußte ihn einfach wieder ansehen. Er sah so phantastisch aus. Es war einfach zu schön um wahr zu sein.
"Es ist das Wundervollste, was ich je geschenkt bekam. Vielen Dank, Jareth."
Ihre Blicke trafen sich und Sarah glaubte, in diesen magischen Augen zu ertrinken.
Für Jareth waren diese Worte die süßeste Musik, die er in seinem Leben gehört hatte. Er war wie verzaubert von ihrem Anblick. Sanft ergriff er ihre beiden Hände und hauchte auf jede einen Handkuß.
"Es freut mich, daß es dir gefällt," sagte er schlicht, ohne ihre Hände loszulassen. Sie fühlten sich wundervoll an. So weich und warm. Es war wirklich gut, daß er keine Handschuhe angezogen hatte. Seine Handflächen fingen an leicht zu kribbeln, aber es war ein gutes Gefühl.
"Ach, Jareth," seufzte Sarah leise, " das ist doch nur ein Traum, oder? Ich träume doch nur, daß du bei mir bist."
"Nein, Sarah. Es ist kein Traum. Es ist alles wirklich."
Verträumt sah sie auf ihre ineinander verschlungenen Hände und für den Bruchteil einer Sekunde gewann ihre Vernunft die Oberhand.
"Was willst du hier?"
"Schade," dachte Jareth. "Sie hat sich kaum verändert." Er stand von ihrem Bett auf und drehte ihr den Rücken zu. Er wollte nicht, daß sie sah, wie enttäuscht er war.
"Ich wollte dir zum Geburtstag gratulieren."
"Das glaube ich nicht." Sarah war hatte sich nun ebenfalls erhoben und stand nun hinter ihm. Er spürte die Wärme ihres Körpers und wünschte sich nichts mehr, als sie in seine Arme zu schließen....doch der Moment war bereits vorbei. Er wollte sie auch eigentlich nicht überrumpeln....
Mit einer Geste wies er auf ihre Spiegelkommode.
"Wann hast du ihn das letzte Mal benutzt?"
"Den Frisierspiegel? Ich verstehe nicht ganz."
Jareth drehte sich langsam zu ihr um.
"Du verstehst mich schon. Wann hast du ihn das letzte Mal benutzt um mit dem Labyrinth zu kommunizieren?"
"Ich glaube vor ungefähr zwei Jahren. Ich wollte mit diesem Kapitel meines Lebens endgültig abschließen."
Jareth sah an ihr vorbei. "Ich - wir haben uns Sorgen um dich gemacht," flüsterte er schließlich. Ihr Spitzennachthemd machte ihn ziemlich nervös. Sie war schön wie die Sünde.
Sarah trat auf ihn zu, bis sie sehr dicht vor ihm stand. Sie atmete schwer.
"Du hast dich verändert, Jareth." Sie zupfte unsicher an seiner Kragenmanschette und wünschte sich, er möge sie endlich küssen.
Jareth brachte ihre Nähe fast um den Verstand. Unwillkürlich legte er seine Hände um ihre Taille. Durch ihr Nachthemd hindurch spürte er, wie sie bei seiner Berührung erschauerte. Nur mühsam gelang es ihm, sich zu beherrschen. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Er wollte mehr von ihr als nur diese eine Nacht. Er wollte sie sooft sehen, wie es möglich war. Und dazu mußte er ihr ein Versprechen abringen. Das konnte er nicht, wenn er sie jetzt küßte. Er schluckte krampfhaft.
"Sarah, du hast recht. Ich bin nicht nur hier um dir zu gratulieren. Ich bin vielmehr hier, um dich um etwas zu bitten."
"Ja," hauchte Sarah.
"Ich wollte dich bitten, den Spiegel wieder zu benutzen. Regelmäßig zu benutzen. Ich weiß, daß du nach Phoenix gehst. Ohne den Spiegel gibt es dort keine Möglichkeit mehr um mit dir Kontakt aufzunehmen."
"Was, das ist alles?" Sarah war enttäuscht.
"Bitte." Er ließ sie los.
"Ich weiß nicht." Unschlüssig sah sie von ihrem Spiegel zu Jareth.
"Was wolltest du sonst hören, daß ich dich bitte mit mir zu kommen, in mein Schloß, als meine Königin?"
Irgendwie hatte sie das schon gehofft. Aber jetzt, da er sie nicht mehr umarmte, klang sein Vorschlag völlig idiotisch.
Sie lachte. "Nein, sicher nicht. Also der Spiegel?" Sie lächelte ihn an. Er nickte. "Gut, ich nehme ihn mit."
"Und du benutzt ihn auch?"
"Regelmäßig, ich verspreche es. Wie soll ich ihn benutzen?"
Er hatte es geschafft. Er atmete tief durch. Bald würde er sie sehen und mit ihr sprechen können.
"Nenne einfach nur den Namen, derjenigen Person, mit der du sprechen möchtest."
"Zum Beispiel auch deinen?"
"Es wäre mir eine Ehre." Er verneigte sich leicht.
"Soll ich Hoggle und deine anderen Freunde von dir grüßen?"
"Sie wissen gar nicht, daß du hier bist?"
"Nein, sie wissen es nicht. Du hättest meine Bitte ja auch ablehnen können. Sie wären sehr enttäuscht gewesen. Deshalb habe ich lieber nichts gesagt."
Sie nickte. Das war völlig logisch. "Ja, grüße sie bitte von mir."
Mit einem Seitenblick bemerkte er, daß es draußen schon dämmerte.
"Ich muß jetzt gehen. Es wird bald hell."
"Schon?" Fast hätte sie darum gebettelt, daß er noch bleiben solle. Aber sie beherrschte sich. Bald konnte sie ihn ja sehen, so oft sie wollte.
"Auf Wiedersehen, Sarah." Er gab ihr nochmals einen Handkuß.
"Bis bald."
Vor ihren Augen löste er sich in nichts auf. Vor ihrem Fenster sah sie eine weiße Eule davonfliegen. Sie sah ihr nach, bis ihre Augen brannten.
Kapitel 8
Wieder in seinem Schlafgemach angelangt verwandelte sich Jareth in seine menschliche Gestalt zurück. Auch hier brach bereits der Morgen an. Die rötlichen Strahlen der aufgehenden Sonne erfüllten sein Zimmer mit romantischem Licht.
Zufrieden sah er sich um. "Das hätte ich selbst nicht besser zaubern können."
Ihm war noch nicht danach sich wieder als Koboldkönig zu fühlen, er wollte noch eine kleine Weile wie ein normaler Mann sein, der sich verliebt hatte. Er trat vor Sarahs Portrait und betrachtete es lange und zärtlich. Er unternahm den Versuch seine Gefühle zu analysieren um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, doch es mißlang ihm gründlich. Zuviel tobte in seinem Innersten. Liebe, Dankbarkeit, Glück....
und Begehren. Noch nie zuvor hatte irgend etwas oder irgend jemand dieses Gefühl in ihm ausgelöst. Es war ihm so fremd wie noch vor einiger Zeit das Gefühl der Liebe.
Wenn er sich ihr Aussehen in ihrem Nachthemd wieder in Erinnerung rief wurde ihm so merkwürdig heiß und sein Atem ging rascher. Er war neugierig wie sich die Sache entwickeln würde. Nachdenklich ging er in seinem Zimmer auf und ab. Er war unschlüssig ob er Hoggle von seinem Treffen mit Sarah berichten sollte. Einerseits war er dagegen, andererseits hatte er Sarah versprochen dem Zwerg ihre Grüße zu bestellen. Er seufzte. Sein Leben war merkwürdig kompliziert geworden. Er entschied sich schließlich dafür dem Zwerg alles zu erzählen und damit sein Versprechen Sarah gegenüber zu halten. Er hatte die vage Vorstellung davon, daß sie es hätte herausfinden können und sie wäre bestimmt böse mit ihm gewesen. Das wollte er auf keinen Fall riskieren. Er würde alles tun um sie glücklich zu machen. Egal wie schwer es ihm auch fallen mochte. Er gähnte herzhaft. Mittlerweile war er sehr müde geworden und er blickte sehnsüchtig sein Bett an. Doch erst mußte er mit Hoggle sprechen. Am besten würde er ihn holen lassen. Er selbst war zu müde um sich noch einmal irgendwohin zu zaubern.
Jareths Wachen mußten glücklicherweise nicht lange nach Hoggle suchen. In der Koboldstadt war gerade Markttag und Hoggle schob sich mit vielen anderen Geschöpfen des Labyrinths an den Marktständen vorbei, als die Wachen seiner ansichtig wurden.
"He !! Du da!!"
"Meint ihr mich?" Überrascht drehte sich Hoggle um. Als er sah, daß Jareths Wachen auf ihn zukamen rutschte ihm das Herz in die Hosen. Bestimmt waren sie gekommen um ihn wegen des Zauberspiegels zu verhaften. Hoggle hatte sich bereits in Sicherheit gewiegt, als mehrere Wochen nichts geschehen war und niemand etwas von Jareth gehört oder gesehen hatte, aber es war dem König wohl doch wieder eingefallen. Seine sanfte Miene bei ihrem letzten Zusammentreffen war ja auch gar nicht typisch für ihn gewesen.
"Ja, du! Hoggle, oder wie du auch heißt. Der König will dich sehen."
"Seine Majestät?" Er hatte also richtig geraten. "Warum will seine Majestät mich denn verhaften? Es schien ihm doch damals nichts auszumachen", unternahm Hoggle einen lahmen Versuch um seiner Verhaftung zu entkommen. Doch aus einer Flucht würde sowieso nichts mehr werden, wie sich durch einen schnellen Blick herausstellte. Allerlei Schaulustige hatten sich um die kleine Gruppe versammelte und versperrten jeglichen Fluchtweg.
"Was sagt der da von verhaften? Hätten wir zwar auch lieber gemacht, aber der König hat nichts davon gesagt. Du sollst einfach nur mitkommen. Bringt Hoggle zu mir, ich habe mit ihm zu sprechen. Hat er gesagt. Nicht mehr und nicht weniger. Also was ist jetzt? Kommst du mit? Oder sollen wir dich doch noch verhaften."
"Nein, nein", stammelte der aufgeregte Hoggle. "Ich komme ja schon."
Die Menge zerstreute sich um das kleine Grüppchen durchzulassen. Und schon kurze Zeit darauf sprach die ganze Koboldstadt von nichts anderem mehr: ihr König wollte mit einem von ihnen sprechen und hatte ihn dazu nicht einmal verhaften lassen. Die Neuigkeit war so unerhört, daß sie kaum geglaubt wurde und deshalb genauso schnell wieder in Vergessenheit geriet.
Auf dem Weg zum Schloß schimpfte Hoggle in Gedanken über seinen König. "Dieser verflixte Jareth! Nie weiß man woran man bei ihm ist. Einmal ist er honigsüß und in der nächsten Minute der reinste Teufel."
Jareth saß in einem purpurroten Morgenrock an seinem Schreibtisch, den Kopf auf eine Hand gestützt. Als an seine Tür geklopft wurde ließ er sich müde in seinen Sessel zurückfallen und rief: "Herein mit ihm!"
Hoggle wurde von den Wachen förmlich in Jareths Arbeitszimmer hineingestoßen. Seine Beine zitterten so sehr, daß sie ihm nicht mehr gehorchten. Die Tür wurde hinter ihm zugeschlagen und er fühlte sich gefangen. Ängstlich sah er zu dem großen Schreibtisch hinüber an dem Jareth saß. Als er bemerkte, daß sein König augenscheinlich mehr gegen den Schlaf kämpfte, als gegen eine aufkommende Wut, schöpfte er wieder ein wenig Hoffnung.
"Komm´ her Hoggle und setz dich zu mir", winkte ihn Jareth zu sich heran.
Hoggle gehorchte und nahm immer noch unbehaglich auf einem der Schemel Platz.
Hoggles Furcht war so offensichtlich, daß sich Jareth leicht darüber amüsierte. Er konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Doch er hatte den kleinen Kerl nicht rufen lassen um ihm Unbehagen zu bereiten. Jareth räusperte sich.
"Du wirst dich freuen zu hören, daß es Sarah gut geht."
Diese Nachricht schlug bei Hoggle ein wie eine Bombe.
"Eure Majestät! Ihr habt mit ihr gesprochen? Wo ist sie? Wie geht es ihr? Warum hatte sie sich nicht mehr gemeldet?" In seiner Aufregung vergaß er sogar seine Angst vor Jareth.
"Pst, Hoggle. Eins nach dem anderen." Hoggles Erleichterung amüsierte ihn. Sie erinnerte ihn an seine eigenen Gefühle. "Sie lebt noch bei ihren Eltern, aber sie zieht in wenigen Tagen nach einem Ort namens Phoenix um, um dort zu arbeiten. Sie hat mir Grüße an euch aufgetragen. Und ich habe ihr Versprechen, daß sie den Spiegel wieder benutzen wird - regelmäßig."
"Tatsächlich?"
"Sie hat es versprochen."
Hoggle runzelte die Stirn. "Wie ist es Euch gelungen, zu ihr zu kommen? Als ich Euch fragte ob es möglich wäre, sagtet Ihr, es ginge nicht."
Jareth grinste. "Ich habe einen kleinen Trick versucht und er ist mir gelungen."
Plötzlich sprang Hoggle auf. "Wenn ihr die Lady hereinlegen wollt, dann, dann...."
Hoggle suchte verzweifelt nach einer Drohung die fürchterlich genug war um Jareth einzuschüchtern, doch in der Aufregung wollte ihm keine einfallen. Schließlich wurde ihm bewußt, was er eigentlich tat und schielte schuldbewußt nach seinem König.
Jareth sah den Zwerg ernst an.
"Sarah ist die letzte Person in diesem Universum, der ich etwas Böses antun würde. Ich habe sogar die Hoffnung, daß sie einen Bruchteil der Gefühle die ich für sie hege erwidert." So, dachte er dann. Nun ist es heraus. Ich hätte nicht mit Hoggle sprechen dürfen, solange ich so müde bin.
"Ist das wahr?" Hoggle konnte vor Überraschung kaum denken.
Jareth erhob sich. "Ich werde dir etwas zeigen. Komm mit."
Hoggle folgte ihm in sein Schlafgemach und blieb (wenn möglich) noch überraschter als zuvor wie angewurzelt stehen. In Jareths Schlafgemach hing ein Bild von Sarah.
Sein Blick ging von dem Bild zu Jareth und wieder zurück. Als er bemerkte wie wehmütig dieser das Portrait betrachtete fing er tatsächlich an zu verstehen.
"Hoggle, ich weiß, daß du mir kaum glauben wirst, aber ich liebe Sarah von ganzem Herzen. Deshalb war ich heute nacht bei ihr. Ich konnte es nicht mehr ertragen, sie nicht zu sehen. Ich habe ihr das Versprechen abgenommen wieder den Spiegel zu benutzten und ich hoffe, sie wird dadurch mit mir sprechen wollen und nicht mit euch." Jareth lächelte schwach. "Sie wollte mit diesem Kapitel ihres Lebens abschließen, aber ich glaube, sie hätte es genausowenig gekonnt, wie ich. Doch jetzt laß mich bitte allein, Hoggle. Ich werde dich auf dem laufenden halten."
Hoggle war zu perplex um etwas anderes zu tun, als ihm Jareth geboten hatte, so machte er eine tiefe Verbeugung vor seinem König und verließ das Schloß so schnell ihn seine kurzen Beine trugen.
Derweil konnte Jareth endlich zu Bett gehen.
Kapitel 9
Sarah hatte nach den Ereignissen dieser Nacht einfach nicht mehr die Ruhe um sich hinzulegen und zu schlafen, obwohl sie dringend Schlaf gebraucht hätte. So setzte sie sich eben an ihren Schreibtisch und schaltete ihren PC an. Um sich abzulenken sicherte sie einige Dateien und Dokumente auf Diskette, damit sie bei ihrem Umzug auf keinen Fall gelöscht wurden. Eine Zeitlang funktionierte diese Art der Selbsttäuschung auch ganz gut, doch dann gingen ihre Gedanken auf die Reise ins Labyrinth.
Wie es wohl sein würde mit Jareth zu leben? Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wünschte sie sich tatsächlich nichts sehnlicher als dies. Sie gehörten zusammen, waren wie zwei Teile eines Ganzen. Nach dieser Nacht war sie sich sicher, daß er sie genauso liebte, wie sie ihn. Warum er allerdings keine Anstalten gemacht hatte um sie zu verführen, oder wenigstens zu küssen, darauf konnte sie sich noch keinen Reim machen. Vielleicht hatte er sich ganz einfach gentlemanlike verhalten. Es wäre auch etwas gewagt gewesen, wenn sie und Jareth... mit ihren Eltern nebenan....
Sie lächelte. Das mußte der Grund für sein Verhalten gewesen sein. Doch wenn sie erst ihre eigene Wohnung hatte..... Ungeahnte Möglichkeiten!
Sie würden so glücklich miteinander sein! Nur sie beide! Nur sie beide? Verdammt, das war der Haken an der Geschichte. Er paßte nicht in ihre reale Welt. Er war zu phantastisch. Sie konnte ihn ja schlecht ihren Eltern als Schwiegersohn präsentieren. Die Vorstellung war zu lächerlich. Und wenn sie einfach mit ihm verschwand? In sein Reich? Puh! Den ganzen Tag nur Kobolde. So umwerfend konnten die Nächte gar nicht sein, um dieses Manko auszugleichen.... und doch.... Liebte sie ihn etwa nicht genug um ihm überallhin zu folgen?
Ihre leibliche Mutter hatte das getan. Sie folgte ihrem Bühnen- und späteren Lebenspartner überallhin. Sie hatte ihn genug geliebt um allen Konventionen zu trotzen und war einfach mit ihm auf und davon gegangen. Sarahs Lächeln wurde bitter. Ja, wahre Liebe hatte ihre leibliche Mutter dazu gebracht Sarah und ihren Vater einfach zurückzulassen. Sie hatte damit den Menschen die sie am meisten geliebt hatten unglaublich weh getan. Und wofür? Für ein bißchen Romantik. Nach ein paar Jahren war die große Liebe vorbei gewesen. Am Ende hatte dieser Jeremy ihre Mutter einfach verlassen. Sarah hatte dies stets als ausgleichende Gerechtigkeit empfunden. Sarahs Kontakt zu ihrer Mutter und ihrem Liebhaber war mehr als locker gewesen und nach dieser Trennung war er ganz abgerissen. Rückblickend betrachtet bedauerte Sarah dies nicht. Nicht mehr. Und jetzt? Jetzt mußte sie feststellen, daß mehr von ihrer Mutter in ihr steckte, als ihr lieb war. Bis vor wenigen Minuten war sie noch drauf und dran gewesen, die Menschen zu verlassen, die ihr am meisten bedeuteten, nur um mit einem dubiosen Koboldkönig in wilder Ehe zu leben. Mein Gott! Was für eine abstruse Idee! Andererseits - wiedersehen wollte sie ihn schon...Vielleicht war das eine bessere Erklärung für Jareths Verhalten. Auch er sah nicht, wie diese Liebe eine Zukunft haben konnte. Aber auch er konnte nicht von ihr lassen, genausowenig wie sie ihn sich aus dem Herzen reißen konnte, obwohl sie es jahrelang versucht hatte. Sie glaubte nun zu verstehen, daß er ihr zwar nicht seine Liebe, aber seine Freundschaft angeboten hatte. Eine Freundschaft, in der er nichts von ihr fordern wollte, außer dem was sie zu geben bereit war. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Dieser Mann war eindeutig zu gut für diese Welt. Nie würde er sie gegen ihren Willen betatschen oder ihr einen Kuß rauben, wie ihr das schon oft passiert war. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er sie küssen würde, wenn sie es von ihm verlangte. Sie begriff, daß alles bei ihr lag und sie sehr vorsichtig sein mußte wenn sie nicht etwas sehr, sehr Wertvolles zerstören wollte.
Erschöpft und etwas mutlos schaltete sie den PC ab. Es war Zeit aufzustehen. Vor ihrem Umzug war noch einiges zu erledigen.
Der Tag war erwartungsgemäß hektisch verlaufen.
Morgens hatte ihre Mutter noch bittere Tränen vergossen und sogar die Augen ihres Vaters hatten feucht geglänzt, als sie sich von ihm verabschiedet hatte. Auch Toby war traurig gewesen, daß seine große Schwester ihn verließ. Erst ihr Versprechen, daß sie zu Weihnachten auf Besuch kommen würde und ihm ein ganz tolles Geschenk mitbrächte, versöhnte ihn wieder etwas. Schließlich hatte sie sich in ihr Auto gezwängt und war dem Umzugswagen die ganze Strecke bis nach Phoenix vorneweg gefahren. Ihre neue Wohnung lag in einem Apartmenthaus, das noch keine zehn Jahre alt war. Die Anlage war zwar nicht mehr schick, aber immer noch sehr schön und ziemlich gemütlich. Ihr Appartement war für eine Person ausreichend. Es hatte einen großen Wohnraum in den Küche, Ess- und Wohnzimmer integriert waren, außerdem ein Schlafzimmer mit anschließendem Bad. Durch die großen Fenster und den ebenfalls ziemlich großen Balkon, der vom Wohnraum aus betreten werden konnte, wirkte die Wohnung sehr luftig und freundlich. Überdies hatte sie durch ihre Lage im 10. Stock zwar keinen atemberaubenden, aber doch ein schönen Ausblick auf Phoenix. Nachdem die Möbelpacker ihr Hab und Gut ausgeladen hatten, räumte Sarah bis in den späten Abend hinein so lange ein, aus, und um, bis das meiste geschafft war. Die wirkliche Schufterei würde erst in den nächsten drei Tagen richtig losgehen, wenn die restlichen Möbel, die sie bestellt hatte, geliefert wurden. Für diesen Tag hatte sie lediglich den Aufbau ihres Schlafzimmer angesetzt. So emotionslos wie sie diesen Tag gemeistert hatte, hatte sie doch tausend Ängste ausgestanden, daß ihrer Spiegelkommode auf dem Transport etwas zustoßen könnte. Sie hatte sich erst wieder beruhigt, als sie sicher in ihrem Schlafzimmer deponiert war. Beim Abstauben des Spiegels hatte ihr Pulsschlag allerdings doch wieder verrückt gespielt. Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Gestern noch hatte sie beschlossen, Jareth nur noch als Freund zu sehen, und sich alles andere wegen der Unausführbarkeit aus dem Kopf zu schlagen und kaum dachte sie daran, daß sie ihn nun bald wiedersehen würde, schon tanzte ihr Herz Cha-cha-cha. So konnte es nicht weitergehen. Sie mußte sich genauso zusammenreißen wie er. Wenn sie ihn nicht für immer verlieren wollte mußte sie ihre Gefühle unterdrücken. Allzu schwer sollte ihr das eigentlich nicht fallen. Sie lächelte schief. Schließlich hatte sie es lange genug getan. Nun kam es auf ein paar Jahre mehr oder weniger auch nicht mehr an. Worauf es nun ankam war einzig und allein die Tatsache, daß auch er sie wiedersehen wollte. An diesen Gedanken klammerte sie sich unbewußt mit der ganzen Kraft ihres unverstandenen Herzens.
Kapitel 10
"Wenn ich es euch doch sage! Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!" Behauptete Hoggle nun zum dritten Mal.
Sir Dydimus, Ludo und der Zwerg saßen vor Hoggles Hütte auf dem weichen Waldboden. Hoggle hatte noch am selben Tag Sarahs frühere Weggefährten alarmiert und berichtete ihnen von seinen merkwürdigen Erlebnissen mit seiner Majestät. Wie der König den Spiegel zerbrechen wollte, es dann aber doch nicht getan hatte, wie er Hoggle über Sarah ausgehorcht hatte und wie er schließlich erst vor wenigen Stunden Hoggle zu sich hatte kommen lassen um ihm ein Bild von Sarah zu zeigen und allerlei dummes Zeug zu reden.
"Und seine Majestät sagte wirklich er habe mit Mylady Sarah gesprochen und sie ließe uns Grüße ausrichten?" Sir Dydimus wollte es einfach nicht glauben. Denn wenn es sich tatsächlich so abgespielt hatte, wie sein treuer Waffenbruder es ihn glauben machen wollte, so mußte er in seiner Ehre und ihn seinem Stolz gekränkt sein. Im Stillen hatte er sich selbst Hoffnung auf die holde Lady gemacht. Zu Ihren Ehren hätte er die tapfersten Heldentaten begangen und vielleicht, eines Tages, hätte sie ihm dann eines ihrer Taschentüchlein..... "Ich kann es nicht begreifen, warum sie sich mit seiner Majestät abgibt und uns, ihrer ehemaligen Waffengefährten....," vor Empörung blieb ihm die Luft weg. "Oder verstehst du das, Ambrosius?"
Doch Ambrosius hatte den Ernst der Lage genausowenig begriffen wie Ludo. Er verstand nur, daß sein Herr seit einiger Zeit das Zigeunerleben als Brückenwächter aufgegeben hatte um Kommandant der Stadttorwache zu werden. Das behagte Ambrosius weit mehr als wilde Kämpfe und kühne Heldentaten.
"Wenn seine Majestät nicht so wäre wie er eben ist könnte man tatsächlich glauben, er hätte sich in Sarah verliebt," griff Hoggle den flüchtigen Gedanken wieder auf, der ihm bei seiner überstürzten Flucht aus dem Schloß heute morgen durch den Kopf geschossen war. "Was haltet ihr davon?" Forschend sah er in die Runde.
Sir Dydimus schnappte vor lauter Entrüstung nach Luft. Als er sich wieder gefangen hatte und zu einer Erwiderung ansetzte, kam ihm jedoch Ludo zuvor.
"Sarah - König - Freunde", brummte er mit seiner tiefen Stimme. Es war keine Frage, es war eine Feststellung. Das war doch so einfach. Warum machten seine Freunde deswegen nur so ein Geschrei?
Sir Dydimus sah den treuen Riesen mit großen Augen an.
"Nun ja, wenn Ihr meint, Sir Ludo....dann wird es wohl so sein", seufzte er. "Mein ganzes Streben war immer nur auf das Glück der jungen Lady ausgerichtet. Wenn sie meint, sie braucht Ihre Majestät zu ihrem Glück.....nun gut, dann soll sie ihn auch bekommen." Sein edler Verzicht auf die Hand der Mylady um ihres Glückes Willen trieb ihm fast die Tränen in die Augen. Ja, so verhielt sich noch ein Ritter der alten Schule! Jetzt konnte er wieder stolz auf sich sein und den Kopf hoch tragen. Er hatte seine Ideale nicht verraten.
"Wenn wir wenigstens mit Sarah selbst sprechen könnten", gab Hoggle zu bedenken.
"Sarah - erwachsen", brummte Ludo.
Sir Dydimus runzelte die Stirn und Hoggle zuckte mit den Schultern. "Ludo hat wahrscheinlich recht. Sarah ist mittlerweile alt genug um zu wissen, was sie will. Ich fürchte fast, sie braucht uns tatsächlich nicht mehr....." Hoggle verstummte.
Als Jareth erwachte, war der Tag schon weit fortgeschritten und die Nachmittagssonne zauberte warme Lichtreflexe auf Sarahs Portrait.
Jareth blieb noch eine Weile in seinem Bett liegen, um es in Ruhe zu betrachten, und um seine Gedanken nach der letzten Nacht zu ordnen.
Alles in allem konnte er sehr zufrieden mit sich sein. Bis auf seine Ausrutscher Hoggle gegenüber....doch das war nun nicht mehr zu ändern. Irgendwann hätte der Zwerg sowieso alles erfahren. Jareth konnte nicht ausschließen, daß Sarah den Spiegel nun auch benutzte um mit ihren alten Freunden wieder Kontakt aufzunehmen. Das konnte er weder überwachen, noch kontrollieren. Es war besser gewesen, die Wahrheit zu sagen. Plötzlich lachte er auf. Die Wahrheit! Phantastisch!
Seine Majestät, der Koboldkönig wurde auf seine alten Tage noch ehrbar und anständig. Ein Witz! Doch was sollte er dagegen tun. Ein Blick in ihre unrgründlichen grau-grünen Augen und er war ihr machtlos ausgeliefert. Ob sie wohl schon heute abend nach im rufen würde? Ob sie es tat oder nicht, er mußte auf jeden Fall bereit sein. Schnell stand er auf, um sich anzukleiden. Sorgsam wählte er ein rotes, einfach geschnittenes Hemd mit weiten Ärmeln, aber ohne Rüschen aus. Dazu zog er eine enge schwarze Hose und eine weiten schwarzen Mantel ohne Ärmel an. Zufrieden betrachtete er sein Spiegelbild. Ob er nicht doch mal eine andere Frisur ausprobieren sollte. Vielleicht einen Zopf im Nacken? Nach einigen Minuten in denen er sich mit einem schwarzen Band vergeblich abgemüht hatte, gab er es schließlich auf. Seine Haare waren einfach zu widerspenstig. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, daß er wahrscheinlich noch genügend Zeit hatte um einige Papiere durchzuarbeiten, bis ihn Sarah rief.
Wenn sie ihn heute überhaupt rief. Er zuckte die Schultern, als er die Berge von Arbeit auf seinem Schreibtisch im Nebenzimmer in Augenschein nahm. Und wenn nicht.....dann würde er wenigstens mal dazu kommen alles aufzuarbeiten. Auch wenn er es noch so gern getan hätte, er durfte nicht sein ganzes Herz an sie hängen.
Sein Reich hatte genauso viel Anspruch auf ihn. Wenn er doch nur Gewißheit hätte, ob seine Liebe zu ihr eine Zukunft haben könnte..... Er seufzte leise. Sich wie ein König zu benehmen war nicht immer leicht.
Behutsam rückte er noch einmal seinen Zauberspiegel in seinem Arbeitszimmer zurecht, dann erst machte er sich an seine Arbeit.
Es war schon fast Mitternacht als sich Sarah entschlossen hatte, Jareth nun doch schon in dieser Nacht zu rufen. Vorher hatte sie noch lange überlegt, was sie anziehen sollte, bis ihr klar wurde, daß das eigentlich völlig egal war. Immerhin hatte er sie ja schon im Nachthemd gesehen. Also! Daher schlüpfte sie gleich in ihren grünen Seidenpyjama und zog noch einen leichten Morgenmantel darüber, den sie aber durchaus nicht zuband. Nach diesen ganzen Vorbereitungen setzte sie sich etwas nervös vor ihren Frisierspiegel und flüsterte ganz leise seinen Namen um sich sofort ganz entsetzlich albern vorzukommen.
Doch dann geschah etwas. Ihr Spiegelbild trübte sich, der Spiegel flimmerte und Jareths Gesicht erschien.
Er lächelte sie an. "Guten Abend, Sarah."
"Guten Abend, Jareth."
"Ich nehme an, du bist schon umgezogen?"
"Ja, das hier ist Phoenix."
"Was ich bis jetzt davon sehe gefällt mir." Sarah spürte, wie sie rot wurde, doch er blickte an ihr vorbei, um das Zimmer besser in Augenschein nehmen zu können. "Dein Schlafzimmer?" Seine linke Augenbraue hob sich überrascht in die Höhe. Sarahs Bett stand der Spiegelkommode direkt gegenüber. Außerdem konnte er noch einen Schrank erkennen und wenn er sich etwas anstrengt hätte, hätte er wahrscheinlich auch einen Blick aus dem Fenster werfen können. Was er sah gefiel ihm. Die Möbel waren neu, aber im Stil den Möbeln, die sie in ihrem Elternhaus gehabt hatte sehr ähnlich. Sie waren in apartem lichtgrau gehalten, der Teppichboden und die Vorhänge waren einige Nuancen dunkler. Die Wände waren apricot-farben, genauso wie die Tagesdecke ihres Bettes. Und wahrscheinlich auch ihre Bettwäsche....ob die wohl aus Satin war? Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er auf das Bett förmlich gestarrt hatte und er wandte sich schnell wieder Sarah zu, die inzwischen allerdings auch etwas verlegen dreinsah.
Verflixt, so etwas durfte ihm nie wieder passieren. Er hatte auch nicht im Traum damit gerechnet, daß sie die Kommode in ihr Schlafzimmer stellen würde. Auf diese intime Umgebung war er nicht vorbereitet gewesen. Von jetzt ab mußte er sich viel besser zusammennehmen und sich vor allem endlich wie ein König benehmen und nicht wie irgendein dahergelaufener Spanner von der Straße!
"Natürlich dein Schlafzimmer. Verzeih mir Sarah, wie dumm von mir. Natürlich kannst du eine Frisierkommode schlecht in die Küche stellen."
Sie lächelte ihn dankbar an. Nachdem er die Spannung von ihnen genommen hatte, konnte sie wieder unbefangen mit ihm sprechen.
"Nein, das hätte wohl etwas seltsam ausgesehen." Stimmte sie ihm zu.
"Wie fühlst du dich jetzt? Bist du froh hier zu sein?"
"Ich bin ziemlich müde", gab sie offen zu. "Der Tag war doch ziemlich anstrengend. Aber die Wohnung ist sehr schön...." Sie überlegte bevor sie fortfuhr. "Ich bin froh, daß ich jetzt hier bin. Obwohl es eigentlich keine Unterschied macht, ob es jetzt tatsächlich Phoenix ist. Es hätte auch jede andere Stadt sein können. An Städten liegt mir nicht viel. Hauptsache ich bin nicht mehr in meiner Heimatstadt."
Ihr Stimme hatte abweisend geklungen, doch Jareth kam es so vor, als ob sie trotzdem darüber sprechen wollte. Außerdem war er neugierig geworden. Es war so aufregend mit ihr zu sprechen. Viel aufregender als sie nur im Schlaf zu beobachten.
"War es dort so schlimm? Ich hatte bislang nicht den Eindruck, daß du es eilig gehabt hättest von deinen Eltern wegzukommen."
"Es waren nicht meine Eltern - die habe ich sehr lieb, es waren die anderen Menschen dort...." Sie stockte. Konnte sie es ihm wirklich erzählen? Es wäre eine solche Erleichterung, sich einmal den Kummer von der Seele zu reden. Auch wenn sie ihrer alten Umgebung entflohen war, so mußte sie doch wenigstens einmal mit jemandem darüber sprechen um es zu verarbeiten. Und wer würde sie besser verstehen als Jareth? Außerdem konnte er es keiner Menschenseele weitererzählen. Ihre Kümmernisse wären bei ihm gut aufgehoben. Sie biß sich kurz auf die Unterlippe, doch dann sprach sie schnell weiter: "Ich habe mich dort nie wohlgefühlt. Ich hatte immer das Gefühl anders zu sein. Anders als die anderen. Schon als Kind war das so." Sie sah Jareth an. In seinen unergründlichen blauen Augen konnte sie lesen, daß er sie verstand. Besser verstand als je ein Mensch zuvor. "Und dann...dann hat Dad wieder geheiratet und ich war wieder anders als die anderen. Das einzige Mädchen mit einer Stiefmutter. Es war ein regelrechter Skandal. Als dann auch noch Toby auf die Welt kam....da konnte meine Andersartigkeit nicht mehr überboten werden. Ich war so bekannt wie ein Kalb mit zwei Köpfen. Und genauso gefürchtet. Die Menschen fürchten sie immer vor allem das anders ist als die Norm...." Sie lächelte schief. "Und dann....dann kamst du...."
"Ich kam, weil du mich riefst", sagte er mit sanfter Stimme.
"Ja, das hab ich wohl...." Sie senkte den Blick. "Auf jeden Fall hatte ich sowieso nie viele Freunde gehabt und von da an wurden es immer weniger. Ich hatte mit ihnen kaum etwas gemeinsam. Meine Erlebnisse hatten mich verändert. Du hast mich...." sie zögerte. "Das Labyrinth hat mich verändert. Niemand hat mich je verstanden.....niemand.....außer......" Sie unterbrach sich wieder. "Auch Greg hat nie begriffen......"
Das war für Jareth eine beunruhigende Neuigkeit. Er konnte die Frage einfach nicht unterdrücken. "Greg?"
"Ja, Greg. Ein Junge mit dem ich gegangen bin bis vor....." Sie überlegte. "Bis vor einer Woche!" Sie war ehrlich überrascht. Sie hätte ihren neuen Job darauf verwettet, daß sie ihm bereits vor mehreren Monaten den Laufpaß gegeben hatte.
Jareth konnte sie nur völlig perplex anstarren. Ein Mann in ihrem Leben. Die ganze Zeit über. Und er hatte nichts davon bemerkt. Andererseits schien sie ihm auch keine großen Tränen nachzuweinen. Möglicherweise war es gar nichts Ernstes gewesen.
Sarah hatte plötzlich das Bedürfnis ihr Verhältnis zu Greg näher zu erläutern, doch schließlich sagte sie nur: "Es hatte nichts zu bedeuten. Er war einfach nur ein Freund....und selbst das wäre schon übertrieben."
Jareth atmete insgeheim erleichtert aus.
"Auf jeden Fall wollte ich unbedingt weg. Egal wohin. Es ging einfach nicht mehr. Deshalb habe ich auch einen Beruf in der Werbebranche. Falls du es nicht weißt, Werbeleute sind auch anders als alle anderen. Dort werde ich so akzeptiert wie ich bin. Da muß ich mich nicht verbiegen nur um dazuzugehören."
Erst jetzt hatte sie wieder den Mut ihm in die Augen zu sehen. Der ernste Blick aus seinen magischen Augen schwemmte ihre Seelennöte mit sich fort. Sie fühlte sich zum ersten Mal seit Jahren wieder leicht wie ein Schmetterling.
Jareth hingegen wünschte sich nichts sehnlicher als sie in seine Arme zu schließen und ihre ganzen Sorgen einfach wegzuküssen. Aber wer hatte je behauptet, das Leben wäre einfach.....
"Du hattest nie besonders viel Spaß, nicht wahr, Sarah?"
"Nein, nicht sehr. Aber jetzt macht es mir nichts mehr aus. Das ist Vergangenheit. Auf mich wartet jetzt ein anderes Leben."
"Du bist ein außergewöhnliches Mädchen."
"Ich weiß!" Sie grinste übermütig. "Welches normale Mädchen besäße schon einen Zauberspiegel!" Da konnte sie ein Gähnen nicht mehr unterdrücken.
"Ich sehe, du bist müde. Darf ich dir schöne Träume wünschen?"
"Ja, du darfst. Denn was man in der ersten Nacht in einer neuen Wohnung träumt, geht in Erfüllung! Gute Nacht, Jareth."
"Gute Nacht."
Als sich sein Gesicht bereits auflöste flüsterte sie noch schnell "Bis morgen" und wußte nicht, ob er es nun gehört hatte oder nicht.
Doch Jareth hatte es sehr wohl noch gehört und ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Glücklich lehnte er sich in seinem Sessel zurück. Es war tatsächlich sehr spät geworden, aber die meiste Arbeit hatte er vor ihrem Ruf glücklicherweise erledigen können. Die restlichen Stapel waren nicht mehr der Rede wert und so konnte er sich in sein Schlafgemach zurückziehen.
Er entkleidete sich rasch und zog ein weißes Rüschennachthemd an, das er nur halb zuknöpfte, da er glaubte er würde sonst an seine Gefühlen ersticken. Er hatte gleich schlafen gehen wollen, doch stattdessen saß er noch lange mit gekreuzten Beinen auf seinem Bett. Daß er Sarah liebte wußte er schon lange, doch wie unmöglich diese Liebe war, war ihm erst heute klar geworden. Sie würde ihr Leben auf der Erde nie eintauschen gegen ein Leben an seiner Seite. Ihr mußte schon länger klar geworden sein, daß sich diese Liebe nie erfüllen würde. Denn daß auch sie ihn liebte, das hatte er heute sehr wohl gemerkt. Und auch sie wollte ihn wiedersehen, wieder mit ihm sprechen. Sogar schon morgen. Und wahrscheinlich von nun an jeden Tag. Es war ein Teufelskreis. Sie liebten einander gegen jede Vernunft und konnten doch nicht voneinander lassen. Alles was er sich erhoffen konnte waren ein paar Augenblicke aus ihrem Leben, ein paar Einblicke in ihre Seele und ihr Herz. Mehr konnte er nicht von ihr verlangen. Mehr würde sie ihm auch nicht geben. Mit erschreckender Schärfe wurde ihm klar, daß es bei diesen Spiegelgesprächen bleiben würde. Nie wieder würde er sie berühren oder gar küssen können oder......
Er dachte daran, wie sie in ihrem Spitzennachthemd ausgesehen hatte und er spürte eine wilde Glut in sich aufsteigen. Einen kurzen Moment gab er sich diesem körperlichen Verlangen nach ihr hin, kostete den süßen Schmerz aus, doch dann unterdrückte er seine Begierde mit seiner ganzen Willensstärke. Es hatte keinen Sinn, nach etwas zu verlangen, daß er doch nie bekommen konnte. Er mußte nehmen, was sie zu geben bereit war. Glücklich werden konnte sie nur mit einem Mann, der wie sie auf der Erde lebte. Wenn dieser Zeitpunkt gekommen war, nun, dann mußte er eben gehen. Er würde ihrem Glück nie ihm Wege stehen, und wenn es ihm das Herz endgültig brach. Doch bis dahin würde sie ihm gehören.
"Life can be easy"
Kapitel 11
Die Tage vergingen in beruhigender Gleichförmigkeit, seit Sarah ihre Arbeit bei Amazing Advertising angetreten hatte. Sie warf sich jeden Morgen mit dem gleichen Elan in ihre Kleidung und auf ihre Arbeit. Der Job machte ihr verflixt viel Spaß auch wenn sie die erste Verschnaufpause erst gegen ein Uhr Mittags hatte, um kurz ein Sandwich zu sich zu nehmen und der Feierabend in der Regel erst nach 18 Uhr in Sicht war. Doch die Stimmung in ihrer Abteilung war locker, die Finanzlage der Firma sah rosig aus, sie waren alle jung und gesund und dazu bereit sich zu Tode zu schuften, wenn, ja wenn eine Beförderung oder ein besseres Gehalt oder auch nur eine hübschere Bilanz für die Firma dabei heraussprang. Sarah war nach der ersten Woche voll integriert, wobei sie es am angenehmsten empfand, daß niemand an ihrer Vergangenheit interessiert war. Tess, eine rundliche Blondine aus einer anderen Abteilung hatte ihr beim Mittagessen erklärt, warum das so war.
"Weißt du Sarah, natürlich haben wir alle noch irgendwo eine Familie sitzen, womöglich sogar eine Verlobten oder einen Ex-Mann oder Kinder. Aber wer will das schon wissen? Natürlich waren wir alle auf der High-School oder dem College. Na und? Wenn es dort, wo wir herkommen, tatsächlich so interessant gewesen wäre, wären wir dann hier? Nein! Wir leben nicht im gestern, Herzchen. Wir leben im Heute und wir genießen es. Und die Brötchen verdienen wir, indem wir das Morgen verkaufen!"
Sarah hatte zwar darüber gelacht, aber im Prinzip hatte Tess recht gehabt. Sie hatte nur eine etwas merkwürdige Art, sich auszudrücken. Es war auch angenehm, daß die Angestellten sich bei der Arbeit bestens verstanden, aber nach Feierabend ihre eignen Wege gingen. Um sich Abends auch noch zu treffen, dazu sah man sich tagsüber einfach zu lange. Sarah konnte das nur recht sein. An einigen Abenden ging sie noch einkaufen oder machte einen kleinen Schaufensterbummel. Bis sie dann nach hause kam war es schon spät genug um die Mikrowelle anzuwerfen und vor dem Fernseher noch etwas auszuspannen. An den Wochenenden machte sie oft lange Spaziergänge um sich die Beine etwas im voraus zu vertreten und sah sich ein bißchen die Stadt an. Ab und zu ging sie auch ins Kino, hatte aber sonst keine Verabredungen. Kurz: sie unterschied sich in nichts von einem berufstätigen weiblichen Single. Bis auf.... ja, bis auf den Moment an jedem Abend, an dem sie das Badezimmer verließ, bereits in Nachthemd oder Pyjama mit ihrem seidenen Morgenmantel darüber und sich bevor sie zu Bett ging noch vor ihre Frisierkommode setzte und nach Jareth rief. In dieser Hinsicht war ihr Leben einmalig.
Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht sich jeden Abend bevor sie zu Bett ging mit Jareth zu unterhalten. Sie bekam dadurch zwar weniger Schlaf als sie eigentlich gebraucht hätte, doch die Gespräche mit ihm gaben ihr jedesmal wieder neue Kraft und Zuversicht in ihre eigenen Fähigkeiten. Ohne ihn hätte sie die ersten Wochen nie so leicht überstanden. Sie wußte das. Sie legte auch nie die Kette mit dem Medaillon ab. Sie war zu ihrem Talisman geworden. Wenn sie von Zweifeln geplagt wurde rief sie sich immer ins Gedächtnis zurück, was sie in ihrem Leben bereits alles erreicht hatte. Die Kette war zu einem Symbol dafür geworden. Jareth hatte nie wieder ein Wort über sein Geschenk verloren, aber sie spürte, daß sein Blick jeden Abend nach dem Medaillon suchte und er jedesmal wieder erleichtert war, wenn er sah, daß sie es noch trug. Es tat so gut, ihm alles zu erzählen, über ihre Kindheit, ihre Mutter, die Schule und den neuen Job. Sie unterhielten sich über alles mögliche, ab und zu rutschen ihre Gespräche auch ins philosophische oder ins lächerliche ab. Doch beide erweiterten durch diese Unterhaltungen ihren Horizont und lernten viel voneinander.
Glücklicherweise drängten sich nur selten erotische Untertöne in ihre Gespräche, denn wenn dies einmal geschah, waren beide unangenehm davon berührt. Sie wußten, daß es besser für sie war, wenn sie nur Freunde blieben und nicht mehr. Doch die Spannung zwischen ihnen konnte man an manchen Abenden fast mit den Händen greifen.
Kapitel 12
"Jareth, ich muß dir noch etwas sagen."
Erstaunt sah er sie an. Was kam jetzt wohl?
"Ich kann dich morgen abend nicht sehen", ergänzte Sarah. "Morgen ist Halloween."
"Halloween? Ich glaube, ich verstehe den Zusammenhang nicht ganz.....wobei du dich natürlich nicht dafür entschuldigen mußt, daß wir uns einmal nicht sehen können." Er lächelte sie an. "Dies hier ist keine Verpflichtung. Und sollte es auch nie sein", fügte er etwas ernster hinzu.
"Verpflichtung? Nie im Leben!" entrüstete sich Sarah. "Es ist nur so.....ach, ist ja auch egal. Ich werde dir jetzt erklären was die ganze Sache mit Halloween zu tun hat."
"Ich bitte darum", erwiderte Jareth amüsiert.
"Die Sache ist die, daß unsere Firma jedes Jahr an Halloween mit Einladungen zu Party überschwemmt wird. Weil alle Einladungen von guten Kunden sind, muß einfach irgend jemand von uns hingehen. Mittlerweile hat es sich wohl eingebürgert, daß die Chefs sich die wirklich wichtigen Einladungen herauspicken und selbst hingehen, und die anderen werden unter allen Angestellten verlost."
Sarah erwartete sichtlich eine Reaktion auf ihre Erklärung und so sagte Jareth: "Klingt sehr amüsant."
"Amüsant? Diesen Zirkus findest du amüsant?" Sarah ärgerte sich. Jareth hatte schon immer gefunden, daß sie besonders niedlich aussah, wenn sie sich über etwas ärgerte, aber das konnte er ihr einfach nicht sagen.
"Wie dem auch sei - ich habe mir im Kostümverleih ein Kleid geholt und werde morgen abend bei Mister Millford erscheinen. Er macht in Bohnerwachs." Sie schnitt eine Grimasse.
"Ich wünsche dir trotzdem viel Spaß. Amüsier dich gut, bezaubere den Bohnerwachskönig und ziehe einen neuen Werbeauftrag an Land." Er lachte.
"Ach dummes Zeug." Doch sie mußte auch lachen. "Gute Nacht, Jareth."
"Gute Nacht."
Als Sarahs Bild im Zauberspiegel erloschen war lehnte sich Jareth nachdenklich in seinem Sessel zurück. Es wurmte ihn ein bißchen, daß sie ausging. Es war nicht so sehr die Tatsache, daß sie überhaupt ausging, es war nur so, wenn sie schon mit keinem anderen Mann verabredet war, dann wäre er schon gerne selbst mit ihr ausgegangen.
Halloween. Er schüttelte den Kopf. Die Menschen würde er nie völlig begreifen können. Eine magische Nacht, in der alle Grenzen verwischen und alles möglich war, nahmen sie alljährlich zum Anlaß für eine Art Karneval. Eigentlich sollten sie vor Ehrfurcht erzittern in diesen Nächten der dunklen Macht. Als junger König hatte er in diesen Nächten immer besonders viel Spaß gehabt. Doch die modernen Menschen konnte nichts mehr so leicht erschrecken. Er hätte dieses Jahr auch gar keinen Kopf dafür gehabt.
Halloween. Ein flüchtiger Einfall streifte seine Gedanken, doch er konnte ihn nicht fassen. Er hatte in einem Buch etwas darüber gelesen.... Er würde wohl in seiner Bibliothek danach suchen müssen, es ließ ihm ja sonst doch keine Ruhe.
Kapitel 13
Sarah stand alleine auf der Dachterasse von Mister Millfords schicker Penthouse-Wohnung und langweilte sich. Warum sie sich für diese Halloween-Party für ein Elfenkostüm entschieden hatte wußte sie wirklich nicht mehr. Sie führte nicht einmal mehr als Pluspunkt an, daß es ihr besonders gut stand. Der weite Rock war fast bodenlang und zackig ausgefranst. Die enge Korsage mit dem weiten Ausschnitt brachte ihre Figur besser zur Geltung als in ihren üblichen Bürokostümen. Die Ärmel waren durch halblange lose Stoffstreifen ersetzt und flatterten sacht bei jeder Bewegung. Die Grundfarbe war ein zartes hellgrün, doch je nach Lichteinfall schillerte es silbern auf. Auch die zierlichen Elfenflügel auf ihrem Rücken schimmerten silbern. Eine Maske trug sie nicht, wohl aber einen silbernen Fächer. Ihre Haare hatte sie stundenlang mit dem Lockenstab bearbeitet und eine wundervolle Hochfrisur gezaubert. Doch nun fand sie sich einfach nur einfallslos und altmodisch. Gereizt starrte sie auf die umliegenden Häuser. Halloween. Was für ein Blödsinn! Dachte sie ärgerlich. Sie hatte doch gleich gewußt, daß sie sich hier nicht amüsieren würde. Resigniert sah sie auf ihre Uhr. Erst zehn! Sie seufzte. Anständigerweise konnte sie sich vor Mitternacht schlecht verabschieden. Mist! Sie beschloß noch ein paar Minuten auf der Terrasse zu bleiben und sich dann wieder mit neuem Schwung ins Getümmel der 80 oder 90 anderen Gäste zu stürzen, die sich alle nicht kannten und die sich wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben nie wieder treffen würden.
Auf einmal spürte sie, daß sie nicht mehr allein auf der Terrasse stand.
Langsam straffte sie ihren Körper und drehte sich um. Sie lächelte. Denn noch bevor sie ihn sah, hatte sie gewußt, daß er es war.
Jareth.
Sein Kostüm war in allen Schattierungen von weiß und hellgrau gehalten. Eine weiße Eulen-Halbmaske an einem Stab verdeckte sein Gesicht, doch sie mußte ihn nicht sehen um sich von seiner Anwesenheit zu überzeugen. Er sah umwerfend aus in seinen schmalen Frackhosen, den Halbstiefeln und der Pailletten-Weste. Sein knielanges Cape trug er schräg über einer Schulter. Die Kette, die es hielt, spannte sich diagonal über seiner Hemdbrust und schimmerte im Mondlicht silbern. In den Falten seines Halstuches glitzerte eine silberne Krawattennadel.
In diesem Moment fühlte sie sich wieder lebendig bis in ihre Fingerspitzen.
Jareths Glück war vollkommen. Ihr Lächeln verhieß ihm mehr als eine freundliche Begrüßung. Wie sie so im sanften Licht des Vollmondes vor ihm stand war sie für ihn die Erfüllung all seiner Träume. Während er ihre Erscheinung noch aufmerksam betrachtete bemerkte er wie sie sich veränderte. Ihre Augen leuchteten klarer, ihre Wangen waren rosiger, sogar die Farbe ihrer Aura wechselte von einer Sekunde auf die andere. Jareth lief dabei ein wohliger Schauer den Rücken hinab. Heute nacht war mehr Magie in ihr, als für sie beide gut sein konnte. Doch zum Teufel damit!
Halloween war nicht die Nacht für Skrupel oder Moral.
Mit diesen Gedanken ging er auf Sarah zu, die ihn strahlend erwartete.
"Das ist doch nur ein Traum", flüsterte sie ihm zu.
Er senkte die Eulen-Maske und blickte sie mit einer Intensität an, die sie erschauern ließ.
"Nein, es ist kein Traum. Es ist alles wirklich", flüsterte er genauso leise zurück. Etwas lauter sagte er dann: " Miss Williams, war für eine angenehme Überraschung."
Dabei bückte er sich über ihre Hand und hauchte einen eleganten Kuß darauf. Im ersten Augenblick war Sarah nahe daran, die Fassung zu verlieren, doch dann begriff sie sehr rasch, daß sie Jareth vor den anderen Gästen eine Art Alibi liefern mußte. Wie aufregend! Schließlich waren sie heute nacht nicht alleine auf diesem Planeten. So schüttelte sie ihm artig die Hand und richtete einige passende Worte an ihn: " Mister... Mister King. Ich hatte keine Ahnung, daß sie sich in Phoenix aufhalten.
Eine angenehme Überraschung. In der Tat." Ihre Augen tanzten, denn sie spürte mehr, als daß sie es sah, daß "Mr. King" nahe dran war, vor unterdrücktem Lachen zu platzen. Er hatte sich jedoch schnell wieder unter Kontrolle. Keine Sekunde zu früh, dachte Sarah, denn diesen Moment hatte ihr Gastgeber ausgewählt um auf der Terrasse zu erscheinen. Sarah atmete tief durch und übernahm die Aufgabe die Herren einander vorzustellen.
"Mr. Millford, darf ich Ihnen einen meiner Bekannten vorstellen? Mr. King ist zur Zeit auf Durchreise in Phoenix. Mr. King - Mr. Millford."
Mr. Millford hatte bereits vor Tagen den Überblick über seine Gästeliste verloren. Zu diesem Zeitpunkt hätte sich unerkannt das halbe Pentagon unter seine Gäste mischen können, ohne daß ihm etwas aufgefallen wäre. Sarah allerdings hätte er sogar unter tausenden wiedererkannt. Ihr war das Kunststückchen gelungen, seine - in Bezug auf Frauen - sehr wählerische Aufmerksamkeit für mehr als 30 Sekunden zu fesseln. Er hatte sich geschworen, sich dieses Appettithäppchen, wie er sie im Stillen nannte, nicht von jemand anders wegessen zu lassen. Doch nun war dieser dubiose Bekannte von ihr auf seiner Party aufgetaucht und brachte ihm sein Konzept gehörig durcheinander. Mr. Millford war wild entschlossen herauszufinden, ob er wirklich nur ihr Bekannter war oder nicht.
"Mr. King, woher kennen Sie denn Miss Williams?"
Bevor Jareth noch auf Millfords hinterhältige Frage antworten konnte, warf sich Sarah in die Bresche.
"Oh, Mr. King hielt an meiner Schule einige Vorträge über britische Literatur." Nach einer kleinen Pause fügte sie noch schamlos hinzu: "Er war zudem so freundlich mir damals einige Nachhilfestunden zu geben, die ich dringend nötig hatte."
Jareth hielt sich die Eulenmaske schräg vor sein Gesicht, damit nicht zu sehen war, wie er sich auf die Lippe biß um nicht laut herauszulachen.
Mr. Millford war von ihrer Offenheit peinlich berührt und verabschiedete sich hastig.
"Ach, von der Schule her, naja.... äh...... wir sehen uns ja noch Miss Williams, Mr. King. Amüsieren sie sich noch gut."
Kaum war ihr Gastgeber im Haus verschwunden ließ Jareth seiner aufgestauten Heiterkeit freien Lauf.
"Meine entzückende Elfe! Findest du nicht, du hättest etwas zartfühlender mit deinem Gastgeber umspringen können? Meine Güte, ich hätte nie gedacht, daß du einen Mann so kurz abfertigen könntest, mein liebes Entzücken."
Sarah sog seine Koseworte in sich auf wie ein Schwamm. Es war Balsam für ihre Seele. Um sich nichts davon anmerken zu lassen antwortete sie recht obenhin.
"Meinst du wirklich, ich war zu grob zu ihm? Dann muß ich es wieder gutmachen."
"Später, meine entzückende Elfe, später. Erst möchte ich dich um diesen Tanz bitten. Darf ich?"
Galant reichte er ihr den Arm. Sanft legte sie ihre Finger in seine Armbeuge.
Dabei fing ihr Herz an ungehörig zu klopfen. Sie glaubte schon, auch er müsse es hören, so laut erschien es ihr.
"Nur dieser eine Tanz?"
"Alle Tänze dieser Nacht, wenn du es wünscht, meine Schöne."
"Jareth, du darfst nicht so viel dummes Zeug reden. Ich könnte es schließlich glauben, und mir den Kopf davon verdrehen lassen", beschwerte sie sich leise. Insgeheim hoffte sie jedoch er möge nie damit aufhören. Niemals!
"Nun ja, ein oder zwei Tänze solltest du mit deinem Gastgeber absolvieren und wieder etwas Öl auf die Wogen gießen. Es sollte mich nicht wundern, wenn du ihm dabei sogar noch einen Werbeauftrag abschwatzt."
Mit einem fröhlichen Lachen zog er sie mit sich auf die Tanzfläche.
Sie tanzten die halbe Nacht miteinander. Dazwischen trat Jareth tatsächlich einige Tänze an Mr. Millford ab und beobachtete amüsiert, wie seine entzückende Elfe ihm in der Tat sogar zwei Aufträge abschmeichelte. Während des nächsten Tanzes berichtete sie ihm, wie einfach es gewesen war den armen Mr. Millford um den kleinen Finger zu wickeln und zu ihrer großen Freude flüsterte er ihr daraufhin ins Ohr, daß er sehr stolz auf sie sei. Als sein Atem dabei ihren Hals streifte, atmete sie rascher und ihr Busen hob und senkte sich wie unter einer großen körperlichen Anstrengung. In dieser Stimmung befand sie sich noch immer, als der Bandleader der Tanzkapelle einige Damen dazu animieren wollte, auf die improvisierte Bühne zu kommen und ein oder zwei Lieder zu singen. Sarah war die erste, die er dazu aufforderte. Unter normalen Umständen hätte sie sich geziert und zu Tode geschämt. Doch Jareths Nähe wirkte auf sie berauschender als eine ganze Flasche Sekt und so entschied sie sich spontan und zur Begeisterung aller Gäste dem Bandleader auf die Bühne zu folgen.
Jareth lauschte ihr wie verzaubert. Er hatte sie bislang noch nie singen gehört. Was ihr an Stimme fehlte machte sie durch Gefühl wieder wett. Sie sang "everybody loves somebody sometimes" mit viel Tremolo und Schmalz, wie Dean Martin es vorgegeben hatte. Aber Jareth wußte, daß sie es nur für ihn sang.
everybody loves somebody sometimes
everybody falls in love somehow
something in your kiss just told me
my sometime is now
everybody finds somebody someplaces
there´s no telling where love may appear
something in my heart keeps telling
my someplace is here
and if I had it in my power
I would arange for every boy
to have your charme
and then every minute every hour
every girl would find what I found in your heart
everybody loves somebody sometime
and although my dream was overdue
your love made it well worth waiting
for someone like you...
Der letzte Akkord verklang und Menge beklatschte Sarah wie verrückt. Ihr Vortrag war melodisch gewesen und Erscheinung bezaubernd. Nach ihr wagte sich keine der anwesenden Damen mehr auf die Bühne. Der Bandleader gab es schließlich auf, er wollte sich gerade noch einmal an Sarah um ein zweites Lied wenden, da war sie auch schon verschwunden.
"Don't tell me truth hurts"
Kapitel 14
Sarah und Jareth spazierten durch den nächtlichen Park. Sie hatte sich bei ihm eingehakt und lehnte ihren Kopf leicht an seine Schulter.
"Hat dir das Lied gefallen?" brach sie schließlich das Schweigen.
"Es war sehr....passend. Ich danke dir. Ich fand es wunderschön. Warum wolltest du gleich darauf die Party verlassen?"
"Es ist doch schon so spät. Fast schon drei Uhr morgens." Sie sah zu ihm auf und wußte, daß er ihr nicht glaubte. "Ich wollte noch ein bißchen mit dir allein sein", gab sie schließlich zu.
Wieder herrschte Schweigen zwischen ihnen, bis er stehen blieb und sie zu sich herumdrehte. Sanft legte er ihr beide Hände auf die Schultern.
"Sag mir die Wahrheit, Sarah. Bist du mir sehr böse, daß ich so einfach aufgetaucht bin?" Er sprach mit großem Ernst.
"Böse? Jareth, ich war nie im Leben froher, dich zu sehen. Ich.......ich hatte es mir mehr als alles auf der Welt gewünscht...." ihre Stimme erstarb zu einem Flüstern. Dann runzelte sie die Stirn. " Wie hast du das eigentlich gemacht? Wie ist es dir gelungen, hier zu erscheinen? Ich dachte immer, das geht nicht so einfach."
Was war sie doch für ein kapriziöses Geschöpfchen. Er sah sie amüsiert an.
"An Halloween verschwimmen die Grenzen", antwortete er ausweichend. "Alles ist erfüllt von Magie und Zauber. Mehr kann ich dir leider nicht sagen. Und du bist mir wirklich nicht böse?"
"Jareth, jetzt wirst du albern. Ich habe dir doch schon gesagt, daß ich dir nicht böse bin. Ich habe mich sogar sehr gefreut. Wenn du vielleicht befürchtest, daß du mich erschreckt haben könntest, sogar da kann ich dich beruhigen. Wie könnte ich mich vor einem Freund fürchten." Sie ging einige Schritte weiter, doch als er ihr nicht folgte blieb sie stehen und drehte sich wieder nach ihm um. Seine Haltung war nicht zu deuten und sein Gesichtsausdruck jagte ihr doch so etwas wie Angst ein.
"Freunde." Seine Stimme klang seltsam tonlos.
Sarah ging auf ihn zu.
"Wir- wir sind doch Freunde, oder?" Ihre Stimme zitterte. Unsicher blieb sie vor ihm stehen und sah im in die Augen. Doch er sah sie gar nicht. Er blickte in eine Welt zu der sie keinen Zugang hatte. Nervös redete sie weiter: "Wir sind doch keine Feinde mehr. Jareth! Da ist doch nichts mehr, was uns trennt. Ich dachte, du hättest mir deine Freundschaft angeboten." Ihre Augen füllten sich bereits mit Tränen.
Endlich senkte er seinen Blick und sah sie an. Seine Augen blickten tief in ihre Seele und in ihr Herz hinab.
"Sarah.....wenn ich nur den Hauch einer Chance für uns sehen würde.....dann......dann hätte ich dir meine ganze Liebe angeboten. Liebe......Sarah. Nicht Freundschaft."
Ihre Lippen hatten sich leicht geöffnet und formten nun ein stummes Oh. Ihre Augen schwammen in Tränen.
Jareth wußte kaum noch, was er tat und so sprach er weiter.
"Sarah, ich liebe dich. Ich liebte dich vom ersten Augenblick an. Ich war nur zu dumm um es zu begreifen. Sarah, ich liebe dich von ganzem Herzen...." Er stockte, als er sah, daß sie weinte. Die Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln über die Wange hinab und jede Träne glitzerte im Mondlicht wie ein Diamant.
"Wenn du wüßtest, wie lange ich darauf gewartet habe diese Worte von dir zu hören.... Oh, Jareth, ich gehöre zu dir. Ich liebe dich schon so lange. Schon ewig", schluchzte sie.
"Mein Liebling." Er schloß sie stürmisch in seine Arme. Warum nur konnte dieser Moment nicht ewig dauern!
"Jareth, du machst mich so glücklich." Sie hatte aufgehört zu weinen und schmiegte sich nun noch etwas enger an ihn. Als seine Lippen einen Kuß auf ihre Locken hauchten, schloß sie beseligt die Augen und hob ihm ihr Gesicht ein kleines bißchen entgegen. Doch anstatt sie zu küssen, lockerte er seine Umarmung und nahm sie bei der Hand.
"Ich habe da hinten eine Parkbank gesehen. Es wäre besser, wenn wir uns einen Augenblick setzten. Wir haben einiges zu besprechen." Er versuchte, diesen Worten einen festen Klang zu geben, doch sogar ihm selbst fiel auf, daß seine Stimme vor Erregung heiser war.
Enttäuscht ließ sich Sarah von ihm zu der Bank führen, wo sie nebeneinander Platz nahmen. Jareth hielt ihre Hände immer noch fest, geradeso als wollte er verhindern, daß sie ihm um den Hals fiel. Genau das war auch seine Absicht. Er räusperte sich.
"Was ich gesagt habe, hätte ich nie sagen dürfen - widersprich mir bitte nicht - du weißt genausogut wie ich, daß wir unsere Liebe zueinander nie hätten erwähnen dürfen. Ich habe es bereits vorhin gesagt: wir haben keine gemeinsame Zukunft vor uns. Was ich getan und gesagt habe ist unverzeihlich. Ich habe die Beherrschung verloren und dafür gibt es keine Entschuldigung." Er unterbrach sich und lächelte melancholisch, während sich in ihren Gesichtszügen die Enttäuschung immer deutlicher ablesen ließ. Er schüttelte den Kopf. "keine Entschuldigung, außer, daß meine Liebe die Grenzen des Erträglichen weit überschritten hat. Kannst du mir noch einmal verzeihen?"
Seine Demut ihr gegenüber war fast zuviel für sie. Traurig senkte sie den Blick auf ihre ineinanderverschlungenen Hände.
"Wie sollte ich dir nicht verzeihen? Ich liebe dich doch. Und wenn es ein Verbrechen sein sollte, dies zu sagen, dann habe ich mich des gleichen Verbrechens schuldig gemacht. Das Schlimmste daran ist, ich weiß daß du recht hast. Mit allem was du gerade gesagt hast. Wir haben keine Zukunft. Ich fürchte wir haben uns etwas vorgemacht. Wir dachten, es könnte ewig so weitergehen. Aber es klappt nicht.
Wir wollen einander zu sehr, als daß wir aufeinander verzichten könnten." Zaghaft sah sie zu ihm auf. "Oder gibt es doch eine Möglichkeit für uns?"
Er schüttelte verneinend den Kopf.
"Das ist nicht fair." Um ihre Lippen spielte ein wehmütiges Lächeln. "Kannst du mich nicht mit zu dir nehmen?"
"Das könnte ich schon - nur - es wäre nicht richtig.... und wenn du ehrlich bist , ist es auch nicht das was du wirklich willst."
"Ich will dich!"
"Es ist nicht sehr vernünftig, was ich dir gleich vorschlagen werde, aber es ist die einzige Möglichkeit unserem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen."
Blitzartig kehrte die Hoffnung in ihre Augen zurück. "Sag es mir!"
"Wir könnten uns eine Nacht im Jahr sehen. An Halloween. Es ist alles, was wir dem Schicksal abtrotzen können. Eine Nacht für unsere Liebe. Nicht mehr und nicht weniger." Seine Stimme hatte kühl geklungen. Er wollte sie nicht überreden. Diese Sache mußte sie selbst entscheiden. Er war sowieso nicht mehr zurechnungsfähig.
Wäre er nur heut nacht nicht auf die Erde gekommen, wäre er nur nicht - ach - wäre doch ewig Halloween.....
Bestürzt sah sie ihn an. "Eine Nacht im Jahr?" Er nickte. Dann versank sie in Schweigen. Sie versuchte krampfhaft zu überlegen. Gab es eine vernünftige Lösung für dieses Dilemma? Doch so sehr sie auch versuchte sich zu konzentrieren, ihre Gedanken wirbelten aufs anmutigste durcheinander und nach einer Weile gab sie es auf, diese Frage mit ihrer Vernunft zu beantworten. Sie folgte ihrem Herzen.
"Jareth, ich weiß, daß es unvernünftig ist - aber ich will es so sehr!" In ihrem Herzen brannte die Flamme der Leidenschaft, deren Widerschein in ihren Augen aufloderte.
Jareths Erregung wurde durch diese Glut in ihren Augen neu angefacht und er schloß sie erneut in seine Arme.
"Es ist sogar ganz entsetzlich unvernünftig - aber ich will es auch - mehr als alles auf der Welt."
Ihre Lippen bebten und ihr Gesicht hob sich ihm ein zweites Mal erwartungsvoll entgegen. Dieses Mal konnte er ihr nicht mehr widerstehen. Sein Mund näherte sich ihren Lippen. Er wollte diesen herrlichen Augenblick voll auskosten und so hauchte er erst einen Kuß auf ihre Wange und auf ihren Mundwinkel. Ihr Körper bog sich ihm entgegen und erst jetzt verschloß er ihre anbetungswürdigen Lippen mit einem Kuß.
Sie küßten sich zärtlich, ohne Hast und Erregung. Lange genossen sie dieses Gefühl der Erlösung, das sie beide befiel, als ihre jahrelangen Träume endlich Wirklichkeit geworden waren. Endlos lagen sie einander in den Armen, tranken ihre Küsse und vergaßen ihr trauriges Schicksal für die Dauer dieses Kusses. Sie teilten sich ihre Ängste und Sehnsüchte durch ihre Liebkosungen mit, ihre Wünsche und ihre Wut. Doch Sarah erfuhr noch etwas anderes. Dies waren eindeutig die ersten Küsse, die Jareth je in seinem Leben gegeben und empfangen hatte. Dieses Wissen verursachte in ihr ein zusätzliches Prickeln, doch sie beschloß noch im gleichen Moment, dieses Wissen wie einen kostbaren Schatz im tiefsten Versteck ihres Herzens aufzubewahren. Allmählich wurden seine Küsse fordernder und sie gab ihm nur allzu bereitwillig nach. Er bedeckte ihren Nacken mit feurigen Liebkosungen, bis sie vor Wonne seufzte. Ihre schlanken Hände streichelten seinen Nacken hinauf, was bei ihm nie gekannte Empfindungen auslöste. Ihre Fingernägel zogen leichte Spuren auf seiner Hemdbrust und ein heißer Schauer lief ihm den Rücken hinab.
Wie lange sie diese Zärtlichkeiten genossen, wußten beide nicht mehr zu sagen.
Viel später saßen sie immer noch auf der Parkbank. Jareth hatte seinen Kopf auf ihren Schoß gelegt und ließ es willig geschehen, daß sie mit einem Finger seine Gesichtszüge nachzeichnete. Besonders gefiel es ihm, wenn sie mit ihrem Fingernagel seinen Mund entlangfuhr. Versonnen sahen sie einander in die Augen.
Doch Jareth sah noch etwas anderes. Er sah den Morgen heraufdämmern. Er mußte gehen, bevor die Sonne aufging. Wer wußte, welche Schäden sein Fortbleiben in dieser Nacht in seinem Reich bereits verursacht hatte. Er durfte auf keine Fall nach Sonnenaufgang noch auf der Erde sein. Das Magische Gleichgewicht seines Reiches war selbst nach dieser langen Zeit nach Sarahs Besuch immer noch nicht so stabil wie er es sich gewünscht hätte. So schwer es ihm auch fiel, er fing ihre Hand auf ihrem Spaziergang ein und setzte sich auf.
"Ich muß gehen, meine kleine Elfe."
"Ja, das dachte ich mir - vor Sonnenaufgang?"
"Ja. Ich bringe dich noch zu deiner Wohnung. Ich könnte deinen Balkon benutzen, um mich zu verwandeln."
"Wieso? Ist es dann einfacher?"
"Nein", lachte er, "Ich habe nur einen leichteren Start."
Zu ihrer Wohnung war es glücklicherweise nicht mehr weit. Sie schritten zügig aus und erreichten das Haus noch rechtzeitig. Der Abschied auf ihrem Balkon fiel gezwungenermaßen etwas flüchtig aus, denn Jareth mußte sich nun doch beeilen. Er küßte sie noch einmal und schwang sich auf die Balkonbrüstung. Im selben Augenblick war er verschwunden und an seiner Stelle saß eine weiße Eule, die erst nach Osten blickte, und dann den Kopf zu Sarah drehte. Die Eule blinzelte einmal, spreizte ihre Flügel und flog gleich darauf der aufgehenden Sonne zu, bis sie vollständig verschwunden war. Sarah starrte noch lange in die rote Morgensonne, erst als sie nichts mehr erkennen konnte ging sie endlich zu Bett. Gottseidank war der Tag nach Halloween bei ihrer Firma arbeitsfrei.
Kapitel 15
In seinem Schlafzimmer angelangt verwandelte sich Jareth wieder in seine menschliche Gestalt zurück. Er hatte erst einen Rundflug über sein Reich unternommen um die Schäden abzuschätzen, die durch seine Abwesenheit entstanden waren. Zu seiner großen Erleichterung war es nicht zu größeren Vorfällen gekommen. Seine bloße Anwesenheit hatte bereits genügt um alles wieder in Ordnung zu bringen. Nach dieser Inspektion hatte er unbesorgt ins Schloß fliegen können. Jetzt war sein Kopf wieder frei für andere Gedanken, Träume und - Sorgen.
Wollte er in diesem Moment überhaupt an sie denken? Vielleicht sollte er besser zu Bett gehen um noch etwas zu schlafen, denn wer wußte schon, wann sie ihn wieder rief? Doch wenn er ehrlich war, wollte er eigentlich nicht zu Bett gehen, dort würde er ja doch nur ihr Portrait anstarren, bis schließlich vor lauter Sehnsucht nach ihr an Schlaf gar nicht mehr zu denken war. Ärgerlich runzelte er die Stirn und sah an die Wand hinüber, an der ihr Bild hing. Sofort wurde sein Gesichtsausdruck wieder weich und er dachte versonnen darüber nach, daß er in dieser Nacht zumindest einen Teil seiner Jungfräulichkeit verloren hatte. Er war sich fast sicher, daß es für sie nicht der erste Kuß in ihrem Leben gewesen war und sie deshalb sicher gemerkt hatte, wie es um ihn stand... doch darüber machte er sich wirklich keine Sorgen. Es war so aufregend gewesen. Seine Hormone schlugen noch immer Salto wenn er sich ihre Berührungen ins Gedächtnis zurückrief. Auf diese Art war er eben doch nur ein ganz normaler Mann, was ihn nicht weiter verwunderte. Er wußte ja, daß er menschlicher Abstammung war. Da war es nur selbstverständlich, daß er in dieser Hinsicht die gleichen Bedürfnisse verspürte, wie irgendein anderer verliebter Mann auf der Erde.
Wenn er nur wüßte, ob sich ihm je die Gelegenheit bieten würde, diese Bedürfnisse auch zu befriedigen... Mit aller Gewalt riß er sich von diesen Gedankengängen los. Sie führten ja doch zu nichts, außer zu Erregung und Verwirrung. Es war sicher besser, wenn er sich ein wenig ablenkte. Am besten mit Arbeit!
Vorsichtig zog er seine Ballkleidung aus und hängte sie sorgfältig in seinen Kleiderschrank. Dann wählte er braune Hosen, ein weißes Hemd und eine braune Lederjacke als Kleidung für den heutigen Tag aus und begab sich schließlich in sein Arbeitszimmer um sich abzulenken. Doch sein Schreibtisch war leer. Er hatte sich seit Sarah in Phoenix lebte, angewöhnt, abends noch zwei, drei Stunden an seinem Schreibtisch zu arbeiten, damit ihm die Zeit nicht lang wurde, bis sie ihn zu seinem Zauberspiegel rief. In diesen Wochen hatte er also nicht nur die laufenden Geschäfte erledigt sondern auch alle anderen Dinge erledigt, die teilweise schon seit Jahren darauf warteten. Der Anblick seines leeren Schreibtisches verblüffte ihn so, daß er in lautes Gelächter ausbrach. Ein leerer Schreibtisch! Das war während seiner ganzen Zeit als König nicht vorgekommen. Sarah hatte ihn sehr verändert. Sie tat ihm verdammt gut. Vielleicht würde aus ihm ja nicht nur ein mächtiger und gefürchteter König sonder auch noch ein guter Herrscher. Tandor hätte das auf jeden Fall sehr gefallen. Er hing den Erinnerungen an Tandor noch ein bißchen nach, bevor er überlegte, womit er sich dann ablenken könnte, wenn schon nicht mit Papierkram.
Da hatte er eine Idee. Schnell holte er noch ein schwarzes, bodenlanges Cape und einen kurzen Stab mit einem Knauf aus Halbedelsteinen, der ihm ein ungemein würdiges Auftreten verschaffte. Er hatte beschlossen, die Stadttorwache zu inspizieren. Er verließ seine Gemächer und rief auf dem Weg in den Thronsaal seine Eskorte zu sich.
"Wache!! Ich brauche eine Eskorte!! Aber ein bißchen plötzlich!" Eilig rannten aus allen Ecken Kobolde hinter ihrem König her in den Thronsaal und stellten sich in einer Reihe auf. Jareth wählte fünf von ihnen aus und bedeutete ihnen mit einem Wink, ihm zu folgen. "Ich werde heute die Stadttorwache inspizieren", teilte er ihnen beim Verlassen des Schlosses mit.
Sie legten den Weg bis zum Stadttor ohne Zwischenfälle zurück. Die Kobolde, die Jareths Eskorte bildeten, rempelten sich nicht an, stritten nicht miteinander und forderten auch keine anderen Kobolde, denen sie begegneten zu irgendwelchen Dummheiten heraus. Kurz, sie benahmen sich in allem so, wie sich eine Eskorte zu benehmen hatte. Jareth war wirklich verblüfft. Er befürchtete allerdings gleichzeitig, daß dieser mustergültige Zustand nicht von Dauer sein konnte, deshalb erwartete er bereits für die nahe Zukunft einiges an Katastrophen. In der Nähe des Tores angekommen, wandten sie sich nach links, wo sich die Gebäude der Wache und das Wohnhaus ihres Hauptmanns befanden. Der neue Hauptmann der Stadttorwache war einer der Gründe warum Jareth bei seiner Inspektion bewußt als König auftrat. Der kleine Sir Dydimus hatte nun mal sehr strenge Vorstellungen von Rittern und Königen. Es war besser, ihn nicht zu enttäuschen. Niemand konnte voraussagen, ob seine Loyalität dadurch nicht ins Schwanken geraten konnte und einen schwankenden Hauptmann konnte sich Jareth nun wirklich nicht leisten. Auf dem Hof der Wache war niemand zu sehen und so bedeutet Jareth einem seiner Kobolde ihn anzumelden. Es war erstaunlich, dem kleinen Kerl dabei zuzusehen, denn ihm unterlief kein einziger Fehler. Nach Erhalt der Anweisung verbeugte er sich vor seinem König, drehte sich um und ging - ohne zu stolpern - zum Haus des Hauptmanns. Dort klopfte er an die Tür, ohne sie zu beschädigen und meldete Sir Dydimus sobald dieser die Tür öffnete die Anwesenheit seiner Majestät ohne zu stottern. Jareth überlegte sich ernsthaft, ob der kleine Kobold dafür eine Belohnung verdient hätte, er entschied sich schließlich dagegen. Die korrekte Ausführung eines Befehls sollte eine Selbstverständlichkeit sein und keine herausragende Leistung.
Geduldig wartete er das Ende der weitschweifenden Begrüßung durch Sir Dydimus ab.
"Eure Majestät! Welch angenehme Überraschung!" Sir Dydimus zog seinen Hut um sich anmutig vor seinem König zu verneigen. "Ich kann Euch gar nicht genug versichern wie geehrt ich mich durch Euren Besuch fühle. Womit kann ich Euch dienen, mein König? Mein Schwert steht zu Eurer Verfügung."
"Erhebt Euch, Sir Dydimus. Ihr könnt mir wahrhaftig dienlich sein. Ich hege das Vorhaben, Eure Einheit zu inspizieren. Mir kam heute der Gedanke, es wäre an der Zeit dafür." Jareth paßte sich der gestelzten Ausdrucksweise seines Hauptmannes vor allem deshalb an, um seine Gefühle nicht zu verletzten, andererseits hatte eine gewisse Etikette und die Einhaltung eines militärischen Protokolls noch niemandem geschadet.
"Eine wahrhaft kluge Entscheidung, Majestät", versicherte Sir Dydimus unter weiteren Verbeugungen. "Tatsächlich habe ich Euren Besuch bereits täglich erwartet. Ich hoffe, was Ihr hier vorfindet, wird Euren hohen Erwartungen entsprechen."
Jareth unterdrückte ein sehr unkönigliches Grinsen. Hohe Erwartungen! Wohl kaum. Schließlich kannte er seine Kobolde. Die Frage bei dieser Inspektion war lediglich wie unfähig sie tatsächlich waren.
"Wenn Ihr mir bitte folgen wollt, Majestät, dann lasse ich einen Teil der Wachen auf dem Hof etwas exerzieren." Mit einer besonders anmutigen Verbeugung wies Sir Dydimus seinem König den Weg zum Exerzierplatz, oder den Hinterhof, der in Ermangelung eines anderen Geländes eben als Exerzierplatz herhalten mußte. Sir Dydimus war mit diesem Zustand alles andere als zufrieden und war daher wild entschlossen, den Besuch des Königs zu nutzen, um einige der Dinge zur Sprache zu bringen, die seinen Erwartungen nicht gerecht wurden und ihn störten.
Ein Wink des Hauptmanns genügte, um Jareth eine Sitzgelegenheit an der Schmalseite des Platzes zu verschaffen. Der König registrierte dies mit Genugtuung.
Der kleine Hauptmann hatte seine Wache offenbar besser im Griff als alle seine Vorgänger. Die exerzierenden Wachen vollbrachten zwar keine Wunder, aber Jareth war mehr als zufrieden. Das hatte er wirklich nicht erwartet. Es drängte ihn einige Worte mit seinem Hauptmann alleine zu wechseln und er wußte auch schon, wie er das bewerkstelligen konnte.
Er neigte sich ihm vertraulich zu und dämpfte seine Stimme. "Ich würde mir gerne ein Bild über den Zustand unserer Befestigungsanlagen machen. Würdet Ihr mich wohl auf die Stadtmauer begleiten, Hauptmann?"
Sir Dydimus schwoll die Brust fast vor Stolz. "Es ist mir eine Ehre, Euer Majestät."
"Schickt meine Eskorte bitte weg, Hauptmann, ich komme jetzt allein zurecht." Mit diesen Worten erhob er sich von seiner Sitzgelegenheit und wandte sich zielstrebig und - wie er selbst fand - sehr hoheitsvoll dem Stadttor zu. Sir Dydimus tat sein möglichstes um mit seinem König Schritt zu halten und gleichzeitig die entsprechenden Befehle zu erteilen. Als Jareth am Stadttor angelangt war, befand sich der Hauptmann tatsächlich dicht auf seinen Fersen. Nacheinander bestiegen sie die schmalen Treppen, die an der Rückseite des Stadttores auf die Stadtmauer hinaufführten. Dort ging Jareth schweigend voraus, wobei er nachdenklich die Hände auf den Rücken gelegt hatte und beim Gehen mit seinem Stock gegen seine Waden klopfte. Schließlich räusperte sich Sir Dydimus.
"Euer Majestät, das heutige Schauspiel auf dem Exerzierplatz war schlichtweg unwürdig. Ich kann nichts anderes tun, als Euer Majestät dafür um Verzeihung zu bitten und meine Demission anzunehmen."
Abrupt wirbelte Jareth herum.
"Eure Demission? Ihr scherzt! Ich dachte eher daran Euch zu belohnen. Die Soldaten parieren unter Eurer Führung besser denn je. Eine Beförderung wäre angebracht. Eure Demission ist abgelehnt", erklärte er kategorisch.
Sir Dydimus seufzte ergeben. "Wenn es Euer Wunsch ist einen Unwürdigen zu belohnen..."
"Ja, ja, schon gut", unterbrach ihn Jareth ungeduldig. "Wurde Gigantus eigentlich
jemals repariert?"
"Nein. Euer Majestät haben nie den Befehl dazu gegeben."
"Stimmt - was meint Ihr dazu? Sollte er wieder in Betrieb genommen werden?"
Sir Dydimus hätte sich zu gern vor dieser Antwort gedrückt doch dies ließ wiederum sein ritterlicher Ehrenkodex nicht zu. Er wurde zwar etwas blasser um die Nase herum, doch er antwortete seinem König nach einigem Zaudern mit fester Stimme.
"Ich glaube nicht, daß Gigantus eine lohnende Investition war. Ich war selbst dabei, als er bezwungen wurde. Eine Verstärkung der Wache ist durchaus sinnvoller, als diese Maschine."
"Richtig, Sir Dydimus. Ich hatte fast vergessen, daß ihr bei der großen Schlacht mitgekämpft habt. Wollen wir uns nicht einen Moment setzen?"
Jareth nahm kurzerhand auf der Krone der Stadtmauer Platz und ließ die Beine an der Außenseite herunterhängen. Als ganz junger Prinz war er oft so dagesessen.... wie lange das schon her war.... "Die Stadtmauern scheinen allerdings in einem guten Zustand zu sein", nahm er das Gespräch wieder auf, als sich auch Sir Dydimus neben ihm plaziert hatte. "Ich werde darüber hinaus immer ein offenes Ohr für Eure Vorschläge haben. Das solltet Ihr wissen, Sir Dydimus."
So sehr Sir Dydimus auf ein solches Lob gehofft hatte, so sehr war es ihm nun unangenehm.
"Ich fürchte, ich habe das Wohlwollen Eurer Majestät nicht verdient. Wie Ihr ganz richtig bemerktet, habe ich in der Schlacht mitgekämpft - aber nicht an der Seite Eurer Majestät."
Jareth machte eine wegwerfende Handbewegung. "Das weiß ich doch alles, Sir Dydimus. Ich weiß, daß Ihr für die Farben einer Lady gekämpft habt und ich muß leider zugegeben, daß ich Euch mittlerweile verstehen kann." Er unterbrach sich kurz um sich Sarahs Bild ins Gedächtnis zurückzurufen und fuhr dann fort: "Nichtsdestoweniger habt Ihr tapfer gekämpft. Für diese Tapferkeit seid Ihr mit Eurer derzeitigen Position belohnt worden."
Sir Dydimus hatte den letzten Teil von Jareths Rede nicht mehr richtig mitbekommen, so sehr hatte ihn eine seiner Bemerkungen beschäftigt. Ritterliche Tugend hin oder her, er mußte mit der Frage heraus, die ihm auf der Zunge lag, sonst würde er platzen, das war so sicher wie der heilige Gral eben ein heiliger Gral war.
"Ihr versteht mich?"
Diese Frage traf Jareth nun völlig unvorbereitet. Er sah seinen Hauptmann überrascht an. War er seinem Hauptmann darauf eine Antwort schuldig? Nie im Leben! ... aber... sollte er einem Freund von Sarah nicht besser reinen Wein einschenken? Er holte tief Luft.
"Ja, ich verstehe Euch. Ich liebe Lady Sarah so sehr, daß ich für sie töten würde", sagte er schlicht.
"Und - und die Lady selbst?" fragte Sir Dydimus schüchtern weiter.
"Die Lady tat mir letzte Nacht die Ehre an, meine Liebe zu erwidern."
"Dann möchte ich doch lieber auf meiner Demission bestehen", stieß Sir Dydimus trotzig hervor.
Das hatte Jareth nun doch nicht erwartet. Ein eifersüchtiger Soldat war nicht gerade das, was er im Moment brauchen konnte. Verflixt! Er hatte sich nie die Mühe gemacht herauszufinden, wie die Gefühle seines Hauptmannes für Sarah tatsächlich waren. Er hatte eigentlich geglaubt sie wären wie bei Hoggle rein freundschaftlicher Natur.
"Sir Dydimus, ich kann zu diesem Zeitpunkt nicht auf Euch verzichten. Ich brauche jemanden auf den ich mich verlassen kann. Ihr seid der einzige, dem ich in allen militärischen Belangen volles Vertrauen schenke. Wollt Ihr mein Vertrauen enttäuschen? Oder wollt Ihr mich zum Duell fordern um Eure Ehre wiederherzustellen?" setzte er mit einem halben Lächeln hinzu. Es war fast lächerlich mit anzusehen, welch schlimmer Kampf in Sir Dydimus tobte. Einerseits wollte er auch in Zukunft voll Loyalität zu seinem König stehen. Bis auf das eine Mal, als er Lady Sarah geholfen hatte, war er auch immer treu gewesen, wie es einem Ritter geziemte, doch nun war er in einer Zwickmühle. Er hatte geglaubt, sich damit abgefunden zu haben, daß sein König der Lady seines Herzens den Hof machte - obwohl er Hoggle nie so ganz geglaubt hatte - nur um jetzt festzustellen, daß es wirklich demütigend war, im Minnekampf um ihr Herz geschlagen worden zu sein. Doch war es ritterlich diese Demütigung offen zu zeigen? Nein, sicher nicht. Und letzten Endes war selbst eine so außergewöhnliche Lady wie Sarah nur eine Frau.
Und wer hatte je gehört, daß ein Ritter sich ernsthaft um eine Frau bewarb! Ein Ritter mußte Heldentaten vollbringen! Dabei konnte er sich nicht mit einer Frau belasten. Wenn er es sich richtig überlegte war er gerade noch mal davon gekommen. Fast wäre er seinem König sogar dankbar gewesen, daß er das Herz der Lady errungen hatte.
"Nein, Majestät. Von einem Duell sollte in diesem Fall Abstand genommen werden. Ihr werdet nie wieder in die Verlegenheit kommen, an meiner Loyalität der Krone gegenüber zu zweifeln. Verzeiht meine Kühnheit, aber ich hoffe, Ihr findet Euer Glück."
"Das hoffe ich auch. Ich danke Euch Sir Dydimus. Als ich vorhin erwähnte, daß die sich die Soldaten unter Euch besser führen als jemals zuvor, war es keine leere Schmeichelei. Ich halte wirklich sehr viel von Eurem Können."
"Danke, Majestät, aber ich glaube nicht, daß dies lediglich auf meine Ernennung zum Hauptmann zurückzuführen ist. Diese Veränderung bei den Soldaten habe ich erst vor kurzem bemerkt, dabei bin ich doch schon einige Jahre in dieser Position. Ich weiß nicht wieso, aber der Grund dafür muß woanders zu finden sein."
Jareth runzelte nachdenklich die Stirn.
"Wenn ich es recht bedenke klappt auch im Schloß seit einiger Zeit alles ein bißchen besser.....", während er noch nachdachte, ließ er seine Augen über sein Reich schweifen, bis sein Blick von etwas gefesselt wurde, das äußerst merkwürdig war. "Wo kommen denn diese blühenden Bäume in meinem Labyrinth her?" Jareth war völlig fassungslos. "Hier hat doch noch nie etwas geblüht! Ihr seht es doch auch, Sir Dydimus?"
"Ja, Majestät. Ich sehe es auch. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich diese Bäume gestern schon bemerkt hätte. Es wäre mir bestimmt aufgefallen."
"Aber - was geschieht hier?"
"Seht Ihr nun was ich vorhin gemeint habe? Es gibt hier einige kleine Veränderungen, nichts gravierendes, aber eben doch Veränderungen. Die Soldaten parieren, die Bäume blühen,...."
"Alles verändert sich immerzu....", sagte Jareth halb zu sich selbst. Laut ergänzte er: "Irgend jemand muß aber dafür verantwortlich sein. Nur - wer?" Fragend sah er Sir Dydimus an.
"Vielleicht solltet Ihr den alten weisen Mann aufsuchen, der im geometrischen Labyrinth lebt." Schlug Sir Dydimus vor.
"Glaubt Ihr wirklich, er ist weise? Ist er nicht eher ein bißchen verrückt?" zweifelte Jareth.
"Ihr habt keine andere Wahl, Majestät. Außerdem weiß ich von Hoggle, daß der Rat des weisen Mannes Lady Sarah damals sehr geholfen hat. Einen Versuch dürfte es Wert sein."
"Vielleicht habt Ihr recht - Ich danke Euch, Sir Dydimus. Eure Ratschläge werden mir immer willkommen sein. Ich werde den weisen Mann unverzüglich aufsuchen." Jareth drängte es, die Stadtmauer zu verlassen. Die blühenden Bäume hatten ihn stärker verunsichert, als er zugeben wollte. Seit er König war, war in diesem Labyrinth nichts ohne sein Zutun geschehen. Und nun das! Irgendwas lief gar nicht gut. Am Fußende der Treppe angekommen verabschiedete er sich eilig von seinem Hauptmann und schlug sofort den Weg zum geometrischen Teil seines Labyrinths ein. Er hoffte nur, daß er den alten Mann bald finden würde. Da er darauf verzichtet hatte, seine Eskorte wieder zu sich zu befehlen, war es notwendig, daß er sich vor Einbruch der Dämmerung wieder innerhalb der Stadtmauern aufhielt. Aber auf die Rückkehr seiner Eskorte hatte er einfach nicht warten können. Er brauchte unbedingt eine Antwort auf seine drängenden Fragen.
Kapitel 16
Als Sarah erwachte, war es bereits später Nachmittag und die Sonne nahm schon die rötliche Färbung der nahenden Dämmerung an. Wohlig streckte sich Sarah und kuschelte sich noch eine Weile in ihre Kissen. Wenn sie an die letzte Nacht zurückdachte, glaubte sie fast, noch den Druck seiner Lippen zu spüren. Sie hatte sich noch nie in ihrem Leben so gut gefühlt. Alles erschien ihr plötzlich leicht und beschwingt. Daran, wie ihre komplizierte Beziehung weitergehen sollte, wollte sie nicht denken. Tief in ihrem Innersten wußte sie, daß es eines Tages nicht mehr weitergehen würde. Ihre Liebe war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wenn Ihre gemeinsame Zeit erst abgelaufen war..... Sie fröstelte. Ewig konnten sie dem Schicksal kein Schnippchen schlagen. Doch solange es dauerte war es wundervoll. Ihr war als könnte sie fliegen, so frei fühlte sie sich. Sie mußte Jareth heute abend unbedingt fragen, was es für ein Gefühl ist, sich als Eule in die Lüfte zu schwingen.
Sie wünschte, sie könnte es ihm gleichtun. Sie seufzte wehmütig und stand dann endgültig auf. Heute wollte sie alle Hausarbeit erledigen, die in den letzten Tagen liegengeblieben war.
Am späten Abend war sie endlich mit allem fertig geworden. Nachdem sie die halbe letzte Nacht auf den Beinen gewesen war und nun noch einige Zeit am Bügelbrett gestanden hatte, taten ihr die Beine weh. Also holte sie eine kleine Plastikwanne vor ihr Sofa, stellte das Telefon in Reichweite und machte es sich mit einem Fußbad und einem längst fälligen Anruf bei ihren Eltern gemütlich.
"Williams?"
"Hi, Mam! Ich bin's, Sarah."
"Kindchen, das ist aber schön, daß du dich mal wieder meldest."
"Ist es wirklich schon wieder so lange her?" fragte Sarah schuldbewußt.
"Fast drei Wochen!" entrüstete sich ihre Mutter. "Wie geht es dir? Du klingst so blaß. Gehst du auch oft an die frische Luft?"
"Mam! Du bist wirklich unglaublich. Ich klinge blaß? Wo hast du denn das her?" Sarah kicherte vergnügt. Mit ihrer Mutter konnte man wunderbar telefonieren.
"Lenk nicht ab. Du ißt bestimmt auch nicht genug." fuhr ihre Mutter unbeirrt fort.
"Seit ich nicht mehr Zuhause wohne hast du dich zu einer richtigen Glucke entwickelt. Kannst du dich bei Toby in dieser Beziehung nicht mehr genug austoben?"
"Ach, du weißt ja wie er ist. Richtig bemuttern kann man die kleinen Jungs in diesem Alter einfach nicht mehr. Warst du gestern auf irgendeiner Halloween-Party?"
"Ja, die Firma hat mich zu einer geschickt. Als Repräsentantin sozusagen." Sie schnitt eine Grimasse, die ihre Mutter allerdings nicht sehen konnte, doch der Unterton in ihrer Stimme war unverkennbar gewesen.
"Ich nehme an, du hast dich nicht besonders amüsiert, oder?"
"Ach, es ging", erwiderte Sarah betont gelangweilt. "Erst war es recht fad, aber gegen später wurde es dann noch ganz lustig. Hat Toby bei seinem Raubzug gestern viele Süßigkeiten erbeutet?"
"Viele? Du machst Witze. Säckeweise haben wir ihm die Bonbons hinterhergeschleppt. Er sah aber auch zu süß aus in seinem Kostüm", erklärte sie voll Mutterstolz.
"Als was hat er sich denn verkleidet?" Sarah war voll böser Vorahnung.
"Ich habe ihm aus ein paar alten Bettlaken ein ganz reizendes Schloßgespenst genäht. Mit Ketten und allem was so dazugehört."
Sarahs Erleichterung war fast schon lächerlich. Ein paar Sekunden lang hatte sie ernsthaft befürchtet, ihr Halbbruder habe sich an Halloween als Kobold verkleidet.
"Als Schloßgespenst also. Du mußt mir unbedingt ein paar Fotos schicken."
"Kommst du eigentlich an Weihnachten zu Besuch?"
"Ach Mam! Ich hab dir das doch schon tausendmal erklärt. Ich bin noch in der Probezeit. Deshalb darf ich noch keinen Urlaub planen. An den Feiertagen wird natürlich nicht gearbeitet, aber du glaubst nicht ernsthaft, daß ich mich wegen zwei Tagen ins Auto setze und die ganze Strecke zu euch fahre nur für eine gefüllte Weihnachtsgans. Das kannst du nicht von mir verlangen", protestierte Sarah.
"Nein, natürlich nicht, das wäre ja auch Blödsinn. Ich und dein Vater hätten dich eben gerne wieder eine Zeitlang bei uns gehabt. Wenn du was genaues weißt rufst du einfach wieder an."
"Klar Mam, geht in Ordnung."
"Und geh öfter an die frische Luft. Versprich es mir."
"Ich werd's versuchen. Aber versprechen kann ich es dir nicht."
"Na schön."
"Nicht traurig sein Mam. Ich ruf bald wieder an. Grüß Dad und Toby von mir."
"Ja, das mach ich. Paß auch dich auf, Sarah. Bye-bye mein Kindchen."
"Bye Mam."
Zur gleichen Zeit machte sich Jareth im geometrischen Labyrinth auf die Suche nach dem weisen Mann.
Er war schon einige Stunden erfolglos unterwegs und mußte sich mittlerweile sehr konzentrieren, damit er sich in seinem eigenen Labyrinth nicht verirrte. Es waren nur noch sehr wenige Gänge übrig. In einem von diesen mußte sich der alte Mann aufhalten. Jareth fand ihn schließlich im letzen Gang, der in einen kleinen Garten mündete. Dort saß er auf einer marmornen Bank und döste offensichtlich vor sich hin. Nur sein Vogelhut blickte mit durchdringenden Knopfaugen nervös in die Gegend.
Jareth blieb im Eingang des Gartens stehen ohne einzutreten. Er kam sich unsagbar lächerlich vor. Wegen ein paar blühender Bäume wollte er sich von einem alten Mann und seinem verrückten Vogelhut einen Rat geben lassen. Er wollte gerade wieder umdrehen und gehen, da war der Vogel seiner ansichtig geworden.
"Hallo-Hallo-Hallo!" krächzte er vergnügt. "Wen haben wir denn da? He, Meister! Aufwachen! Wir haben Kundschaft."
Jareth blieb nun nichts anderes mehr übrig, als auf die beiden zuzugehen. Der alte Mann hatte sich bisher noch nicht gerührt. Unschlüssig betrachtete Jareth ihn. Sollte er dieses ohrenbetäubenden Gekreisch tatsächlich überhört haben?
"Keine Sorge, den krieg` ich schon wach", flüsterte der Hut vertraulich und holte tief Luft, um seinem Weckruf mehr Nachdruck zu verleihen. Jareth machte instinktiv einen Schritt zurück. Doch bevor der Vogel noch Gelegenheit hatte einen sicherlich markerschütternden Schrei auszustoßen, durchlief den alten Mann ein Zittern und er schlug seine Augen auf, die mit einer erschreckenden Klarheit Jareths Gestalt musterten.
"Ah, der junge König. Seid mir gegrüßt."
"Woher willst du denn wissen, daß das der König ist. Du hast doch nicht mal deine Brille auf", nörgelte sein Hut, der sich um seinen Weckruf gebracht sah und deshalb schlechte Laune hatte.
"Willst du wohl still sein!"
"Alte Schlafmütze!" schimpfte der Hut leise vor sich hin.
"Was führt dich zu mir, junger König?" fragte er Jareth nun freundlich.
"Ich brauche einen Rat", antwortete Jareth und kam sich immer dümmer vor. Warum duldete er eigentlich, daß der Alte ihn so respektlos duzte?
Der alte Mann seufzte. "Zu früh folgtest du dem großen Tandor auf den Thron. Ich habe dein Kommen schon lange erwartet."
"Es - es ist wegen der Bäume", stammelte Jareth, "Sie blühen." Ich klinge wie der letzte Idiot, dachte er bei sich.
Der alte Mann nickte weise.
"Na und!" plapperte sein Hut dazwischen. "Sogar hier wächst dieses bunte Zeug." Mit seinem Schnabel deutete er auf eine Ecke des Gartens in dem sich eine Heckenrose die Mauer emporrankte. Die Rosenblüten waren weiß und unschuldig wie frisch gefallener Schnee. Verblüfft starrte Jareth sie an.
"Er redet zwar pausenlos Blödsinn", meldete sich der alte Mann wieder zu Wort, "Aber diesmal hat er recht. Es sind nicht nur die Bäume, im ganzen Labyrinth sind kleine Veränderungen zu bemerken."
"Die Kobolde stellen sich nicht mehr ganz so dumm an, wie für gewöhnlich", erwiderte Jareth halb geistesabwesend. Dann fühlte er die aufmerksamen Blicke des Alten in seinem Rücken und drehte sich wieder um. "Was geht hier vor? Ich habe nichts davon veranlaßt. Warum geschehen plötzlich Dinge ohne meinen Willen?"
"Merkt Euch eines, junger König: Ein guter Bauer kann auch ein schlechtes Land so lange pflegen, bis er darauf seine Saat ausbringen kann. Hat er gute Arbeit geleistet, so ist das Land gut und die Saat gut und auch die Früchte die das Land und die Saat hervorbringen werden gut sein. Alles liegt in der Hand des Bauers. Es liegt nur an ihm, ob er eine Mißernte einbringt oder nicht." Der alte Mann wirkte nach dieser Rede erschöpft, doch so einfach wollte Jareth sich nicht abspeisen lassen.
"Meint Ihr damit, daß doch alles von mir abhängt? Aber ich verstehe die Zusammenhänge nicht?"
"Der große Tandor scheint euch nicht in alle Geheimnisse des Labyrinths eingeweiht zu haben...." nachdenklich schüttelte der alte Mann den Kopf. "Er wird seine Gründe dafür gehabt haben."
"Ihr kennt Geheimnisse über mein Reich, dich ich nicht kenne!" rief Jareth aufgeregt. "Sagt sie mir!" forderte er.
"Das kann ich nicht, junger König. Ich habe kein Recht dazu. Die Zeit oder das Schicksal wird euch lehren, was ihr über euer Reich wissen müßt."
"Vielleicht ist es dann schon zu spät", flüsterte Jareth resigniert, als er merkte, daß der alte Mann unerbittlich war. Er wollte sich schon zum Gehen wenden, da fiel ihm noch etwas ein. "Ihr nanntet Tandor vorhin den Großen... Welcher Beiname wurde mir verliehen?"
"Ihr habt euch noch keinen verdient, junger König." Kaum hatte der alte Mann Jareths Frage beantwortet schloß er auch schon die Augen und war nicht mehr ansprechbar.
"Meine Güte", krächzte der Hut. "Was für Geheimnisse will diese alte Schlafmütze schon kennen. Glauben Sie das etwa? Auf jeden Fall ist Ihr Termin nun beendet. Darf ich Sie bitten eine kleine Unkostenentschädigung zu entrichten?" Er wies mit seinem Schnabel diskret auf die Sammelbüchse die neben dem alten Mann auf der Bank lag. Jareth zauberte aus den Falten seines Capes eine Münze hervor und warf sie hinein.
"Hui, ein Goldstück", flötete der Hut. "Von mir aus können Sie jeden Tag mit einem neuen Problem kommen. Sie sind uns jederzeit willkommen. Auch ohne Voranmeldung." Die letzten Worte mußte der Hut wieder schreien, denn Jareth hatte sich schon entfernt und war auf dem Weg zurück ins Schloß.
"Was hier so alles frei rumläuft...." krächzte der Hut noch mißbilligend zu sich selbst.
Nach dem Telefonat mit ihrer Mutter hielt es Sarah nicht mehr länger aus. Sie mußte Jareth sehen. Sofort!
Sie trocknete sich die Füße ab und ging in ihr Schlafzimmer. Sie überlegte noch kurz, ob sie ihn wohl auch gleich erreichen würde, doch wenn sie es nicht probierte....
Entschlossen nahm sie vor ihrem Spiegel Platz und rief nach ihm.
Sie hatte Glück. Jareth war vor wenigen Minuten zurückgekehrt. Er hatte noch keine Zeit gehabt über alle Geschehnisse des Tages und der vorangegangenen Nacht nachzudenken, so daß ihn Sarahs Ruf etwas unvorbereitet traf. Er sammelte sich kurz, hoffte, daß sie ihm seine Verwirrung nicht anmerken würde und antwortete ihr.
"Jareth, ich mach mir Sorgen um Toby", platzte Sarah heraus.
" Um Toby?"
"Ja, um Toby. Ich habe vorhin mit Mam telefoniert und sie erzählte mir von Tobys Verkleidung und da dachte ich einen Moment, mein Herz müßte stehen bleiben."
"Du willst mir doch nicht erzählen, er hätte sich als Kobold verkleidet?"
"Nein, hat er nicht. Er ging als Schloßgespenst. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, daß ich befürchtete er könnte sich als Kobold verkleidet haben. Ich beobachte ihn seit damals mit Argusaugen. Immer befürchte ich, er könnte sich daran erinnern, daß ich ihn zu den Kobolden gewünscht habe", jammerte Sarah.
"Sht - ganz ruhig", versuchte Jareth sie zu beruhigen. Sie war kurz davor einen hysterischen Anfall zu bekommen. "Du machst dir unnötig Sorgen um Toby. Er wird sich nicht daran erinnern."
"Wie kannst du dir da so sicher sein?"
"Ich habe noch in derselben Nacht dafür gesorgt, daß er alles vergißt."
"Das hast du getan?" Sarahs Stimme vibrierte vor Dankbarkeit.
Jareth nickte.
"Ist das auch wirklich wahr?"
"Habe ich dich jemals belogen, Sarah?" Jareths Ausdruck war sehr ernst geworden.
Sarah sah ihn an und überlegte tatsächlich, ob er sie jemals belogen hatte. Sie ging alle Begegnungen mit ihm noch einmal durch. Schließlich entspannte sich ihr Gesichtsausdruck. "Nein, noch nie. Du hast mich zwar ein paarmal ganz abscheulich ausgetrickst", fügte sie mit einem schelmischen Lächeln noch hinzu, "aber belogen hast du mich noch nie. Danke, daß du das für Toby getan hast."
"Die Sache hat allerdings einen Haken", gab Jareth zu.
"Oh nein, ich wußte es."
"Du darfst ihm nie etwas darüber erzählen. Wenn du das tust wird er sich an alles wieder erinnern. Sogar an die kleinste Kleinigkeit."
"Das heißt, wenn ich ihm gegenüber nur die kleinste Andeutung mache...."
Jareth nickte wieder.
"Wenn jemand anders über Kobolde spricht...."
"Dann ist das egal", ergänzte Jareth. "Nur du darfst nicht darüber sprechen. Denn du warst ja dabei."
"Ich habe mich die letzten 6 Jahre nicht verplappert, dann wird mir das auch in Zukunft nicht passieren", überlegte Sarah.
"Alles wieder gut?" fragte Jareth vorsichtig.
Sarah nickte und druckste noch ein bißchen herum.
"Hast du noch etwas auf dem Herzen, meine kleine Elfe?"
"Du darfst mich aber nicht falsch verstehen."
"Wie kann ich das, wenn ich nicht weiß worum es geht."
"Weißt du, Jareth, natürlich möchte ich dir tausendmal hintereinander sagen, wie sehr ich dich liebe - aber dafür ist mir unsere gemeinsame Zeit zu kostbar - verstehst du mich?"
"Ja, meine kleine Elfe. Ich verstehe dich durchaus. Es ist nicht so, daß ich es nicht gern hören würden - tausendmal hintereinander ich liebe dich - das hätte schon was für sich. Aber du mußt es mir nicht sagen", seine Stimme hatte einen unbeschreiblich weich Klang angenommen, "ich weiß es."
Sarah erschauerte bei seinen Worten vor Wonne. Nie wieder würde sie einen Mann treffen, der sich mit ihm vergleichen ließe. Einige Sekunden sahen sie sich nur in die Augen. Dann streifte Jareths Blick die Kette, die Sarah immer um ihren Hals trug und er hatte eine Idee.
"Solange du das Medaillon trägst, weiß ich daß du mich noch liebst", er grinste und setzte noch scherzhaft hinzu: "Also sieh zu, daß du nie vergißt, sie umzuhängen."
"Wie könnte ich so etwas vergessen", entrüstete sich Sarah spaßeshalber. "Nur schade, daß ich noch keine Gelegenheit hatte, dir etwas zu schenken. Dein Aufbruch letzte Nacht war etwas überstürzt", bedauerte sie.
"Schon in einem Jahr werden wir uns wieder treffen. Bis dahin hast du Zeit deine Wahl zu treffen. Und in der Zwischenzeit tröste dich mit dem Gedanken, daß es in meinem Reich nichts gibt, was meine Gefühle für dich ändern könnte."
"Ein Jahr", seufzte sie, "ein Jahr kann so entsetzlich lang sein."
"Oder so entsetzlich kurz", erwiderte er. "Es kommt lediglich auf den Standpunkt an."
"Ich vermisse dich schon jetzt", erwiderte Sarah und legte schüchtern die Spitze ihres Zeigefingers auf den unteren Rand des Spiegels. Jareth sah es und berührte nach kurzem Zögern auf seiner Seite ebenfalls die glatte Oberfläche des Spiegelglases mit seiner Fingerspitze. Es war die Illusion einer Berührung. Nicht mehr. Und doch war es für beide tröstlich. Sie verharrten lange so, ohne ein Wort zu wechseln. Es war Sarah, die schließlich das Schweigen brach.
"Jareth, du siehst müde aus. Hast du schlecht geschlafen?" fragte sie besorgt.
"Schlecht geschlafen - nein. Ich war noch gar nicht im Bett."
"Warum das denn? Ich habe wunderbar geschlafen."
"Ich war heute morgen noch zu - na, sagen wir - aufgekratzt. Es hätte gar keinen Sinn gehabt, zu Bett zu gehen. Ich hätte ja doch kein Auge zugetan. Außerdem waren einige dringliche Angelegenheiten zu erledigen." Von den blühenden Bäumen erzählte er ihr lieber nichts, da er sie nicht beunruhigen wollte.
"Mein armer König", bedauerte sie ihn lächelnd. "Es wird wohl besser sein, wenn wir für heute Schluß machen. Ich muß morgen schließlich auch wieder früh raus. Ich wünsche dir schöne Träume, Jareth."
"Danke, meine kleine Elfe. Gute Nacht."
"It hurts like hell"
Kapitel 17
Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug. Äußerlich unterschieden sie sich kaum von den ersten Wochen, die Sarah in Phoenix verbracht hatte, außer daß sie den Rat ihrer Mutter befolgte und jedes Wochenende im nahegelegenen Park joggen ging. Es war verblüffend wie vielen anderen Menschen sie dort begegnete, die ebenfalls joggten. Die meisten waren sogar in ihrem Alter und alle hatten den gleichen einsamen Gesichtsausdruck. Sarah fragte sich wovor sie wohl alle davonliefen, denn für ihr Gefühl war es eher eine Flucht, denn eine sportliche Betätigung. Gleichzeitig war sie froh, ihnen in dieser Hinsicht kein bißchen ähnlich zu sein, denn die Gewißheit um Jareths Liebe hatte ihr neuen Auftrieb und Schwung verliehen. Sogar einem ihrer Abteilungsleiter war ihre Tatkraft und Phantasie bereits positiv aufgefallen und Tess hatte bereits einige abfällige Bemerkungen über Mister Millfords häufige Besuche in der Chefetage fallen lassen. Wobei es nicht einmal so war, daß sie Sarah den beruflichen Erfolg nicht gegönnt hätte. Worauf Tess wirklich eifersüchtig war, war dieses innere Leuchten, das Sarah neuerdings verströmte und das sie nahezu unwiderstehlich charmant machte. Entweder war die Gute schwanger oder es steckte ein Mann dahinter, denn daß diese sprühende Lebensfreude nicht allein dem erwarteten Vertragsabschlusses von Mister Millford und Sarahs sicherer Beförderung entsprang, dessen war sich Tess absolut sicher.
Sarahs Gespräche mit Jareth hatten seit der gemeinsam verbrachten Halloween-Nacht keine wesentlichen Änderungen erfahren. Sie sprachen wohl manchmal von ihrer Liebe, doch hüteten sich beide nach wie vor ihr - seit dieser Nacht offensichtliches - Bedürfnis nach körperlicher Nähe und Zärtlichkeit zu erwähnen.
In diese Zeit fiel auch ein Abend an dem Sarah Jareth damit überraschte, daß auf ihrer Kommode ein Sektkühler mit einer kleinen Flasche Champagner und ein Sektkelch standen.
"Gibt es etwas zu feiern, meine kleine Elfe?"
"Allerdings! Und du mein Schatz mußt unbedingt mit mir anstoßen", jubelte sie übermütig.
"Einen kleinen Augenblick." Mit einem Fingerschnipsen zauberte sich Jareth ebenfalls die gleichen Utensilien auf seinen Tisch wie Sarah. Anmutig hob er ihr sein Glas entgegen. "Und worauf trinken wir?"
"Auf das Ende meiner Probezeit, auf einen unbefristeten Vertrag, eine Gehaltserhöhung, eine versprochene Beförderung und auf drei Wochen Weihnachtsurlaub!" Schwungvoll hob sie ihm ihr Glas entgegen und ließ es leicht gegen den Spiegel klirren. Jareth tat es ihr auf seiner Seite nach. Dann tranken sie.
"Das habe ich alles dir und Mister Millford zu verdanken", schwärmte sie weiter. "Ich weiß nicht, wem ich mehr zu Dank verpflichtet bin." Sie zwinkerte Jareth schelmisch zu.
"Das sind wirklich phantastische Neuigkeiten", freute sich Jareth mit ihr, "doch du tust uns zuviel Ehre an. Das hast du alles ganz alleine geschafft. Ich bin stolz auf dich."
Sarah erglühte unter seinem Lob. "Meinst du wirklich?"
" Nein, natürlich nicht. Ohne meine magischen Kräfte wärst du nicht einmal imstande dir die Haare zu kämmen." Er grinste boshaft und schließlich brachen beide in Gelächter aus. Sie scherzten noch eine ganze Weile miteinander, bis Jareth bemerkte, daß Sarahs Flasche fast leer war und seine irdische Geliebte keinen Alkohol vertrug. Er hatte sie noch nie beschwipst gesehen und so war er nun überrascht aber auch erheitert über ihren alkoholisierten Zustand.
"Weissu, Jareth, ich liebe dich wirklich ganz schrecklich."
"Ja, ich weiß", erwiderte er nachgiebig.
"Dabei - dabei weiß ich gar nichts von dir. Überhaupt nichts."
"Das ist doch gar nicht wahr, Sarah. Du übertreibst", protestierte er sanft.
"Ich übertreibe nie! Du weißt alles von mir - un´ ich - un´ ich weiß gar nichts." Als ihre Ausführungen schließlich noch von einem Schluckauf unterbrochen wurden, mußte er sich sehr zusammenreißen, damit sie nicht sein Lachen hinter der vorgehaltenen Hand entdeckte. "Was möchtest du denn wissen?" fragte er sie, als er seiner Stimme wieder trauen konnte. Sarah hatte sich mittlerweile sehr konzentriert um sich den letzten Rest Champagner ohne zu kleckern in ihr Glas einzugießen und sah ihn nun reichlich orientierungslos wieder an.
"Oh, alles", sagte sie unsicher und trank noch einen Schluck. "Ich weiß ja nich´mal wer deine Eltern sin´." Arglos sah sie ihn an. "Wer weiß ob du wir´lich aus ´nem guten Stall komms´." Trotz ihres Schwipses entging es Sarah nicht, daß Jareth bei ihrer Frage erstarrt war und mehr als einmal die Farbe gewechselt hatte. "Is´ was?" fragte sie schließlich unbeholfen und versuchte krampfhaft ihren Kopf von den Champagner-Nebeln zu befreien, was ihr auch ein ganz klein wenig gelang.
"Was ist mit dir?" Sie wiederholte ihre Frage diesmal mit mehr Nachdruck.
"Ich weiß nicht wer meine Eltern sind", antwortete er schließlich mit einem spöttischen Zug um die Mundwinkel.
"Aber Jareth!" Schlagartig war Sarah wieder nüchtern.
Jareth hatte sich wieder soweit gefaßt, daß er in der Lage war ihr etwas ruhiger zu antworten. " Ich denke du hast ein Recht darauf, es zu erfahren." Er holte tief Luft und fuhr dann fort: "Ich bin nichts anderes als ein geraubtes Baby. Der frühere König der Kobolde fand mich eines Nachts auf einer Kirchentreppe. Meine Eltern hatten mich offensichtlich ausgesetzt. So nahm er mich also mit. Er bemerkte bald, daß in mir Magie steckte und deshalb verwandelte er mich nicht in einen Kobold sondern erzog mich als Prinz und seinen Thronerben. Ich erfuhr die ganze Geschichte erst kurz vor seinem Tod. Ich - ich hatte ihn die ganze Zeit für meinen Vater gehalten, obwohl er mir nie erlaubt hatte ihn auch so anzusprechen."
"Wie schrecklich."
"Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen." Und mit einem schiefen Lächeln setzte er hinzu: "Es tut zu weh - aber ich denke, du hast ein Recht darauf etwas aus diesem Abschnitt meines Lebens zu erfahren. Wenn du noch Fragen hast, dann stelle sie bitte jetzt. Ich möchte nämlich nie wieder darüber sprechen müssen."
Es erschreckte sie, Jareth so verletzlich zu erleben. Aber sonst unterschied er sich in nichts von normalen Männern. Über traurige Gefühle spricht man nicht....
Eigentlich hätte sie ihn in dieser Stimmung nicht weiter mit Fragen gequält, aber sie wußte, daß er zu dem was er gesagt hatte stehen würde. Entweder sie stellte ihre Fragen jetzt, oder sie würde nie eine Antwort darauf erhalten.
"Und du hast gar keinen Anhaltspunkt über deine Eltern? Wer sie waren, oder warum sie dich ausgesetzt haben?"
"Nein, keinen einzigen. Aber du darfst nicht vergessen, daß ich nicht gerade einem aufgeklärten Zeitalter entstamme. Ist dir eigentlich schon aufgefallen, daß meine Augen verschiedenfarbig sind? Wahrscheinlich hielten sich mich für eine Ausgeburt der Hölle - wer weiß."
"So etwas darfst du nicht denken", bat sie ihn, obwohl sie es selbst für eine plausible Erklärung hielt. "Ich finde deine Augen anbetungswürdig."
Er erwiderte darauf nichts, sondern wartete auf ihre nächste Frage.
"Wann wurdest du eigentlich geboren? Ich weiß noch nicht einmal, wie alt du bist."
"Mein - Lehrmeister teilte mir das genaue Datum nicht mit. Aber in eurer Zeitrechnung bin ich sicher einige hundert Jahre alt."
"Einige Hundert?! Mein Gott, alterst du denn gar nicht?"
"Die Zeit hat im Labyrinth nicht die gleiche Bedeutung wie auf der Erde. Man kann das Alter nach seinem eigenen Willen zum Teil beeinflussen. Als Kind alterte ich in einem angemessenen Zeitraum, der meiner geistigen und körperlichen Reife entsprach, doch seit einigen Jahrzehnten werde ich nicht mehr älter. Könntest du mich vielleicht als Dreißigjährigen akzeptieren? Entschuldige, es war ein schlechter Scherz, ich weiß."
"Schon gut. Ist nicht schlimm. Ist es möglich, daß du unsterblich bist? Aber der vorherige König ist doch gestorben...."
"Rein theoretisch könnte ich unsterblich sein. Doch ich habe bei Tandor - so war sein Name - bemerkt, daß niemand unsterblich sein kann. Als ich noch ein kleines Kind war, hatte Tandor schon weißes Haar. Ich habe ihn nie anders gekannt. Er war schon immer ein alter Mann gewesen. Doch in dem Maße, in dem ich heranwuchs und immer fähiger wurde den Thron zu besteigen, spürte ich, daß er von der Last der vielen Jahrhunderte erdrückt wurde. Er wollte einfach nicht mehr leben. Auch ich könnte, genau wie er, beschließen, dieses Leben zu verlassen. Nach einigen Tagen zerfällt man dann ganz einfach zu Staub."
"Du warst dabei als er starb." Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
"Ja. Es mußte sein. Die Zeremonie verlangte es", erwiderte er dumpf.
"War es sehr schlimm für dich?"
"Ich habe ihn geliebt wie einen Vater. Obwohl - obwohl er mich immer für einen Tunichtgut hielt. Vielleicht hatte er sogar recht damit. Ich habe mich auf jeden Fall immer sehr bemüht, ihn nicht zu enttäuschen. Es war nicht immer einfach." Seine Gedanken wanderten an jenen Tag zurück, an dem Tandor für immer von ihm Abschied genommen hatte und plötzlich war ohne jede Vorwarnung dieser tiefe Schmerz wieder da. Durch die Jahrzehnte nicht gemildert, sondern eher verstärkt. Wenn er Sarah gegenüber nicht offen sein konnte, wem gegenüber dann? Also öffnete er die Tür in seiner Seele, die er seit Tandors Tod verschlossen gehalten hatte und ließ Sarah ein. "Ich hätte gerne um ihn geweint. Doch das hätte er nicht geduldet. In seinen Augen waren Tränen ein Zeichen von Schwäche. Ich habe gelitten wie ein Tier, als ich ihn vor meinen Augen verwelken sah. Es war schrecklich. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt schon wußte, daß er gar nicht mein Vater war, meine Trauer hätte nicht größer sein können, wenn er es tatsächlich gewesen wäre. Allerdings glaube ich, daß er mich nie so sehr geliebt hat, wie ich ihn." Eine einzelne Träne schimmerte in seinem Augenwinkel. Er machte keine Anstalten, sie wegzuwischen. Unverwandt starrte er Sarah an. Seine Qual lag offen in seinen Augen.
Sarah wußte, wieviel Überwindung es ihn gekostet hatte, ihr dies alles zu erzählen. Nun hatte er seine Last bei ihr abgeladen und es war ihre Aufgabe, sie ihm zu erleichtern, aber sie ihm auch wieder zurückzugeben.
"Wenn er kein Vertrauen in deine Fähigkeiten gehabt hätte, hätte er dich sicher nicht zu seinem Nachfolger bestimmt. Es ist nun mal die Eigenart von jedem Vater - oder Lehrer - in seinen Zöglingen nach außen hin nur Versager zu sehen. In ihrem Innersten platzen sie alle vor Stolz, wenn der Junior ein kleines Husarenstückchen vollbringt. Zugeben werden sie es allerdings nie. Mach dir keine Sorgen, Jareth. Er hatte dich sicher lieb. Eben auf seine Art. Daß er es dir nie gesagt hat, tut mir leid für dich. Das ist nun einmal dein Kreuz, damit mußt du alleine fertig werden. Unsere Schicksale sind sich ähnlicher, als ich je gedacht hätte."
Seine Gesichtszüge waren wieder entspannter, aber immer noch wehmütig.
"Ich hatte eine wirklich miese Kindheit. Kannst du dir das vorstellen, Sarah? Immer nur Kobolde, und du das einzig vernunftbegabte Wesen? Es war wirklich gräßlich."
"Ich weiß, was du meinst. Du warst bestimmt sehr einsam.... genau wie ich."
"Ja, doch dann kamst du meine liebste Elfe...."
"Ja, dann kam ich...."
"Gute Nacht, liebste Elfe, und auf die Gefahr hin mich zu wiederholen: ich bin sehr, sehr stolz auf dich."
"Gute Nacht, Jareth, du machst mich sehr glücklich."
Die Dezembertage waren alles andere als erholsam gewesen. Wobei die Beschreibung "Streß" eindeutig untertrieben gewesen wäre. Die ganze Welt bereitete sich auf Weihnachten vor, lediglich ein kleines Grüppchen von Werbeleuten hatte im Dezember die Ostergeschäfte zu erledigen. Sarah war sich sicher, wenn sie auch nur noch einmal die Worte Hase oder Ei gehört hätte, sie wäre hysterisch geworden oder hätte den Chef geküßt oder wäre aus dem Fenster gesprungen, oder alles zusammen. Doch nun hatte sie endlich alles erledigt. Es war Sonntag nachmittag, die dringendste Arbeit hatte sie in einer samstäglichen Sonderschicht erledigt und den Rest dem kleinen Grüppchen bedauernswerter Kollegen überlassen, die entweder keinen Urlaub bekommen hatten, oder keinen haben wollten. Ein letzter Rundblick durch die Wohnung: die Fenster waren geschlossen, der Herd und das Wasser waren aus. Die Koffer standen gepackt neben der Tür, die letzte Grünpflanze war bereits zur Pflege an Tess ausgelagert.
Alles war erledigt... alles, bis auf das schwerste, sie mußte Jareth noch auf Wiedersehen sagen. Vor allem mußte sie es gleich tun und sie mußte es schnell tun, denn eigentlich sollte sie schon seit einer Stunde auf dem Highway sein.
Deprimiert setzte sie sich an ihre Frisierkommode. Bevor sie Jareth rief, musterte sie ihr eigenes Spiegelbild flüchtig. Ärgerlich zog sie die Nase kraus. Was sie sah, gefiel ihr durchaus nicht. Trotz Jogging war sie blaß geworden, unter ihren Augen lagen leichte Schatten und ihre Augen waren müde. Sie schickte noch ein Stoßgebet gen Himmel, daß Jareth nichts davon bemerken würde, obwohl sie genau wußte, daß es ihm schon vor Tagen aufgefallen war. Er hatte bislang lediglich keine Bemerkung darüber gemacht. Hoffentlich verkniff er sie sich heute auch. Für ihre bloßgelegten Nerven wäre es einfach zuviel wenn er sich um ihre Gesundheit sorgen würde. Es reichte schon, daß sie in einigen Stunden ihren Eltern gegenüber stehen würde. Ihre Mutter würde bestimmt schrecklich mit ihr schimpfen, daß sie sich kaputt arbeiten würde und so weiter und so fort. Die gleich Litanei wie am Telefon, nur noch viel schlimmer. Am Telefon hatte Sarah wenigstens noch ein bißchen flunkern können, aber in natura.... Am besten würde sein, wenn sie ihr schlechtes Aussehen auf die lange Autofahrt schob. Bei diesem Gedanken hob sich ihre Laune merklich und sie konnte mit einem halbwegs entspannten Gesichtsausdruck nach Jareth rufen.
"Hallo Sarah. Ich dachte gerade, daß du womöglich schon weg bist und mich in der Hektik einfach vergessen hast." Sein Lächeln nahm seinen Worten alle Schärfe.
"Oh, Jareth. Wie könnte ich das!"
"Hast du schon fertig gepackt?"
"Ja, sobald ich mich von dir verabschiedet habe muß ich los. Ich bin tatsächlich ein bißchen spät dran."
"Aber Sarah!" tadelte er sanft. "Du machst ja ein Gesicht als ob du geradewegs in die Hölle fahren müßtest. Dabei gehst du doch nur zu deiner Familie um dort Weihnachtsferien zu machen. Du solltest dich wirklich mehr freuen."
"Ach verflixt! Wie soll ich mich freuen, wenn ich dich ganze zwei Wochen nicht sehen kann! Ich wünschte ich könnte diesen Spiegel mitnehmen." Schimpfte Sarah ungehemmt. "Es wäre ja alles nicht so schlimm, wenn ich mich nicht hätte überreden lassen, auch noch über Sylvester zu bleiben."
"Was, um alles in der Welt ist daran denn so schlimm?" Ihre Impulsivität überraschte Jareth. Er hatte zwar nicht erwartet, daß dieser Abschied einfach verlaufen würde, aber auf solche Komplikationen war er nicht gefaßt gewesen.
"Eigentlich gar nichts. Wenn es nur nicht diesen idiotischen Brauch gäbe, nach dem man um Mitternacht unbedingt jemanden küssen muß."
"Ich finde diesen Brauch gar nicht mal so idiotisch", beschwichtigte er sie.
"Doch, das ist er. Nämlich dann, wenn der einzige Mensch, den man küssen möchte nicht da ist." Sarah warf ihm durch den Spiegel einen sehnsuchtsvollen Blick zu, der Jareth ziemlich zu denken gab.
"Ich werde um Mitternacht an dich denken", versprach er schließlich.
"Ich vermisse dich schon jetzt", seufzte Sarah.
"Ich dich auch."
"Auf Wiedersehen, Jareth." Sie hauchte einen Kuß auf die Innenfläche ihrer Hand und blies ihn ihm mit einem schiefen Lächeln zu.
"Auf Wiedersehen, meine kleine Elfe."
Kapitel 18
Als Sarah endlich am Haus ihrer Eltern angekommen war, hatte sich die Sonne bereits zurückgezogen. Während sie noch die Auffahrt entlang fuhr, bemerkte sie aus den Augenwinkeln heraus, wie sich die Gardinen an einem der Wohnzimmerfenster bewegten. Manche Dinge änderten sich eben nie. Ihre Mutter hatte bestimmt schon seit Stunden am Fenster gestanden und auf die Heimkehr der Tochter gewartet, nur um hinterher um so überraschter über ihr Eintreten zu sein. Sarah parkte ihr Auto vor der Garage, stieg aus und zerrte ihr Gepäck aus dem Kofferraum. Sie hörte die Haustür klappern und ihr Vater kam ihr entgegen.
"Laß mich doch den Koffer tragen. Der ist dir sicher zu schwer."
Ach ja! So war ihr Vater eben. Er hatte schon eine merkwürdige Art seine Liebe zu zeigen. Anstatt seine große Tochter in den Arm zu nehme und sie ganz fest zu drücken, trug er ihr lieber den Koffer ins Haus.
"Danke, Dad. Er wiegt tatsächlich ein bißchen viel."
"Na, dann geh schon mal rein. Deine Mutter möchte dich begrüßen. Ich mach das hier schon."
Impulsiv küßte Sarah ihren Vater auf die Wange und lief in das Haus. Es war sooo gut, wieder Zuhause zu sein!
Im Wohnzimmer saß wie erwartet ihre Mutter, die bei ihrem Eintreten schnell von ihrem Sessel aufstand, um Sarah zu umarmen.
"Himmel, Sarah, ist das schön, daß du wieder da bist! Aber jetzt laß dich erstmal anschauen." Sie hielt ihre Tochter auf Armeslänge von sich entfernt. "Du bist blaß", stellte sie fest. "Und abgenommen hast du wohl auch noch. Also so geht das aber nicht, Kindchen. Du hast mir doch versprochen, du gehst öfter an die frische Luft."
Sarah verdrehte die Augen.
"Ich war doch an der Luft. Ich habe dich nicht beschwindelt. Die Fahrerei hierher hat mich doch ziemlich angestrengt", erinnerte sie sich an ihre vorbereitete Notlüge.
"Setz dich erstmal." Ihre Mutter zog sie neben sich auf die Couch.
"Wo ist Toby?" versuchte Sarah ihre Mutter abzulenken.
"Schläft schon. Du glaubst doch nicht, daß ich dir glaube, daß die paar Stunden Highway alle Farbe aus deinem Gesicht gesaugt haben."
Sarah seufzte ergeben. Nun hatte sie sich endgültig in das Thema Sarah ist zu blaß verbissen. "Ich gebe zu, daß die letzten Wochen nicht gerade ruhig waren. Es war eben ziemlich viel los in der Firma. Kannst du dir vorstellen, daß das Ostergeschäft schon so gut wie gelaufen ist?"
"Ich bring dein Gepäck schon mal nach oben in dein Zimmer", rief ihr Vater aus der Diele.
"Ist o.k. Dad", schrie Sarah zurück.
"Er freut sich so, daß du wieder da bist. Würde sich aber eher die Zunge abbeißen, als es zuzugeben", raunte ihre Mutter ihr im Verschwörerton zu.
"Ja, ich weiß, Mam."
"Du siehst müde aus. Am besten, du gehst gleich zu Bett und wir reden morgen weiter."
"Ich glaube, das ist eine gute Idee. Jetzt, wo ich nicht mehr hinter dem Steuer sitze, merke ich erst, wie träge ich schon bin. Gute Nacht, Mam. Wenn es euch nichts ausmacht, würde ich morgen ganz gern ausschlafen. Geht das?"
"Natürlich, Kindchen. Schlaf schön."
Mittlerweile hatte ihr Vater auch das Wohnzimmer betreten.
"Die Koffer sind oben, Tochter. Hab schon gehört - dann schlaf dich mal tüchtig aus. Gute Nacht, Sarah." Er gab ihr noch einen Klaps auf die Wange. "Was hast du eigentlich in deinem Koffer? Ziegelsteine?" rief er ihr lachend hinterher.
Sarah war schon halb die Treppe hinauf, beugte sich dann aber über das Geländer. "Gut geraten, Dad. Es ist dein Weihnachtsgeschenk." Kichernd rannte sie das letzte Stück hinauf und in ihr Zimmer. Sie hatte erwartet, es verändert vorzufinden. Doch tatsächlich damit gerechnet hatte sie nicht. Ihr Bett und ihr Schrank waren noch da. Die anderen Möbel hatte sie entweder mit nach Phoenix genommen, oder an Toby weitergereicht. Während ihrer Abwesenheit hatte die Schreibmaschine ihrer Mutter hier ein neues Zuhause gefunden und säuberlich in Kartons verpackt und beschriftet, die alten Spielsachen von Toby. Hierher war auch die scheußliche Stehlampe aus der Diele gewandert. Sarah hatte schon gehofft, ihre Eltern hätten sie endlich weggeworfen. Mit einer raschen Bewegung knipste Sarah das Licht aus und blieb eine Weile im Dunkeln stehen, bis sich ihre Augen halbwegs an das fahle Mondlicht gewöhnt hatten. Dies war nicht mehr ihr Zimmer. Und doch.... einmal war es ihre ganze Welt gewesen. Und hatte nicht in diesem Zimmer alles angefangen? Wieviel anders ihr Leben doch nun aussah! Staunend dachte sie an all die heißen Tränen zurück, die sie hier wegen Jareth vergossen hatte. Wie albern und klein sich diese Seelennöte jetzt ausnahmen.
"Ich wünschte - ich wünschte..." abrupt brach sie ab und schüttelte unwillig den Kopf. "Ich wünschte, er wäre hier", beendete sie den Satz schließlich und knipste das Licht wieder an, um ihre Koffer auszupacken.
Als sie endlich im Bett lag und das Licht wieder gelöscht hatte, konnte sie lange keinen Schlaf finden. Immer wieder suchte sie das Bild heim, wie Jareth in der Nacht ihres Geburtstages auf ihrem Bett gesessen und mit diesem unendlich liebevollen Ausdruck in seinen Augen auf sie herabgesehen hatte. Doch erschöpft wie sie war, gewann der Schlaf schließlich doch die Überhand über diese süßen Erinnerungen.
Am nächsten Tag erschien Sarah erst kurz vor Mittag in der Küche um ein sehr verspätetes Frühstück einzunehmen.
"Guten Morgen, Mam! Gib mir Pfannkuchen oder ich sterbe vor Hunger!"
"Guten Morgen?" Ihre Mutter sah betont auf die Küchenuhr, bevor sie ein Blech mit Weihnachtsplätzchen in den Backofen schob.
Sarah grinste und stibitzte sich eines der Plätzchen, die zum abkühlen auf dem Küchentisch lagen.
"Laß das, Sarah", rügte ihre Mutter ohne dabei hinzusehen. "Alles was ich dir anbieten kann, sind deine Lieblingsmuffins und ein paar Scheiben Toast. Und sobald du das verdrückt hast, brauche ich hier noch ein paar helfende Hände."
Fast wäre Sarah an einem der Kekskrümel erstickt. Helfende Hände das fehlte gerade noch.
"Wo stecken den Dad und Toby?"
"Toby ist bei einem seiner Freunde und Dad besorgt gerade einen Weihnachtsbaum." Sie stellte vor ihre Tochter ein Teller mit Muffins hin. "Möchtest du was zu trinken?"
"Laß mal, ich mach mir ein bißchen heiße Milch. Also habt ihr wie jedes Jahr Toby zum spielen geschickt, damit er den Baum nicht sieht. Stimmt's?"
"Stimmt. Obwohl ich manchmal glaube, er ist dafür doch schon zu groß."
"Wer kommt morgen eigentlich alles?" nuschelte Sarah zwischen ihren Muffins hervor.
"Ach, die übliche Verwandtschaft." Ihre Mutter schnitt eine Grimasse. "Meine Schwester und ihre Familie und die Kusine deines Vaters mit ihren Kindern."
"Die wollen doch nicht etwa hier übernachten?"
"Es wird sich nicht vermeiden lassen", seufzte ihre Mutter. "Hast du endlich fertiggefrühstückt? Dann kannst du schon mal von dem Mehl 500 gr. sieben.
Sarah meckerte ein bißchen, allerdings mehr aus Gewohnheit. Mittlerweile tat sie ihrer Mutter bei solchen Anlässen schon gern einen Gefallen oder auch zwei.
Daß allerdings die ganze Verwandtschaft an Weihnachten anrücken würde, behagte ihr nicht besonders. Natürlich war es so verabredet gewesen, aber insgeheim hatte Sarah gehofft, daß eins oder zwei der Kinder mit Grippe im Bett liegen würden, so daß der Weihnachtsbesuch sehr kurz oder sogar ganz ausfallen würde. Augenscheinlich erfreuten sich jedoch alle der besten Gesundheit.
Tante Myra, das war die Kusine ihres Vaters, war noch nicht mal so schlimm. Sie tat Sarah immer ein bißchen leid. Ihr Mann war vor einigen Jahren bei einem Autounfall getötet worden, und ihr Sohn Vincent, der etwas älter als Sarah war, hatte daraufhin das College aufgeben und in einer Bank eine Stelle annehmen müssen. Sein jüngerer Bruder Victor ging noch auf die High-School und war eine entsetzliche Nervensäge. Bei ihrer Tante Gladys und ihrem Mann Fred wußte man allerdings nicht, wenn schwerer zu ertragen war. Die Eltern selbst, oder ihre beiden Töchter Eve und Ginger. Glücklicherweise waren die beiden erst 15 und 13 Jahre alt, so daß Sarah sich kaum mit ihnen abzugeben brauchte. Vielleicht würde es auch gar nicht so katastrophal werden. Seit dem letzten Familientreffen waren immerhin einige Jahre vergangen. Möglicherweise hatte sich der eine oder andere zu seinem Vorteil verändert.
"Hier, nimm mir mal das Blech ab", unterbrach ihre Mutter ihre trüben Gedanken.
"Durch dieses Weihnachtsfestessen müssen wir nun mal durch. Dafür wird die Party an Sylvester das reine Vergnügen. Willst du eigentlich noch jemand dazu einladen? Auf fünf Gäste mehr oder weniger kommt es mittlerweile auch nicht mehr an."
"Eigentlich nicht", überlegte Sarah. " Die Gästeliste hat mir sehr zugesagt, ich denke nicht, daß sie sich noch verbessern läßt."
"Albernes Gör", schimpfte ihre Mutter gutgelaunt.
Als die meisten Plätzchen gebacken waren, kam endlich Sarahs Vater mit dem Baum nach Hause.
"Schnell, Sarah, mach die Wohnzimmertür auf", keuchte er.
Sarah rannte hastig an ihm vorbei, um ihm den Gefallen zu tun. Erschöpft zerrte er den Tannenbaum ins Wohnzimmer und lehnte ihn dort einfach an die Wand.
"Meine Güte, Dad! Der ist ja riesig! Wozu kaufst du nur immer solche Monster?"
"Ein Weihnachtsbaum muß groß sein. Außerdem hat auf einem kleinen Baum...."
"....nicht der ganze Christbaumschmuck von Großmutter Williams Platz", beendete Sarah den Satz. Jedes Weihnachten das gleiche Ritual. Der Baum würde zu groß sein, das Essen zu fett, die Geschenke zu teuer....es war herrlich wieder zu hause zu sein. Doch genauso herrlich würde es sein, wenn sie gleich nach Neujahr wieder nach Phoenix fahren konnte.
Gemeinsam schmückten sie den Baum, bis kein Fitzelchen zusätzliches Lametta mehr Platz hatte, wobei sie sich gegenseitig lobten und versicherten, der Baum wäre noch nie so schön gewesen wie dieses Jahr.
"Und auch noch nie so teuer", brummte ihr Vater.
Zum Schluß legten sie noch die Geschenke unter den Baum, verließen dann das Zimmer und schlossen sorgfältig ab. Keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment stürmte Toby herein und warf sich seiner großen Schwester in die Arme.
"Hast du mir ein großes Geschenk mitgebracht?"
"Hallo Toby."
"Hallo Sarah. Was ist jetzt mit dem Geschenk?"
"Da mußt du schon bis morgen früh warten. Freust du dich trotzdem, daß ich wieder da bin.?"
"Ja, schon." Plötzlich hatte er eine neue Idee. "Gehst du mit mir in den Zoo?"
"Was, jetzt gleich? Draußen wird es schon dunkel und du willst noch mit mir in den Zoo?"
"Wir können ja auch ein anderes Mal hingehen", gestattete er großzügig. "Liest du mir eine Geschichte vor?"
Schweigend drückte ihre Mutter Sarah ein ziemlich mitgenommenes Buch in die Hand.
"Seite 37. Ich mache solange das Abendessen."
An diesem Abend kroch Sarah merkwürdig zerschlagen in ihr Bett. Sie hatte total vergessen, wie anstrengend so ein siebenjähriger Junge sein konnte.
"Vielleicht hätte ich ihn doch bei den Kobolden lassen sollen", murmelte sie noch und war auch schon eingeschlafen.
Der neue Tag brachte auch neue Anstrengungen. Ihre Mutter war von dem Wahn befallen, den gesamten Eingangsbereich noch einmal zu putzen, damit Tante Gladys wenigstens nicht gleich eine Gelegenheit für eine spitze Bemerkung hatte.
Toby quengelte schon seit sieben Uhr in der Frühe, weil er seine Geschenke auspacken wollte und ihr Vater beschwerte sich daß die Füllung für die Weihnachtsgans versalzen wäre. Die ganze Angelegenheit erfuhr durch die Ankunft der Gäste am frühen Nachmittag noch eine geringfügige Steigerung, um schließlich beim gemeinsamen Abendessen zu eskalieren. Nicht, daß es zu einem offenen Streit gekommen wäre. Im Gegenteil. Die kriegführenden Parteien wurden lediglich immer höflicher und Sarah war noch nie so nahe daran gewesen, sich selbst zu den Kobolden zu wünschen. Schon kurz vor dem Abendessen hatte Sarah ihre Ohren auf Durchzug gestellt um wenigstens nur noch die Hälfte aller Unterhaltungen mitzubekommen. Leider hatte Tante Gladys eine Stimme, die es locker mit einer Kreissäge aufnehmen konnte. Nach dem Dessert steckte sich ihr Vater eine Pfeife an und ging auf die Terrasse um sie dort zu rauchen. Normalerweise tat er das nie, aber Sarah sah ihm nur neidisch hinterher. Wenn sie doch nur auch rauchen würde, dann hätte sie jetzt eine gute Entschuldigung um wenigstens für 5 Minuten diesen Vorhof der Hölle zu verlassen. Ihre Mutter bot Cognac und Sherry an. Sarah nahm sich auch ein kleines Gläschen Sherry, wodurch leider ihre Tante Gladys zum ersten Mal an diesem Tag auf sie aufmerksam wurde. Bis dahin hatte sie die ganze Zeit mit ihren ach so begabten Töchtern beschäftigt, doch nun drohten ihr die Themen auszugehen und so faßte sie Sarah scharf ins Auge.
"Die liebe Sarah ist ja den ganzen Abend so still gewesen! Ihr seid sicher heilfroh, daß ihr sie wieder um euch habt. Sie ist ja auch eine richtige Schönheit geworden. Sie gleicht ihrer Mutter aufs Haar. Hoffentlich erstrecken sich die Ähnlichkeiten nur auf das Äußere."
Die Reaktionen auf diese kurze Ansprache waren sehr unterschiedlich. Sarah wurde blaß vor Wut. Ihre Mutter blieb äußerlich ganz gelassen und sagte nur: "Du mußt es ja wissen, Gladys. Noch etwas Sherry? Sarah bringst du bitte deinem Vater auch ein Glas Cognac auf die Terrasse? Danke, Liebes."
Sarah war ihrer Mutter mehr als dankbar. Keine Sekunde länger hätte sie dort sitzen bleiben können. In der einen Hand ihr eigenes Glas, in der anderen den Cognac für ihren Vater ging sie zu ihm hinaus.
"Na, dicke Luft da drin?"
"Das kannst du wohl sagen", schnaubte Sarah wütend. "Ich gehe so schnell nicht wieder da rein."
"Gladys?"
"Wer sonst!"
"Das dachte ich mir. Worum ging es diesmal?"
Sarah wollte schon damit herausplatzen, da fiel ihr plötzlich ein, daß die Äußerung von Tante Gladys nicht nur sie selbst verletzt hatte, sondern auch ihren Vater verletzen würde. Egal wie ihre Mutter sich auch verhalten hatte, er mußte sie auch einmal geliebt haben. Ihre Wut war verraucht. Sie schwieg bedrückt.
"Hat sie etwas über .... Linda gesagt?"
"Ja, Dad."
"Und? Willst du mir nicht sagen, was es war, Prinzessin?"
"Sie meinte, ich sähe ihr sehr ähnlich."
Ihr Vater lachte leise. "Das war bestimmt nicht alles. Sonst wärst du nicht so wütend gewesen."
"Sie sagte dann noch, daß sie hoffe, ich würde ihr nicht auch sonst noch ähnlich werden."
"Aha." Er nippte an seinem Cognac.
"Dad, ich muß es wissen. Bin ich ihr tatsächlich so ähnlich?"
"Du hast ihre Haare, aber nicht ihre Augen. Eigentlich erinnerst du mich eher an meine Mutter. Du siehst Linda nicht besonders ähnlich. Aber so wie du die Frage gestellt hast, meinst du wahrscheinlich etwas anderes."
"Sie hat uns damals sehr weh getan, obwohl wir die Menschen waren, die sie wirklich geliebt haben." Sie schluckte kurz, die nächste Frage fiel ihr sehr schwer. "Hat sie mich eigentlich geliebt?"
"Auf ihre Art hat sie uns beide geliebt." Er machte eine kurze Pause, in der er an seiner Pfeife sog. "Wie soll ich dir das erklären? Sie war sehr stolz auf dich, aber sie konnte es einfach nicht abwarten, bis aus dir etwas geworden war. Sie wartete und wartete und hat dabei nicht erkannt, daß du längst etwas besonderes geworden warst. Ich habe das von der Sekunde an erkannt, als ich dich zum ersten Mal auf meinen Armen gehalten hatte." Er sah Sarah voll väterlicher Zuneigung an.
"Sie hat mich also nie als das akzeptiert, was ich tatsächlich war. Sie wollte erst noch etwas aus mir machen?"
"So kann man es natürlich auch sagen."
"Hast du sie sehr geliebt, Dad?"
"Natürlich. Jeder hat sie geliebt. Ich machte da keine Ausnahme. Warum sie dann letztendlich meinen Antrag angenommen hat, habe ich nie aus ihr herausbekommen.
Vielleicht hat sie damals tatsächlich geglaubt, mich zu lieben. Es war ja nicht so, daß ich der einzige gewesen wäre, der sie heiraten wollte. Sie konnte es sich leisten wählerisch zu sein. Alle jungen Männer waren verrückt nach ihr. Sie war wie ein exotischer Schmetterling, wie eine atemberaubende Orchidee. Ich habe zu spät erkannt, daß in mein Blumenfenster eigentlich gar keine Orchidee gehörte. Sie kümmerte dort bloß vor sich hin. Wirklich entfalten konnte sie sich nicht. Mit einem Stiefmütterchen wäre mir von Anfang an besser gedient gewesen." Er lächelte bedauernd auf Sarah hinab. "Ich war zu verblendet, um zu erkennen, daß für uns beide aus dieser Bindung nie etwas Gutes herauskommen würde - bis auf dich."
"Dad, ich fürchte ich bin dir genauso ähnlich wie ihr."
"Du fürchtest es?"
"Ja, weißt du, es gibt da jemand..."
"Ich dachte mir schon so etwas. Hast du ihn in Phoenix kennengelernt?"
"Ich habe ihn dort getroffen", bog Sarah die Wahrheit etwas zurecht. "Auf dieser Halloween-Party."
"Warum hast du ihn dann nicht mitgebracht? Wir hätten uns gefreut. Und Gladys hätte vielleicht endlich einmal ihr Schandmaul gehalten."
"Das hätte sie wohl kaum getan. Im Gegenteil. Sie hätte endlich mal über etwas wirklich wichtiges aufregen können. Außerdem ist es noch nichts festes."
"Prinzessin, du machst mich neugierig. Heraus mit der Sprache. Was stimmt mit dem Knaben nicht?"
Sarah holte tief Luft. Die Wahrheit zu verdrehen und trotzdem nicht zu lügen, war nicht so einfach, wie sie gedacht hatte. Doch ihr Vater war so offen zu ihr gewesen wie noch nie. Ein bißchen mußte sie ihm schon erzählen. "Er ist anders als alle anderen Männer, die ich je kennengelernt habe." Sie nippte an ihrem Sherry um Zeit zu gewinnen. "Aber ich weiß nicht, ob er in mein Blumenfenster paßt", stellte sie fest. "Dad, ich weiß es einfach nicht. Werde ich es je mit Bestimmtheit wissen?"
Ihr Vater seufzte tief. "Eine Garantie fürs Glücklichsein kann ich dir nicht geben. Genausowenig wie eine Antwort auf deine Frage. Liebst du ihn denn?"
"Wie verrückt!"
"Und er?"
"Er hat gesagt, daß er ohne mich nicht leben kann."
"Zweifelst du daran?"
"Nein."
"Und trotzdem kannst du dich nicht für ihn entscheiden?"
"Ach, Dad. Nicht er ist das Problem. Wenn es nur um ihn ginge, glaube mir, ich wäre schon lange verheiratet. Das Problem ist das Leben das er führt. Ich müßte es mit ihm teilen, wenn ich mich für ihn entscheiden würde. Ich weiß nicht ob ich das könnte. Es ist anders als alles was ich kenne." Traurig kaute sie an ihrer Unterlippe.
Eine solche Seelenqual bei seiner Tochter zu finden überraschte ihren Vater nun doch. Das war tatsächlich was Ernstes. Hier ging es nicht nur um einen unglücklichen Flirt. Hier ging es um etwas wirklich wichtiges: um die große, wahre Liebe. Tröstend legte er den Arm um Sarah.
"Diese Entscheidung kann dir niemand abnehmen. Die Zeit wird dir vielleicht helfen, manche Dinge klarer zu sehen."
Nachdem Vater und Tochter eine Weile miteinander geschwiegen hatten, gingen sie gemeinsam wieder ins Haus zurück.
Die Zeit zwischen den Weihnachtsfeiertagen und der Sylvesterparty verging wie im Flug. Alte Schulfreunde, die ebenfalls bei ihren Eltern zu Besuch waren verabredeten sich mit Sarah, Toby beanspruchte ihre Zeit, um ihm Märchen vorzulesen oder ins Kino oder in den Zoo zu gehen und ihre Mutter unternahm einige Einkaufsbummel mit ihr.
Abends war sie von den ungewohnten Anstrengungen so erschöpft, daß sie froh war, wenn sie endlich im Bett lag. Ihr Vater sprach sie nicht mehr auf ihre Unterhaltung an Weihnachten an und so kam es, daß sie erst wieder an Sylvester an Jareth dachte. Um so überraschender war die Heftigkeit ihrer Gefühle. Sie vermißte ihn schmerzlicher, als sie sich eigentlich erlauben wollte. Eine plötzliche Leere breitete sich in ihr aus. Gleichzeitig reifte in ihr der Entschluß sich auf der Party um Mitternacht zu verstecken oder davonzulaufen. Auf keinen Fall würde sie sich von irgend jemand küssen lassen, wenn doch der einzige, den sie tatsächlich küssen wollte nicht greifbar war. Dieser Plan wurde von ihr auch rigoros durchgeführt. So lustig und amüsant die Party auch war, Sarah zog sich einige Minuten vor Mitternacht zurück und trödelte im Badezimmer im oberen Stockwerk herum. Als unten der Countdown des alten Jahres angezählt wurde, schlich sie sich in ihr Zimmer und sah trübsinnig aus dem Fenster. Von unten drangen gedämpfte Schreie und Glückwünsche herauf. Sie seufzte und suchte mit den Augen den Nachthimmel nach Feuerwerkskörpern ab. Da sah sie es. In dem Baum vor ihrem Fenster saß eine weiße Eule und sah sie direkt an.
Sarahs Augen füllten sich mit Tränen. Sie hätte wissen müssen, daß er Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde um in diesem Moment bei ihr zu sein. Sie war so unglaublich froh, Jareth zu sehen und gleichzeitig war ihr so jämmerlich zumute wie noch nie in ihrem Leben. Obwohl er nie darüber sprach, war sie sich fast sicher, daß er mit seinen gelegentlichen Besuchen auf der Erde einiges riskierte. Und alles nur, weil sie ihm von ihrem Unbehagen vor der Mitternachtsküsserei erzählt hatte. Er liebte sie tatsächlich mehr als sein Leben. Krampfhaft würgte sie die aufsteigenden Tränen hinunter. Wenn er so tapfer war, dann konnte sie sich nicht einfach so gehenlassen. Sie schluckte noch ein paarmal und schenkte ihm dann ein strahlendes Lächeln, begleitet von einer Kußhand. Die Eule schien ihr zuzunicken und flog dann weg. Der Spuk war vorbei. "Was ist das nur für ein beschissenes Leben", dachte Sarah noch, bevor ihre Fassade für Jareth zusammenbrach und sie haltlos in die Vorhänge schluchzte.
Eine halbe Stunde später putzte sie sich entschlossen die Nase und legte noch etwas Make-up nach. Sie mußte sich zusammenreißen und wieder auf die Party gehen. Sie hoffte nur, es würde ihr gelingen, sich unbemerkt unter die Gäste mischen. Gleichzeitig dankte sie ihrem günstigen Schicksal, das sie vor Entdeckung bewahrt hatte. Sarah gelang dieses Kunststückchen auch tatsächlich und ein flüchtiger Beobachter konnte ihr nicht anmerken, daß nach ihrer Ansicht ihr Leben in Trümmern lag.
Sarah erfuhr nicht, daß ihre Mutter ihr Verschwinden bemerkt hatte und auch kurz davor gewesen war, ihre Tochter wieder auf die Party zurückzuholen. Einzig das Gespräch mit ihrem Mann ein paar Tage zuvor, hielt sie davon ab. Sie wünschte nur, Sarahs Liebesleben würde eine glückliche Wendung nehmen, obwohl es momentan nicht danach aussah.
Als die Party glücklich beendet und der letzte Gast gegangen war konnte sich Sarah endlich zum zweiten Mal an diesem Abend in ihr Zimmer zurückziehen. Obwohl sie völlig erschöpft war, wälzte sie sich noch lange in ihrem Bett hin und her. Sie wünschte sich Jareth so sehnsüchtig herbei, daß bald ihr ganzer Körper schmerzhaft nach ihm verlangte. Sie wollte nicht glauben, daß sie seine Berührungen erst wieder am nächsten Halloween spüren würde. Dieser Gedanke machte sie rasend und sie fühlte mit ihren Händen nach ihrem Herz, das vor Empörung heftig schlug. Ihre eigenen Berührungen ließen ihre Gedanken an das letzte Halloween zurückwandern, als seine Hände ihren Körper berührt hatten. Unwillkürlich stöhnte sie leise auf und wie damals lief ihr wieder ein Schauer der Erregung über ihren Rücken. Sie versuchte erst gar nicht, dagegen anzukämpfen. Ihre Hände liebkosten ihren Körper und ihre Träume zeigten ihr Jareth, bis sie mit einem langgestreckten Seufzer in ihr völlig zerwühltes Kissen zurücksank. Eine kurze Zeit gab sie sich dem tiefen Gefühl der Befriedigung hin. Doch viel zu früh drängten sich die Probleme der Gegenwart wieder in den Vordergrund. So konnte es doch nicht weitergehen! Sie war nicht mehr damit zufrieden, sich ihre Streicheleinheiten selbst zu geben. Sie wollte, daß Jareth sie ihr gab. In einer Beziehung ohne Berührungen konnte sie kein weiteres Herzblut mehr investieren. Alles lief auf einen toten Punkt hinaus. Aber vielleicht... vielleicht gab es ja doch eine Möglichkeit! Jareth hatte ihr zuliebe schon so oft getrickst oder gezaubert - warum sollte es hier keine Ausweg finden. Sie mußte unbedingt mit ihm darüber sprechen. Diese Angelegenheit duldete keinen Aufschub. Es gab bestimmt einen Ausweg.... und wenn es keinen gab.... doch daran wollte sie jetzt lieber nicht denken....
Auch Jareth fand in dieser Nacht lange keinen Schlaf. Es war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob dieser mitternächtliche Besuch eine so gute Idee gewesen war, wie er anfangs gedacht hatte. Sie hatte ihm zwar zugelächelt, doch die Farbe ihrer Aura hatte ihm das krasse Gegenteil erzählt. Ihr Schmerz hatte sich ihm ungefiltert mitgeteilt. Damit hatte er nicht gerechnet. Er wäre auch gar nicht auf diese Idee verfallen, wenn er nicht so schrecklich einsam gewesen wäre. Er hatte sie in den letzten Tagen immer schmerzlicher vermißt und wußte vor lauter Langeweile bald nichts mehr mit sich anzufangen. Die Kobolde waren nach einem kurzen Intermezzo wieder in ihre übliche Trägheit zurückgefallen und Jareth hatte nichts anderes zu tun, als den lieben langen Tag mit ihnen herumzuschimpfen. Am Sylvestertag fühlte er sich schließlich so miserabel, daß er kurzerhand beschloß, eine Ballillusion für sich selbst zu kreieren, um sich von Sarah abzulenken, denn wenn seine Gedanken noch länger um sie kreisten, war er sich sicher, darüber verrückt zu werden. Also befaßte er sich den halben Tag mit dem Entwurf des Saales, der Dekoration und den Gästen. Er wählte bewußt keine dunkelhaarigen Tänzerinnen aus, um nicht ständig an Sarah erinnert zu werden. Unbewußt zauberte er sogar einen Frauentypus, der in nichts Sarahs herber Schönheit glich. Als sich der Abend über das Labyrinth herabsenkte, war alles bereit. Jareth begab sich in seine Illusion und sah sich zufrieden um. Ja, er hatte sich wieder einmal selbst übertroffen! Die Lichter waren gedämpft und schimmerten blau. Die Musik war einschmeichelnd und melodisch. Die Kleidung der Männer und Frauen war freizügiger als er jemals bei anderen Gelegenheiten ausgewählt hatte. Die Kleider der Tänzerinnen waren lang, mit weit schwingenden Röcken, wurden aber ohne Reifrock getragen. Die kleine Schleppe wurde zum Tanzen mit einer Schlaufe am Handgelenk befestigt. Keine einzige Schulter war bedeckt, kein einziges Dekolleté verborgen, keine Frisur war hochgesteckt und glänzende Locken fielen bis auf die enggeschnürten Taillen hinab. Als Schmuck waren lediglich Perlen verwendet worden. Die Stoffe schimmerten in allen Perlmuttschattierungen. Die Tänzer taten es ihren Damen gleich und waren in enge dunkle Hosen und weiten, in allen Regenbogenfarben schimmernden Hemden gekleidet. Die Haare trugen sie ebenfalls offen, und nahezu schulterlang. Es war ein Bild aus einer fremden Welt und wirkte wegen seiner meisterhaften Komposition wie ein Tanz unter dem Meeresspiegel mit frivolen Nixen und leidenschaftlichen Prinzen. Jareth selbst hatte eine schwarze Frackhose gewählt und wie die anderen Tänzer ein weites Hemd mit offenem Kragen, das je nach Lichteinfall hellblau oder zartgrün schimmerte. Im Gegensatz zu ihnen trug er allerdings wieder schwarze Handschuhe, die er aus einem plötzlichen Impuls heraus angelegt hatte. Er ließ kurz die Atmosphäre auf sich wirken und wählte dann ohne nachzudenken eine der Schönheiten für den ersten Tanz aus. Einige Stunden lang tanzte er und amüsierte sich großartig. Er sollte wirklich öfter eine Illusion ganz für sich allein erschaffen! Die Damen waren wunderschön und kokett. Ihr Benehmen und ihre Kleidung waren gleichermaßen offenherzig wie erregend. Die Luft war geladen mit purer Sinnlichkeit und Jareth war nahezu berauscht davon. Er überlegte gerade, ob er seiner Tänzerin etwas mehr als nur einen Tanz schenken sollte, als sein Blick unwiderstehlich von einer der Standuhren angezogen wurden. Sie zeigte kurz vor Mitternacht an. Mitten in der Bewegung blieb er wie erstarrt stehen. Mitternacht! Und Sarah hatte niemanden, um küssend das neue Jahr zu beginnen. Tiefe Melancholie erfaßte ihn und sein Blick schweifte desillusioniert über sein Ballarrangement. Die Damen erschienen ihm mit einem Mal nicht mehr begehrenswert, sondern vulgär. Die Atmosphäre war nicht mehr erregend sondern nur noch abstoßend. Er selbst fühlte sich nicht mehr berauscht, sein Verhalten erschien ihm plötzlich unglaublich obszön.
Entsetzt sah er sich alles noch einmal ganz genau an. Ein ungeahntes Ekelgefühl ergriff Besitz von ihm und er floh. Durch seine Flucht zerstörte sich die Illusion von selbst und ließ bei Jareth, der deprimiert auf seinem Bett saß lediglich ein schlechtes Gewissen und einen bitteren Geschmack im Mund. Aus dieser Stimmung heraus verwandelte er sich in eine Eule um Sarah aufzusuchen und sie wenigstens um Mitternacht zu sehen, wenn er sie schon nicht küssen konnte. Sie sollte wissen, daß er immer für sie da war!
Nachdem er von seinem mißglückten Besuch bei Sarah wieder in seinem Schlafzimmer angelangt war, fühlte er sich keinen Deut besser als vorher, eher noch deprimierter -wenn das überhaupt möglich sein konnte.... Und dennoch... etwas hatte ihn merkwürdig aufgewühlt. Nachdenklich löschte er alle Kerzen bis auf eine und fing an, sich zu entkleiden. Seine Handschuhe und seine Stiefel warf er unachtsam auf einen Stuhl. Er war nun froh, daß er die Handschuhe angezogen hatte, um nichts in der Welt hätte er etwas auf dem Ball mit bloßen Händen berühren wollen. Er fühlte sich auch so schon ziemlich schmutzig. Um die enge Hose besser abstreifen zu können setzte er sich auf sein Bett. Merkwürdigerweise lief ihm ein Schauer über den Rücken, als seine Finger dabei die Haut an seinen Beinen berührte. Er warf auch die Hose auf den Stuhl und machte sich daran sein Hemd aufzuknöpfen. Verwirrt stellte er fest, daß seine Hände zitterten. Er ließ sie in seinen Schoß fallen und atmete tief durch um sich wieder zu beruhigen. Doch das Gegenteil war der Fall. Unwillkürlich dachte er an seinen fatalen Ball zurück und spürte, daß ihn die sinnliche Atmosphäre noch nicht losgelassen hatte. Seine Handflächen kribbelten, sein Atem ging unmerklich rascher und ihm war warm geworden. Jareth hatte sich in seinem Leben noch nie wirklich mit körperlicher Liebe und Erotik auseinandersetzen müssen, daher wußte er nicht, wie er die Empfindungen, die so plötzlich auf ihn einströmten, einzuschätzen hatte. Sinnliche Erfahrungen hatte er - allerdings in sehr milder Form - nur auf seinen Bällen gemacht, doch dies hatte bei ihm lediglich ein sanftes Kribbeln oder einen leichten Schauer ausgelöst, doch keineswegs die Wünsche, die jetzt gerade vor seinem geistigen Auge entstanden. Sarah - wie sie in der Nacht ihres Geburtstages vor ihm gestanden hatte, in diesem Nachthemd, das mehr enthüllte, als verbarg und sie dennoch nicht verdorben wirken ließ, sondern immer noch süß und rein... Jareths Verlangen nach ihr wurde übermächtig. Unter seinem Hemd fühlte er nach seiner Brust um seinen Herzschlag zu kontrollieren. Doch diese Berührung beruhigte ihn nicht, sondern stachelte sein Verlangen noch mehr an. Zwischen seinen Beinen spürte er ein Ziehen, das schmerzhaft und köstlich zugleich war. Wie betäubt ließ er sich auf sein Bett fallen. Diesmal konnte er der Versuchung nicht widerstehen... Mit bebenden Fingern knöpfte er sein Hemd auf und legte beide Hände auf seinen Oberkörper. Langsam führte er sie über seinen Körper. Seine Erregung nahm stetig zu und jede kleinste Berührung ließ ihn vor Wonne seufzen, bis er es schließlich nicht mehr aushielt und seine Finger automatisch tiefer wanderten, an das Zentrum seiner Lust, wo sich augenblicklich alle Empfindungen zu konzentrieren schienen. Er wußte kaum, was er da eigentlich tat, doch das störte ihn nicht ihm geringsten. Alles ihn ihm drängte sich nach einer Entladung und als sein Verlangen den Höhepunkt erreicht hatte - kurz bevor er glaubte vor Erregung den Verstand zu verlieren - stöhnte er auf und etwas in ihm explodierte. Dunkle Mattigkeit senkte sich über ihn und immer noch heftig atmend sank er in die Kissen zurück. Eine tiefe Befriedigung erfüllte ihn bis in die Zehenspitzen. Und doch... etwas fehlte...eine kleine Leere nistete sich in seinem Inneren ein. Nachdenklich fiel sein Blick auf Sarahs Portrait und plötzlich kam ihm die Erkenntnis. Er hätte es nicht allein tun sollen. Er hätte es mit Sarah tun sollen, mit der Frau die er liebte! Auf einmal schämte er sich seiner Tat, die ihn doch mit soviel Lust erfüllt hatte. Andererseits war ein solch erregendes Spiel gemeinsam mit Sarah reines Wunschdenken. Es würde wahrscheinlich nie dazu kommen. Hin- und hergerissen zwischen Befriedigung und Verzweiflung schlief er schließlich erschöpft ein.
Am Neujahrstag blieb Sarah noch bei ihren Eltern, konnte es aber nicht mehr erwarten wieder nach Phoenix zu kommen. Nachmittags packte sie ihre Koffer und wirkte dabei so ruhelos, daß ihre Eltern es nicht übers Herz brachten, sie aufzuhalten. Und so fuhr Sarah schon drei Tage früher als geplant nach Phoenix zurück. Ihre Eltern winkten ihr noch nach, als sie die Auffahrt hinausfuhr und auf die Straße einbog.
"Wir müssen uns damit abfinden. Sie ist kein kleines Mädchen mehr", sagte ihre Mutter.
"Nein, das ist sie wirklich nicht mehr", bestätigte ihr Vater.
Kapitel 19
In ihrer Wohnung angekommen hatte Sarah nichts eiligeres zu tun, als sofort mit Jareth zu sprechen.
"Jareth! Jareth, wo steckst du?!"
"Du bist schon zurück?"
"Ja." Sagte sie schlicht und schwieg dann. Unter dem Druck ihrer Augen sah sich Jareth gezwungen ihr etwas zu erklären.
"Was ich getan habe, ist unverzeihlich."
"Warum hast du es dann getan?" Sie wurde allmählich wütend.
"Ich habe dich schrecklich vermißt. Aber ich wollte dir wirklich nicht weh tun."
"Du weißt, daß ich geweint habe?" fragte sie schnell.
"Die Farbe deiner Aura hat es mir verraten."
"Das kannst du?" Sie war mehr als nur erstaunt. Das war ja fast schlimmer als Gedankenlesen.
"Ich sehe deine Aura nur, wenn sie sich sehr rasch verändert, oder bei starken Erregungszuständen." Er wußte nicht so recht, worauf dieses Gespräch noch hinauslaufen würde.
Sarah stand auf und lief vor dem Spiegel auf und ab. Jareth beobachtete sie schweigend und mit wachsender Unruhe. Abrupt blieb sie stehen und fixierte ihn.
"Jareth, sag mir eines: gibt es eine Möglichkeit, daß wir uns öfter treffen können?"
Er wußte genau, was sie damit meinte. Die Versuchung war groß, doch etwas hielt ihn davor zurück, ihr die ganze Wahrheit zu sagen.
"Es gibt keine Möglichkeit." Er log ohne rot zu werden.
Einige Sekunden lang hatte Sarah nach dieser Mitteilung geschwiegen. Ihr Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Ohne jede Vorwarnung brach dann der Sturm über Jareth herein.
"Das glaube ich nicht! Ich weigere mich das zu glauben! Du glaubst doch nicht im Ernst ich könnte bis zum nächsten Halloween auf dich warten! Verdammt!! Ich kann das nicht, und ich will das auch nicht! Ich bin eine Frau aus Fleisch und Blut!" Sie hatte sich so in Rage geschrien, daß sie kaum noch wußte was sie tat. Während ihres letzten Ausbruches hatte sie ihr Jeanshemd, das nur mit Druckknöpfen geschlossen wurde wütend aufgerissen und hatte so den Blick auf ihren Büstenhalter aus dunkelgrüner Spitze freigegeben.
Jareth konnte nicht anders: er mußte einfach hinsehen. Sein Blick hing wie gebannt an ihrem makellosen Körper. Mit einiger Verwirrung bemerkte Sarah seinen starren Blick und folgte ihm schließlich. Als sie sah, woran seine Augen so gespannt hingen, zog sie rasch ihr Jeanshemd wieder vor ihrem Oberkörper zusammen und setzte sich ernüchtert vor den Spiegel. Sie spürte, wie sie rot wurde und schämte sich, daß sie so die Beherrschung verloren hatte.
"Glaubst du denn ich wüßte das nicht?" sagte Jareth, nachdem er sich wieder von dem unerwarteten Anblick erholt hatte. "Glaubst du denn, ich begehre dich nicht auch? Hast du eine Vorstellung davon, wie oft ich an deine Geburtstagsnacht zurückdenke?" seine Stimme war sanft aber eindringlich. Er wünschte, sie würde ihn endlich wieder ansehen. Doch Sarah hielt den Kopf hartnäckig gesenkt.
"Es tut mir leid, Jareth. Aber ich kann nicht mehr so weiterleben."
Er biß sich auf die Lippen. Was er jetzt sagen mußte, waren die schwersten Worte seines Lebens. "Du weißt, daß ein Wort von dir genügt, und ich verschwinde aus deinem Leben."
Da hob Sarah ihm ihr sehr bleiches Gesicht wieder entgegen. "Du hast von Anfang an gewußt, daß es so enden würde, nicht wahr?"
Er nickte.
"Ich glaube, ich auch... aber ich wollte es nicht wahrhaben... Jareth, das kann es doch nicht schon gewesen sein! Doch nicht schon so bald!" Sie war völlig verzweifelt.
"Wenn du dich nicht dafür entscheiden kannst, bei mir zu leben, dann...." Es war sehr schwer für ihn, sich so stark zu geben. In Wirklichkeit hätte er sich viel lieber genauso benommen wie Sarah, doch das ging nicht. Wenigstens einer von ihnen mußte die Nerven behalten.
"Ich will nicht, daß es schon vorbei ist", jammerte sie kläglich. "Aber ich kann einfach nicht mit dir kommen. Ich kann nicht." sie zog ein Taschentuch heraus und weinte nun völlig hemmungslos.
"Scht, Sarah. Mein Elfchen. Nicht weinen. Es muß ja nicht vorbei sein. Wir können immer noch so weitermachen wie bisher." Tröstete er sie mit sanfter Stimme. Er war mehr als nur erleichtert, daß sie ihn nicht verlassen hatte.... noch nicht....
"Und es gibt wirklich keine andere Möglichkeit?" Ihre tränennassen Augen hingen an seinen Lippen.
Er würde sie nicht mehr belügen können. "Es gibt da schon etwas, aber es ist mit großen Schwierigkeiten verbunden. Es wäre nicht gut für uns beide." Über kurz oder lang würde sie ihn doch verlassen müssen. Er wollte daher nicht noch mehr in ihr Leben treten. Was sie mit ihren täglichen Gesprächen taten war sowieso schon zuviel des Guten.
Sarah hatte sich wieder halbwegs beruhigt und konnte ihm ruhig zuhören. Es war nicht sosehr das, was er ihr sagte - es war eher das, was seine Augen ihr mitteilten. Sie begriff, was er meinte. Und sie wußte, daß er recht hatte.
"Laß uns diese häßliche Szene vergessen, Jareth. Es tut mir sehr leid."
"Einige Aspekte dieser Szene werde ich wohl schwerlich vergessen können." Er grinste sie herausfordernd an.
"Schuft." schimpfte sie. Doch sie lächelte dabei.
Dieser Vorfall wurde von beiden tatsächlich nie wieder erwähnt, doch sie wußten, daß sich ihre Beziehung drastisch ändern würde. Die Frage war nur: wie lange konnte dieses zerbrechliche Gebilde in seiner derzeitigen Form noch durchhalten?
"You'll find someone true"
Kapitel 20
Etwas verspätet dachte sich Sarah noch einen Vorsatz fürs neue Jahr aus. Sie würde ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Genauso wie sie es gewohnt war, bevor Jareth so unvermittelt in ihr Leben getreten war. Sie war damit gar nicht schlecht gefahren. Auch wenn sie wahrscheinlich nie einen anderen Mann als Jareth lieben würde, so mußte sie sich doch einen anderen Mann suchen, mit dem sie leben konnte. Darauf und auf ihre versprochene Abteilungsleiterstelle würde sie nun all ihre Energie aufwenden.
Einer dieser Vorsätze verwirklichte sich schon wenige Tage später ohne ihr Zutun.
Ihr Vorgesetzer hatte sein Versprechen ihr gegenüber nicht vergessen und es im neuen Jahr ohne zu zögern in die Tat umgesetzt. Sarah bekam eine eigene, vorerst noch kleine, Abteilung, ein neues Büro und Tess als Assistentin. Ihr größter Triumph war allerdings die Yucca-Palme, die sie gleichzeitig mit ihrem neuen Büroschlüssel überreicht bekam. Nur besonders verdiente Mitarbeiter wurden mit einer Grünpflanze bedacht! Ihr Stern bei Amazing Advertising stieg unaufhaltsam immer höher!
Sie arbeitete weiter fleißig und vernachlässigte auch Jareth nicht, doch er spürte, daß er nicht mehr ihr einziger Lebensinhalt war. Er wußte nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Es war immerhin besser, ihr Freund zu sein, als ihr Ex-Liebhaber, aber es deprimierte ihn trotzdem. Er hatte auch kein Verlangen mehr, sich mit Hoggle oder Sir Dydimus abzugeben. Meistens trieb er sich ruhelos im ganze Schloß herum und schlug die Zeit tot. Wenn ihn die Kobolde mit ihrer fortgesetzten Unfähigkeit an den Rand des Wahnsinns brachten grübelte er manchmal auch über den Spruch des weisen Mannes nach, doch seine Überlegungen führten zu nichts, und so gab er auch bald diese halbherzigen Versuche auf.
In dieser Zeit verschwanden die blühenden Bäume wieder aus dem Labyrinth - unbemerkt und unbeweint.
Auch Sarahs zweiter Vorsatz erfüllte sich, ohne daß sie auch nur den kleinen Finger dafür gerührt hätte. Einige Wochen, nachdem sie ihr neues Büro bezogen hatte, meldete Tess einen Besucher über die Gegensprechanlage an.
"Mister Patrick O´Keefe ist jetzt da."
"Mister O´Keefe?"
"Du weißt doch, der Spitzel aus der Zentrale."
"Tess!"
"Na, stimmt es vielleicht nicht? Kann ich ihn reinbringen?"
"Ja, klar."
Tess öffnete die Tür und stellte den Besucher vor.
"Mister O´Keefe - Miss Williams."
Sarah sah von ihrer Arbeit auf.
"Meine Güte, Sie sehen ja wie ein Firey aus!" platzte es aus hier heraus.
Tess bog sich vor unterdrücktem Lachen und selbst O´Keefe schmunzelte. Sarah hingegen war es entsetzlich peinlich. Doch die feuerroten Haare ihres Besuchers hatten sie völlig aus dem Konzept gebracht. Sie ging um ihren Schreibtisch herum, um ihn zu begrüßen.
"Mister O´Keefe, es tut mir entsetzlich leid, bitte entschuldigen Sie meinen Ausbruch."
"Oh, es braucht Ihnen nicht leid zu tun. Mir werden überall die unglaublichsten Spitznamen angehängt. Firey ist davon noch der netteste. Ich denke, ich werde mich daran gewöhnen."
"Also Mister O´Keefe, ich denke..."
"Sagen Sie doch einfach Firey zu mir, Miss Williams", unterbrach er sie lächelnd.
"Gut, aber nur wenn Sie Sarah zu mir sagen", antwortete Sarah ohne nachzudenken.
"Sie legen ein ganz schönes Tempo vor, Sarah."
"Ich versuche nur mit Ihnen Schritt zu halten, Firey." Er war ihr entschieden sympathisch. Er war groß und muskulös, mit breiten Schultern und eleganten schmalen Hüften. Kurz: er war ein Mann wie von einem Playgirl-Kalender. Glücklicherweise bildete er sich nichts darauf ein. Sein Verhalten war keinesfalls schmierig oder aufdringlich. Er war perfekt. Bis auf seinen roten Haare. Doch die störten Sarah nicht im geringsten. Man würde abwarten müssen. Auf jeden Fall war dieser Firey einen Versuch wert!
Einige Stunden später kämpfte Sarah immer noch gegen den Kopierer, der den ganzen Nachmittag hartnäckig darauf bestanden hatte, die Unterlagen für die morgige Sitzung in Papierflieger zu verwandeln. Mittler weile brannte im Flur, wo sie inzwischen todmüde auf die fertigen Kopien wartete, nur noch die Notbeleuchtung und sie war auf diesem Stockwerk die einzige, die noch an der Arbeit war. Das monotone Surren des Kopierers machte sie schläfrig. Plötzlich tippte ihr jemand auf die Schulter. Mit einem Schlag hellwach, und einem Herzinfarkt gefährlich nahe, wirbelte sie herum und erkannte in der nächtlichen Gestalt Firey.
"Meine Güte, Firey! Was tun sie denn noch hier? Ich hätte mich fast zu Tode erschrocken!"
"Ich wollte Sie doch nur etwas fragen", verteidigte er sich. "Wenn ich allerdings geahnt hätte, daß Sie so schreckhaft sind..."
Mit einer Handbewegung schnitt Sie ihm das Wort ab. "Schon gut. Was wollten Sie mich fragen?"
"Haben Sie Lust auf Pizza?"
"Pizza?"
"Ja. Ich habe gegen das neue PC-Programm gekämpft, und dabei Hunger bekommen. Also habe ich eine Pizza bestellt. Gerade eben wurde sie nun geliefert, und da habe ich gesehen, daß Sie auch noch kämpfen - äh - arbeiten. Da wollte ich Sie nur fragen, ob ich Sie zu einer halben Pizza einladen darf."
"Pizza." Sehnsüchtig schloß Sarah die Augen. "Schon überredet." Sie hakte sich bei ihm ein. "Bei Ihnen oder bei mir?"
"Bei Ihnen. Ihr Büro hat immerhin zwei Stühle. Hoffentlich schmeckt Ihnen auch, was ich bestellt habe: extra Käse und Salami."
"Mit Zwiebeln?"
Er nickte bestätigend.
"Genauso, wie ich sie mag", hauchte sie glücklich.
Er lächelte hintergründig. "Ist das nicht merkwürdig...."
Als von der Pizza nur noch der fettige Pappkarton übrig war, lehnte sich Sarah zufrieden in Ihrem Stuhl zurück und musterte Firey aufmerksam, der diesen Check wortlos über sich ergehen ließ.
"O.K., Firey, was wollen Sie von mir? Ich habe die Bestechungspizza angenommen, jetzt sind Sie an der Reihe", forderte sie ihn auf.
"Ihre Offenheit gefällt mir", er lächelte und fuhr nach einer kurzen Pause fort: "Ich will wissen, was in dieser Firma über mich geredet wird."
Sarah hob eine Augenbraue.
"Die offizielle Version oder den Kaffemaschinen-Tratsch?"
"Den Tratsch bitte. Und lassen Sie nichts aus."
"Also schön, aber sagen Sie hinterher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt."
Sie legte die Fingerspitzen aneinander und überlegte kurz. "Also, wollen mal sehen... Zunächst hält man Sie allgemein für einen Spitzel der Zentrale."
"Das weiß ich bereits."
"Darüber hinaus hält man sie für den kommenden Mann im Vorstand."
"Auch das war mir bekannt."
"Und? Stimmt es?"
Er nickte.
"Es wird auch über eine Affäre mit Ihnen und der Tochter des Firmengründers geredet."
"Der Firmengründer hat gar keine Tochter." Er grinste. Auch Sarah begann nun, an dieser Unterhaltung Ihren Spaß zu haben.
"Aber daß der Tipp-Ex-Verbrauch in der Chefetage sprunghaft ansteigt, jedesmal wenn Sie dort einen Termin haben, das wußten Sie bestimmt noch nicht." Der Schalk blitzte aus ihren Augen.
"Wieso das denn?" fragte er ehrlich verwirrt.
"Ist Ihnen denn noch nie aufgefallen, daß sogar die Chefsekretärin den obersten Knopf ihrer Bluse offen hat, wenn Sie da sind?"
"Nein! Aber was soll das denn alles?"
"Oh, Firey. Sie enttäuschen mich. Bei Ihrem Knack... äh... bei Ihrer Figur bekommen alle Frauen in diesem Gebäude Herzflattern, wenn sie nur Ihr Aftershave auf dem Flur riechen."
"Tatsächlich?" Er war völlig perplex.
"Ja, klar!"
"Sie auch, Sarah?"
"Nein, ich nicht", antwortete sie ohne zu zögern.
Er sah sie nachdenklich an. " Sie sind eine bemerkenswerte Frau."
Dabei hätte man es bewenden lassen könne. Sarah hätte ihm nochmals artig für die Einladung gedankt, und ihn dann seine Wege geschickt. Doch ein kleiner Teufel, irgendwo hinter ihren Ohrringen hörte nicht auf, sie zu piesacken, so nahm sie statt dessen das äußerst ungehörige Gespräch wieder auf.
"Vertrauen gegen Vertrauen. Ich habe Ihnen erzählt, war über Sie getratscht wird, jetzt will ich von Ihnen wissen, was man sich so über mich erzählt."
Er war ihr einen schnellen Blick zu und antwortete dann prompt.
"Man hält Sie allgemein für eine Sternschnuppe, die wie aus heiterem Himmel in den Schoß dieser Firma gefallen ist und die seither unaufhaltsam ihre Bahn am Karrierehimmel zieht. Außerdem hat man mir gesagt, Sie wären außerordentlich schön, hinreißend charmant und geradezu unverschämt intelligent. Man würde Ihnen nur zu gern eine Affäre mit der Chefetage anhängen, aber man kann sich leider auf keinen Namen einigen. Und das erstaunlichste: Sie haben keine Neider!"
Unwillkürlich mußte sie lachen. "Firey, ich weiß zwar nicht, warum... aber ich mag Sie."
"Sie werden es noch einmal weit bringen, Sarah."
Sie versteifte sich in ihrem Stuhl und sagte kalt: "Ich habe das nicht aus Berechnung gesagt. Wenn Sie es aber so auffassen, nehme ich meine Äußerung wieder zurück."
"Das weiß ich doch. Aber es ist nun mal so, daß ich Sie auch mag. Ich habe noch nie eine Frau getroffen, die sich für Zwiebeln auf ihrer Pizza begeistern konnte. Darf ich Sie wiedersehen?"
"Oh, aber natürlich! Morgen früh um neun Uhr zur Abteilungssitzung."
Sarah gab weder Ihre Gespräche mit Jareth auf, noch entmutigte sie Firey in seinen Annäherungsversuchen. Unbelastet von einem schlechten Gewissen strebte sie einem Sommer in Arizona entgegen, der heißer zu werden versprach als die Hölle.
Kapitel 21
Jareth hatte die Veränderung an Sarah fast sofort bemerkt. Natürlich hatte sie ihm nicht gesagt, daß es einen anderen Mann in ihrem Leben gab. Er hatte im Gegenteil sogar das Gefühl, daß sie peinlich genau darauf achtete, sich nicht zu verraten. Der einzige Lichtblick der Jareth vor dem totalen Absturz rettete, war die Tatsache, daß Sarah nicht wirklich glücklich zu sein schien. Sie wirkte auf ihn zwar entspannt, gelassen, manchmal sogar fröhlich, aber nie gab sie sich so, wie eine Frau, die den Mann ihres Lebens getroffen hatte. Er hätte sie liebend gern danach gefragt, doch er war schlichtweg zu feige dazu. Er fürchtete sich vor ihrer möglichen Antwort. Damit sie nicht bemerken sollte, wie er jeden Tag mehr um Gleichmut und Fassung zu ringen hatte, wenn er sie sah, hatte er sich angewöhnt, jeden Abend ein oder zwei Glas Wein zu trinken. Es beruhigte seine Nerven. Mit der Zeit wurde aus dem einen Glas eine ganze Flasche Wein und ohne es wirklich zu bemerken, stieg er schließlich auf Brandy um. Da er an Alkohol ziemliche Mengen vertrug, ohne wirklich betrunken zu werden, fiel Sarah, die ohnehin mit ihren eigenen Angelegenheiten genug zu tun hatte, nie etwas auf.
Sarah mußte zum Beispiel peinlich genau darauf achten, mit Firey keine Verabredung für den Abend zu treffen, die zwangsläufig mit ihrem täglichen Termin mit Jareth kollidiert wäre. So überredete sie ihn stattdessen zu jeder Menge Tagesaktivitäten. Sie ging mit ihm joggen oder schwimmen, radfahren oder Eis essen und die Gerüchteküche bei Amazing Advertising kochte fast über. Sarah war sich ziemlich sicher, daß Firey bis über beide Ohren in sie verliebt war. Für sich selbst mußte sie diese Frage leider mit Nein beantworten. Sie mochte ihn zwar schrecklich gern, aber lieben würde sie immer nur Jareth. Trotzdem wollte sie es mit Firey unbedingt versuchen. Sie war sich sicher, daß eine Ehe mit ihm denkbar angenehm werden würde. Was ihr dazu an Liebe fehlte füllte sie mit Entschlossenheit auf.
Das Frühjahr war mittlerweile heftig und unvermittelt über Phoenix hereingebrochen und Sarah joggte mit Firey an einem sonnigen Samstagmorgen durch einen Park, der mit seinem frischen Grün geradezu protzte. Bei ihren anschließenden Dehnungsübungen an ihrer bevorzugten Parkbank griff Firey, immer noch leicht keuchend, ein Thema auf, das ihn schon eine ganze Weile beschäftigte.
"Ich wünschte, Sie würden mir mehr von sich erzählen - bevor Sie zu Amazing kamen."
"Solche Fragen kommen bei Amazing gar nicht gut an", konterte Sarah gelassen.
"Es werden doch nicht alle Angestellten etwas zu verbergen haben?"
"Ich würde eher sagen, das Gegenteil ist der Fall. Tess hat es mir am Anfang erklärt. Unsere Lebensläufe zeichnen sich allesamt durch einen gähnende Langeweile aus. Sonst wären wir alle nicht hier. Und über langweilige Dinge spricht man nicht. Erzählen Sie mir lieber etwas über sich! Warum um alles in der Welt liegen Sie eigentlich noch nicht an der Kette?"
"An der Kette?" Ab und zu kam er mit ihrer flapsigen Ausdrucksweise einfach nicht klar.
"Warum Sie noch nicht verheiratet sind?" übersetzte Sarah geduldig.
"Meine Verlobte starb an Leukämie. Das ist jetzt über fünf Jahre her." Er schwieg und sah Sarah abwartend an.
Sie setzte sich neben ihn auf die Bank und sagte leise: "Einen geliebten Menschen zu verlieren..."
"Danke."
"Wofür?"
"Dafür, daß Sie nicht so etwas albernes gesagt haben wie: das tut mir aber leid, oder: Wenn ich das gewußt hätte..."
Sie lächelte. "Was haben Sie dann getan?"
"Du liebe Güte, Sie sind aber hartnäckig! Wonach sieht es denn aus? Ich habe mich natürlich voll auf meine Karriere gestürzt."
"Und wohin hat es Sie gebracht?"
Seine Stimme wurde dunkel und seine Augen leuchteten mit einem sanften Feuer als er sagte: "Es hat mich zu dir gebracht."
Diese Eröffnung traf Sarah wie ein Schlag. Sie hätte zwar darauf gefaßt sein müssen, eigentlich hatte sie stündlich seine Liebeserklärung erwartet, aber die Realität hatte sie trotz allem überrascht. Es war ihm zweifellos verdammt ernst mit ihr. Einen Wimpernschlag lang hatte sie eindeutig ein schlechtes Gewissen, doch in der nächsten Sekunde hatte sie es bereits überwunden. Es ging hier schließlich um ihre Zukunft. Da konnte sie es sich nicht leisten zimperlich zu sein. Bevor sie noch Gelegenheit zu einer Erwiderung hatte, sprach er weiter.
"Ich habe damals geglaubt, ich würde nie wieder eine Frau finden, für die ich etwas anderes als Freundschaft empfinden könnte. Mein Leben war erfüllt mit freundlicher Gleichförmigkeit. Mehr hatte ich mir nicht mehr erwartet. Doch dann habe ich dich getroffen und seither hat mein Leben wieder Farbe bekommen." Er legte den Arm um sie und küßte sie leicht auf die Schläfe.
"Ich habe dich auch sehr gern, Firey. Aber es wäre besser, wenn wir es langsam angehen würden."
Er war einverstanden und sie war sehr froh darüber. Bei seinem Kuß waren ihre Zweifel um ein vielfaches verstärkt wieder zurückgekommen - sie hatte nicht das geringste dabei empfunden!
Bei Amazing Advertising blieb es natürlich nicht unbemerkt, daß Sarah und Firey zum vertrauteren "Du" übergegangen waren und die Spekulationen nahmen entsprechend zu. Sarah konnte Firey nun auch wohl oder übel nicht länger auf Distanz halten, nachdem sie ihm ihre Zuneigung eingestanden hatte. Im Büro mußten sich beide entsprechend zurückhalten, doch Sarah war trotzdem dankbar, daß Firey keiner von der stürmischen Sorte war. Tatsächlich war an seinem Benehmen nichts auszusetzen. Er war immer höflich und zuvorkommend. Nie drängte er sie zu etwas und nur in seinen Augen stand seine große Liebe zu ihr überdeutlich. Sarah war sich immer noch unsicher, was sie mit Firey eigentlich anfangen sollte. Sorgfältig vermied sie das Thema Verlobung und Hochzeit, denn bei dem kleinsten Wink von ihr - da war sie sich sicher - stünde er mit ihr garantiert schon vor einem Friedensrichter in Las Vegas. Sie gingen nun auch ab und zu abends miteinander aus und Sarah hatte das Schlimmste und Schwerste in ihrem Leben tun müssen: sie hatte Jareth angelogen.
Die Erinnerung an ihre erste Lüge brannte in ihr noch so frisch wie am ersten Tag. Die Zeit verwischte nicht die kleinste Einzelheit davon. Sie hatte ihm etwas von Überstunden und einem neuen Projekt erzählt, und daß sie voraussichtlich in den nächsten Monaten nicht rechtzeitig zu Hause sein würde. Er hatte ihr so völlig ohne Gefühlsregung zugehört, daß sie schon befürchtete, er habe sie durchschaut, und dies war nur die Ruhe vor dem Sturm. Doch bei Jareth hatte eine Flasche Brandy das ihrige dazugetan, daß er ruhig blieb, obwohl er vom ersten Moment an gemerkt hatte, daß sie log. So gab er ihr lediglich zu verstehen, daß sie sich nicht bei ihm entschuldigen müsse, ihre Arbeit wäre schließlich wichtig und sie solle sich deshalb nicht beunruhigen. Doch das war leichter gesagt als getan. Weit davon entfernt, nicht beunruhigt zu sein nahm ihre Beziehung zu Firey ihren Fortgang. Obwohl sie sich im Laufe der Wochen stetig näher gekommen waren und auch schon die ersten Küsse gewechselt hatten, empfand Sarah immer noch nicht mehr für ihn, als Freundschaft und echte Zuneigung, aber eben keine Liebe. Sie hatte gehofft, das Prickeln, das sie bereits bei Jareths bloßer Gegenwart gespürt hatte, würde sich mit steigender Vertrautheit und Intimität auch bei Firey einstellen, aber nichts davon geschah. Seine Küsse und Liebkosung ließen sie zwar nicht kalt, aber gleichgültig. Er entfachte in ihr nicht die Flamme der Leidenschaft, die bereits ein Blick aus Jareths Augen hoch in ihr auflodern ließ. Nichtsdestoweniger hatte sie sich dazu entschlossen einen Antrag von Firey anzunehmen, sobald er ihr einen machen würde. Sie würde Jareth und ihre Liebe zu ihm nie vergessen können, doch sie mußte realistisch sein und an ihre Zukunft denken. Sie würde nicht ewig die Kraft haben, ohne Gefährten durch diese Welt zu gehen. Dafür war sie nicht geschaffen.
Als im Sommer die Hitze in der Stadt kochte und sogar in vollklimatisierten Räumen nahezu unerträglich wurde, lud Firey sie ein, das Wochenende mit ihm in den Bergen zu verbringen.
"Du wirst sehen, es ist wunderschön dort."
"Firey, du sollst mir doch keine unsittlichen Anträge machen, wenn ich gerade wichtige Unterlagen kopiere", rügte ihn Sarah.
"Das ist jetzt nicht der Punkt."
"Nein, der Punkt ist vielmehr, woher du überhaupt weißt, daß es dort wunderschön ist, du warst doch noch niemals dort."
"Wenn ich dich erstmal da oben habe, weitab von allen anderen Menschen, dann Sarah, glaube mir, werde ich alles daran setzen um es für dich wunderschön zu machen." Sein Mund war sehr nahe an ihrem Ohr, als er dies zuflüsterte und sein anschließender, flüchtiger Kuß auf ihren Nacken jagte zum ersten Mal den Schatten eines Schauers über ihren Rücken. Diese ungewohnte Empfindung verunsicherte sie fast mehr, als sein geflüstertes Versprechen. So leidenschaftlich war er in ihrer Gegenwart noch nie gewesen. Sie ahnte nicht, daß dies Fireys letzter Versuch war, ihre Festung im Sturm zu erobern, bevor er sich geschworen hatte, die Flinte endgültig ins Korn zu werfen. Er hatte sich mit jeder Faser seiner Seele in Sarah verliebt. Hatte er anfangs Verständnis für ihr Zögern gehabt, zerriß es ihm nun fast das Herz. Sein einsamer Körper sehnte sich nach ihr. Dieses Wochenende in den Bergen war der letzte Köder, den er nach ihr auswerfen wollte. Wenn sie nicht mit ihm mitkommen würde, würde er die Stadt verlassen und versuchen, Sarah zu vergessen. Doch er wußte jetzt schon, daß das für ihn unmöglich sein würde. Sie hatte ihm nach seinem schweren Schicksalsschlag wieder neuen Lebensmut gegeben und seinen abgestumpften Körper wiedererweckt. Jetzt hieß es nur noch sie oder keine.
Sarah dachte fieberhaft nach. Zum ersten Mal wurde ihr seine körperliche Nähe tatsächlich bewußt. Instinktiv spürte sie, wenn sie diesmal ablehnte, würde es kein nächstes Mal mehr geben. Verflixt, was war nur mit ihr los! Hatte sie sich nicht geschworen, es wenigstens mit ihm zu versuchen? Hier war sie nun, die einmalige Gelegenheit. Immerhin hatte er ihr keinen Heiratsantrag gemacht. Was war schon dabei? Sie würden das Wochenende zusammen verbringen und danach konnte sie immer noch einen Rückzieher machen, wenn er sich als totaler Reinfall erwies. Doch aus irgendeinem Grund glaubte sie nicht daran, daß er ein totaler Reinfall sein könnte... vielleicht weil sie immer noch den sanften Druck seiner Lippen auf ihrem Nacken spürte, obwohl er schon lange nicht mehr hinter ihr stand. Sie sah von ihren Kopien auf und suchte seinen Blick.
"Ich würde gerne das Wochenende mit dir verbringen. Wann möchtest du mich abholen?"
"A crystal moon"
Kapitel 22
Die Fahrt zu dem kleinen Wochenendhäuschen hatte nur knapp vier Stunden gedauert. Sie waren Samstags zeitig aufgebrochen und so war es erst kurz nach Mittag, als sie an ihrem Ziel angelangt waren. Sarah mußte zugeben, daß es wirklich sehr schön war und so romantisch, daß es nahezu strafbar war. Das Häuschen lag auf einer großen Waldlichtung und von einem kleinen See strömte ihnen angenehm kühle Luft entgegen. Was war dagegen schon eine Klimaanlage! Erleichtert stieg Sarah aus dem Auto aus. Fast die ganze Fahrt über war ihr schlecht gewesen. Jedesmal wenn sie an ihr gestriges Gespräch mit Jareth dachte, wurde ihr übel. Und sie dachte verflixt oft daran, denn sie hatte ihm das unglaublichste Lügenmärchen aller Zeiten vorgetischt und er hatte es anstandslos hingenommen.
"Ich muß am Wochenende dringend nach Hause fahren, Jareth."
"Ist etwas passiert?"
"Ja, nein, ich weiß nicht. Meinem Dad geht es nicht gut." Ihre Blässe, hervorgerufen durch die ungewohnte Lügerei, verhalf ihrer Lüge kurioserweise zur nötigen Glaubwürdigkeit. Einen kurzen Moment lang glaubte Jareth ihr sogar. Doch dann bemerkte er eine Veränderung in der Farbe ihrer Aura und er wußte, daß er sie an diesem Wochenende an einen anderen Mann verlieren würde. Diese Erkenntnis traf ihn wie ein leichter Schock. Unfähig in irgendeiner Form darauf zu reagieren und von einer Flasche Brandy bereits leicht benebelt, sagte er schließlich nur das, was sie offensichtlich von ihm hören wollte.
"Das tut mir leid, Sarah. Du wirst morgen sicher früh los fahren wollen, dann gehst du am besten gleich zu Bett. Gute Nacht, Sarah." Er hatte sich schon halb abgewandt, da richtete er noch einmal seinen Blick auf sie. Sie trug noch immer seine Halskette.
Er schluckte trocken. "Du erzählst mir dann am Sonntag Abend, wie es war. Das tust du doch?"
Sarah war so damit beschäftigt, ihn glaubwürdig zu belügen, daß sie seine Verzweiflung nicht bemerkte. "Natürlich, Jareth. Gute Nacht."
Sogar jetzt wurde ihr noch ein kleines bißchen übel, wenn sie wieder daran zurück dachte. Doch Firey ließ ihr von diesem Moment an keine Zeit mehr, um in grüblerischen Gedanken zu versinken.
"Komm´ Sarah, trag deine Tasche ins Haus und dann gehen wir im See schwimmen."
"Oh ja, das ist eine wunderbare Idee, Firey."
Das Schwimmen artete sehr bald in eine zärtliche Planscherei aus, die nicht nur Firey sehr viel Vergnügen bereitete. Sarah dachte kaum noch an Jareth, wie könnte sie auch! War sie doch mit ihm nie in einer vergleichbaren Situation gewesen. Sie war zwar schon öfter mit Firey schwimmen gegangen, doch dort hatte sie nie ihre Hände so besitzergreifend über seinen breiten Rücken wandern lassen und er hatte auch nie so bewundernd seinen Arm um ihre Taille gelegt. Sie genoß das Zusammensein mit ihm wirklich. Er sah aber auch zu gut aus. Auf seiner muskulösen Brust sproß kein einziges Haar, sein Bauch war glatt und fest und sein Po schien wie gemacht für eine Slip-Reklame. Doch auch Firey hatte allen Grund mit seiner Begleiterin zufrieden zu sein. Ihr Nacken war anmutig geschwungen, ihre Taille war fast schon zierlich zu nennen, ihre Beine waren einfach atemberaubend und ihre Brüste waren fest und rund. Nach dem Schwimmen gingen sie noch im Wald spazieren, um sich vor dem Abendessen noch etwas Appetit zu holen, es wurde jedoch eher ein gemütliches Schlendern mit vielen verliebten Pausen, als ein ordentlicher Spaziergang. So kam es, daß Sarah die Hütte mit rosig überhauchten Wangen betrat, die sie noch um ein vielfaches reizvoller wirken liessen. Firey schwebte im siebten Himmel. Auf diese Idee hätte er schon viel früher kommen können. Er würde sich ernsthaft überlegen müssen, ob er seine Geliebte jemals wieder in die Stadt zurückbringen sollte, nicht daß sie sich wieder in jenes zurückhaltende Geschöpf verwandelte! Das Abendessen fiel in Form von Fertiggerichten aus der Mikrowelle etwas phantasielos aus, doch die flackernden Kerzen und Sarahs leuchtende Augen glichen diesen Mißton völlig aus. Sie waren sich beide völlig im klaren darüber, wozu sie hierhergefahren waren. Falsche Scham kam so gar nicht erst auf. Das Dessert blieb daher unbeachtet in der Küche stehen. Bei leiser Musik tanzten Sarah und Firey engumschlungen durch die kleine Hütte in Richtung Schlafzimmer. Sarah war mehr als bereit dazu, sich von ihm lieben zu lassen, doch bevor es richtig ernst wurde, mußte sie ihm unbedingt noch etwas sagen, auch auf die Gefahr hin, den Zauber der Stille zu brechen. Sie drehte ihren Kopf, der hingebungsvoll an seiner Schulter ruhte, in die andere Richtung und knabberte an seinem Ohrläppchen.
"Ich muß dir noch etwas sagen, Firey", flüsterte sie.
"Was denn, mein kleiner Liebling."
"Du wirst nachher auf unberührtes Gebiet treffen."
Er hörte für einen Augenblick auf zu tanzen und legte einen Finger unter ihr Kinn.
"Willst du damit sagen, daß du noch Jungfrau bist?"
"Ja... stört es dich sehr?"
"Nein, das ist es nicht. Es verblüfft mich nur." Er betrachtete sie. In seinen Augen stand ein sinnliches Glühen. "Mangel an Gelegenheit kann es nicht gewesen sein - bei so einer hinreißenden Frau."
"Nein, das war sicher nicht der Grund", erwiderte sie spöttisch, ihr Blick verschleierte sich, als sie fortfuhr: "Es war bis jetzt einfach noch nicht der Richtige dabei..."
Ein sanfter Kuß verschloß ihre Lippen. Sie spürte, wie eine angenehme Schwäche sie überkam und erwiderte den Kuß mit geöffneten Lippen und spielerischen Zungenschlägen. Seine Küsse wurden durch ihre Bereitwilligkeit immer fordernder, seine Zunge drängender und Sarah genoß jede einzelne Sekunde. Während sein Mund ihren Hals hinabwanderte, eine schmale Spur von kleinen, feuchten Liebesbissen hinterlassend, knöpften ihre zitternden Finger sein Hemd auf. Sie standen immer noch im Flur vor dem Schlafzimmer, doch das Feuer, das in ihnen brannte, ließ das bequeme Bett plötzlich nebensächlich erscheinen. Sein Atem ging stoßweise, während er sie beobachtete, wie sie ihre Bluse auszog. Sie warf ihm unter den Wimpern eine lasziven Blick zu und öffnete auch noch die Haken ihres BH´s. Nach einigen weiteren hastigen Handgriffen lagen alle restlichen Kleidungsstücke verstreut auf dem Fußboden und Sarah und Firey hatten schließlich doch noch den Weg ins Schlafzimmer hinein gefunden. Sie lagen auf dem Bett, wo plötzlich alle Hast von ihnen abgefallen war. Seine Hände und Lippen wanderten über ihren ganzen Körper und seine Zärtlichkeiten weckten in ihr ein nahezu tierisches Verlangen nach ihm. Sie sehnte sich nach seinem Körper und bog sich ihm entgegen. Fireys Begierde nach ihr wuchs ebenfalls mit jeder Berührung, doch er nahm sich Zeit. Er wollte, daß sie völlig bereit war für ihn und ihr erstes Mal. Seine Finger suchten sich einen Weg zwischen ihren Schenkeln und sie stöhnte wollüstig auf. Für den Hauch eines Augenblicks dachte sie dabei an Jareth um ihn sofort wieder zu vergessen - zu übermächtig war Fireys Gegenwart. Doch dieser Augenblick hatte genügt, um für den Bruchteil einer Sekunde einen überirdischen Glanz auf ihr Gesicht zu zaubern. Das Leuchten der wahren Liebe. Diese Veränderung war von Firey nicht unbemerkt geblieben. Er wußte, was es war und er wußte im selben schrecklichen Moment, daß es nicht ihm galt. Innerhalb eines Wimpernschlags lag sein Leben zum zweitenmal in Trümmern. Er seufzte tief und zog seine Hand zurück.
"Was - was ist los? Warum hörst du auf?" Ihre Augen starrten ihn fragend an.
"Wer immer der Kerl ist - er hat das große Los gezogen." Die Bitterkeit in seiner Stimme war unüberhörbar. Mit einem Schlag fiel alle Erregung von Sarah ab. Firey hatte erraten, daß sie einen anderen liebte. Ihr Geist arbeitete fieberhaft. Sie war ihm eine Erklärung schuldig. Nur Gott allein konnte wissen, wie sehr sie ihn damit verletzt hatte. Um Zeit zu gewinnen wickelte sie sich in ein Bettuch. Er lächelte resigniert und tat es ihr gleich.
"Du hast recht, Firey. Ich liebe einen anderen."
"Warum bist du dann nicht mit ihm zusammen? Liebt er dich etwa nicht?"
"Nein. Er liebt mich auch. Es sind unsere Lebensumstände. Sie sind viel zu verschieden. Ich müßte alles aufgeben, um bei ihm zu sein. Dazu fehlt mir leider Gottes der Mut." überwältigt von ihrer eigenen Misere versagte ihr die Stimme und sie schwieg. Doch Firey hatte sie bereits verstanden. Mit der Intuition eines Liebenden begriff er ihre Tragik.
"Ich weiß, was in dir vorgeht, Sarah. Doch ich kann in deinem Leben nicht die zweite Geige spielen. Aber wenn du eines Tages endlich von ihm losgekommen bist, dann werde ich für dich da sein."
"Du darfst nicht auf mich warten! Das verbiete ich dir!" rief sie wütend. Eine Träne glitzerte auf ihrer Wange.
"Keine Sorge. Ich werde nicht auf dich warten. Ich glaube nur nicht, daß mir jemals wieder eine Frau wie du über den Weg läuft. Ich liebe dich, Sarah."
"Oh, Firey", sie wischte sich die Tränen weg und bemühte sich um Fassung. "Ich habe dich wirklich sehr gern, aber..." sie stockte und sprach erst nach einer kurzen Pause weiter: "Kann ich heute nacht noch hierbleiben? Ich werde auf dem Sofa schlafen." Ihre Stimme klang wieder so nüchtern wie sonst. Bewundernd sah er sie an.
"Natürlich kannst du bleiben. Hast du gedacht, ich werfe dich mitten in der Nacht raus? Und auf dem Sofa schlafe ich. Du bleibst hier." Sie widersprach ihm nicht und er suchte sich noch ein Kissen und eine Decke zusammen. Bevor er den Raum verließ drehte er sich noch einmal zu ihr um.
"Danke."
"Wofür?" Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wofür er ihr dankbar sein konnte.
"Dafür, daß du nicht gesagt hast: wir können doch trotzdem Freunde sein...Es hätte nicht funktioniert."
"Ich weiß. Deshalb habe ich es ja auch nicht gesagt."
Sie hörte ihn leise lachen.
Kapitel 23
Am nächsten Morgen waren sie schweigend wieder in die Stadt zurückgefahren. Es war kein feindseliges Schweigen gewesen, sondern eine freundliche, heilsame Stille.
Er hatte sie nach Hause gefahren und ihr beim Abschiednehmen mitgeteilt, daß er sich gleich am Montag in eine andere Abteilung und dann in eine andere Stadt versetzen lassen würde. Er versprach ihr, nicht auffällig vorzugehen und sie war einverstanden. Innerlich leer betrat sie ihre Wohnung. Sie mußte Jareth alles erzählen. Sie war es ihm schuldig.
Mit verkrampften Händen und angstvoll klopfendem Herzen nahm sie vor ihrem Spiegel Platz und rief nach dem Mann, den sie wirklich liebte. Wie er allerdings auf ihre Eröffnung reagieren würde, war nicht abzusehen. Während sein Bild in ihrem Spiegel immer klarer wurde, erinnerte sie sich flüchtig an die Furcht, die er ihr bei ihrem allerersten Treffen eingeflößt hatte. Doch diese Erinnerung trug nicht dazu bei, sie zu beruhigen - im Gegenteil. In diesem Augenblick wirkte er jedoch eher überrascht, als wütend.
"Sarah, du bist schon zurück? Ich hatte dich nicht so früh erwartet."
Sie nahm ihr letztes bißchen Mut zusammen und fing an, ihm die Wahrheit zu beichten. "Ich muß dir etwas sagen, Jareth. Ich war dieses Wochenende nicht bei meinen Eltern, meinem Vater geht es auch nicht schlecht. Ich bin dieses Wochenende mit einem anderen Mann fortgewesen." Jetzt war es heraus. Sie hatte nicht gewagt, ihn anzusehen, doch als jetzt immer noch alles still war, blinzelte sie unter den Wimper hervor. Sein Gesichtsausdruck war noch genauso unbewegt wie zuvor. Lediglich seine Wangen erschienen ihr ein klein wenig blasser, doch das konnte genausogut an dem fahlen Licht liegen, das sein Zimmer unwirklich erhellte. Sie atmete tief durch. "Aber es ist nichts passiert." Forschend betrachtete sie ihn. Seine Ruhe war ihr unheimlicher, als ein wütender Schrei. Lediglich seine Wangen hatten wieder eine zartere Färbung angenommen. Sarah ahnte noch nicht, was sich hinter dieser äußeren Maske der Gelassenheit verbarg. Jareth bot seinen ganzen Willen auf, um den in ihm tobenden Sturm unter Kontrolle zu halten. Ihre ersten Worte hatten wie mit eisigen Klauen nach seinem Herzen gegriffen. Die darauffolgende Erleichterung hatte ihm nahezu Flügel verliehen, ihre schuldbewußte Haltung hingegen brachte ihn nach und nach auf den Boden der Tatsachen zurück. Er seufzte. Es war wieder einmal an ihm, die Vernunft sprechen zu lassen. Bevor er noch etwas sagen konnte, hielt Sarah das Schweigen nicht länger aus.
"Wie kannst du nur so ruhig dasitzen! Ich erzähle dir gerade, daß ich drauf und dran war, dich mit einem anderen Mann zu betrügen und alles was du tust, ist einfach dazusitzen und mich anzustarren, als wäre ich ein - ein...." verärgert suchte sie nach Worten, die stark genug waren, um ihre seelische Verwirrung auszudrücken.
"...ein besonders interessantes Insekt?" half Jareth ihr heimlich amüsiert aus.
Sarah blieb vor lauter Überraschung der Mund offen stehen. Jareth ergriff diese Chance und fuhr mit sanfter Stimme fort. "Auch ich habe dir einiges zu sagen. Ich hätte dir deine Beichte erleichtern können. Ich habe es nämlich gewußt. Es ist nur so, ich wollte es unbedingt von dir selbst hören."
"Du hast es gewußt?"
"Ja, die ganze Zeit über."
"Aber - aber woher? War es meine Aura? War es das?"
"Nicht unbedingt. Ich hätte es auch aus der Farbe deiner Aura lesen können, doch ich wußte es aus einem anderen Grund. Es war viel zu offensichtlich, als daß ich es hätte übersehen könne. Du lügst so verdammt schlecht, Sarah."
"Du wußtest es von Anfang an?" Sarah war fassungslos. "Ich hätte nie gedacht... du warst die ganze Zeit über so ruhig..."
"Schreibe das lieber nicht meinem edlen Charakter zu", seine Stimme troff vor Ironie. "Für die Gelassenheit war mein Freund, Mr. Brandy, zuständig." Mit einer lässigen Handbewegung rückte er die halbleere Flasche in ihr Blickfeld.
"Du hast getrunken?" fragte sie ungläubig. "Meinetwegen?"
"Ja, auch deinetwegen", gab er unwillig zu. "Ich wollte uns das Schauspiel ersparen, das ich ohne Alkohol sicherlich geboten hätte."
"Bist du auch jetzt..." lächerlicherweise wich sie vor ihm zurück.
"Betrunken?" vollendete er ihre Frage. "Nein, noch nicht. Ich vertrage eine ganze Menge. Erinnere dich, daß ich vorhin gesagt habe, ich hätte dich noch nicht so früh zurück erwartet. Ich habe gerade erst angefangen zu trinken."
"Oh, Jareth! Warum hast du mich nicht zurückgehalten! Ein Wort von dir hätte genügt." Ihre eigene Dummheit und Kurzsichtigkeit quälten sie.
Er sah sie lange an. So lange, bis sie den Blick unter seinen brennenden Augen senkte. "Ich weiß, daß ein Wort, ein Blick von mir genügt hätten, um dich zurückzuhalten. Aber welches Recht hätte ich dazu gehabt? Ich bin nicht dein Vater, Bruder, Onkel oder sonst ein Verwandter. Ich bin nicht dein Mann, dein Verlobter oder dein Liebhaber. Ich bin nur so ein Kerl, mit dem du dich ab und zu triffst. Welches gottverdammte Recht hätte ich also gehabt?" Seine Worte prasselten wie Hagelschauer auf sie hernieder, doch sie nahm es hin. Er hatte ja so recht. Sein Puls hatte sich während seiner Rede beschleunigt und er atmete ein paarmal tief durch, um sich wieder zu beruhigen. Er hatte nicht so hart gegen sie sein wollen. "Sieh mal, Sarah", sie sah zu ihm auf, denn seine Stimme hatte wieder den seidenweichen Klang, den sie so an ihm liebte. "Sieh mal. Ich wußte, daß es früher oder später passieren würde. Ich mußte dich diese Erfahrung machen lassen. Und ich denke, es wird irgendwann wieder passieren."
"Aber es ist doch gar nichts passiert", flüsterte sie ihm zu.
"Warum eigentlich nicht?" Die Frage war schneller heraus, als er nachdenken konnte. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie ihm statt einer Antwort eine Flut wüster Beschimpfungen zuteil werden ließ. Stattdessen zögerte Sarah nur kurz und beantwortete dann seine Frage.
"Es hat keinen Sinn, irgend etwas davon zu verschweigen. Ich hätte es getan. Ich war wirklich dazu bereit... nur, im entscheidenden Augenblick dachte ich an dich - und er hat es gemerkt. Von da an hat er sich wie ein Gentleman verhalten."
"Er hat es gemerkt? Dann muß er dich sehr lieben..."
"Ja, das tut er. Leider Gottes. Aber ich liebe ihn nun mal nicht."
"Warum nicht? Ist er nicht attraktiv oder nicht charmant genug?"
Sarah lächelte leicht, aber sie schüttelte den Kopf. "Doch, das ist er alles und noch viel mehr - aber ich liebe ihn trotzdem nicht. Ich liebe dich."
Bei dieser schlichten Erklärung wurde Jareths Herz so leicht, daß er ihr noch eine Frage stellen wollte, die ihn schon lange bedrückte.
"Findest du mich eigentlich - attraktiv?"
Zuerst dachte Sarah, sie hätte ihn nicht richtig verstanden, doch dann merkte sie, daß es ihm mit dieser Frage bitter ernst war. Ihr wurde bewußt, daß sie es ihm nie gesagt hatte, wie sehr er ihr gefiel. Ihr Herz flog ihm zu, wie er dasaß und ängstlich auf ihre Antwort wartete und dabei seiner selbst so unsicher, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Ihr Blick und ihr Gesichtsausdruck wurden vor Zärtlichkeit sehr weich und weiblich. "Oh ja. Ich finde sogar, du bist attraktiver, als eigentlich erlaubt sein sollte."
Er lauschte vergebens auf einen spöttischen Unterton in ihrer Stimme und ein prüfender Blick auf ihre halb gesenkten Wimpern und ihre leicht geöffneten Lippen überzeugten ihn restlos von ihrer Ehrlichkeit. Er hielt ihren Blick fest, während er sich langsam sein Hemd aufknöpfte.
"Was tust du da?" fragte sie, ohne ihre Haltung zu verändern.
"Ich will wissen, ob dir alles an mir gefällt", flüsterte er mit heiserer Stimme. "Kleidung kann so viel verbergen." Es entging ihm nicht, daß sich Sarahs Brust rasch hob und senkte. Mit einer anmutigen Bewegung streifte er seine offenes Hemd von seiner linken Schulter. Die Wirkung seines teilweise entblößten Oberkörpers auf Sarah war verblüffend. Er hätte nie geahnt, welche Macht ihm dies über sie gab! Die Lippen immer noch leicht geöffnet, die Wangen gerötet, hingen ihre Blicke wie gebannt an seinem Körper. Nur mit größter Willensanstrengung gelang es ihr, zu sprechen. "Du solltest das lieber nicht tun, Jareth." Ihre Stimme klang leicht atemlos.
"Warum nicht?" hauchte er zurück. "Gefällt dir nicht, was du siehst?"
"Im Gegenteil... es macht mich sogar verdammt heiß..." Ihre Stimme vibrierte vor unterdrückter Erregung. Jareths Verlangen bekam durch ihre Worte neue Nahrung und er streifte sein Hemd mit quälender Langsamkeit von seinem schlanken, muskulösen Oberkörper. In Sarahs Schoß breitete sich nun eine ihr allzu bekannte Hitze aus. Ihre Hände gehorchten ihr nicht mehr und wie im Rausch folgte sie Jareths Bitte, sie möge doch auch ihre Bluse ausziehen. Ihr BH aus schwarzer Spitze unterstrich die Makellosigkeit ihrer hellen Haut, ihr Medaillon glitzerte geheimnisvoll auf ihrem Dekolleté, während ihre Hände spielerisch über ihren Körper glitten. Auch Jareth war bei ihrem Anblick nicht mehr Herr seiner Sinne. Wie sie vor ihm saß, erregt seinen Namen flüsternd, bot ihm ein sinnliches Schauspiel, das er nie vergessen würde. Sarah war durch seine Gegenwart nicht minder aufgepeitscht. Seufzend ließ sie ihre Hände an ihren Schenkeln entlang streicheln, bis sie die Spannung nicht mehr ertrug. "Oh, Jareth! Warum bist du nicht hier bei mir!" Ihr ekstatischer Ausruf brachte beide mit einem Ruck in die Realität zurück, die ihnen nahezu gleichzeitig die Absurdität ihres Handelns vor Augen führte. Sarahs Augen füllten sich mit Tränen und sie brach schluchzend auf ihrer Frisierkommode zusammen. Ernüchtert und unfähig sie zu trösten, sah Jareth ihr zu.
"Ich kann einfach nicht bis Halloween auf dich warten", stieß sie zwischen zwei Schluchzern hervor. "Ich kann nicht und ich will auch nicht. Ich brauche dich hier bei mir. Sag´ mir um Himmels Willen, wie ich dich hierher holen kann! Es ist mir egal, ob es dabei Probleme geben kann!"
Jareth seufzte. Nun würde er sich nicht mehr herauswinden können. Jetzt war es an ihm, ihr reinen Wein einzuschenken. Er wartete geduldig, bis sie nur noch gelegentlich schnüffelte und ergriff dann das Wort. "Wenn du mir ruhig zuhörst, ohne mich zu unterbrechen, werde ich es dir erklären." Sie nickte deprimiert und er fuhr fort: "Es gibt eine Zauberformel, die es mir möglich macht, dein Reich zu betreten. Diese Formel müßte von dir ausgesprochen werden, wobei dein Reich in diesem Fall deine jeweiliger Aufenthaltsort wäre - also deine Wohnung... Sarah, unterbrich mich bitte nicht. Die Sache hat nämlich einen Haken. Wendest du diese Formel auch nur ein einziges Mal an, so gilt sie für alle Zeiten! Du gewährst mir damit unbeschränkten Zutritt. Ich könnte also kommen und gehen, wie ich wollte. Ich müßte dann nicht mehr warten, bis du mich rufst. Selbst durch einen Wohnungswechsel könntest du mir nicht mehr entkommen." Er sprach eindringlich, denn er wollte, daß sie nichts von alledem auf die leichte Schulter nahm. "Das mag dir im Moment nicht besonders schlimm vorkommen - ich brauche dir nicht erst zu versichern, daß ich diese Möglichkeit nicht ausnützen würde - doch wie sieht die Situation in fünf Jahren aus... oder in zehn? Vielleicht findest du doch noch einen Mann den du liebst. Wie willst du ihm erklären, daß in eurem Haushalt der Koboldkönig ungehindert ein- und ausgehen kann?" Er lehnte sich zurück, sein Blick glitt über ihren halbnackten Körper und er verspürte wieder ein leichtes Prickeln während er auf eine Reaktion von ihr wartete.
Sie dachte gründlich über das nach, was er ihr soeben gesagt hatte.
"Ich verstehe." Erwiderte sie schließlich.
"Gut. Die Zeit der Heimlichkeiten ist endgültig vorbei. Daher werde ich dir jetzt die Formel sagen. Aber überlege es dir gut, bevor du sie anwendest. Bedenke, daß sie ewig währt. Bedenke auch, daß es schließlich nur noch knappe drei Monate bis Halloween sind." Er machte eine kurze Pause, bevor er die Zauberformel zitierte: "Ich wünsche, daß dem König der Kobolde Einlaß in mein Reich gewährt wird. Ab diesem Augenblick."
"Das ist es?"
"Das ist es."
Zum wiederholten Male legte Jareth die Zukunft ihrer Beziehung in Sarahs Hände. Im vollen Bewußtsein über den Ernst der Situation hoffte sie inbrünstig, sie möge diesmal das Richtige tun und ihn nicht enttäuschen.
"Ich danke dir, Jareth - für alles."
"Ich habe zu danken. Du hast mir einen unvergeßlichen Abend bereitet, meine kleine Elfe." Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke und die Lust kam für einen Augenblick zurück, dann war der Bann wieder gebrochen. Sarah warf ihm noch ein Kußhändchen zu, das er geschickt auffing, dann verabschiedeten sie sich voneinander, um eine erregende Erfahrung reicher.
Kapitel 24
Firey hatte Wort gehalten. Er war so lautlos und unauffällig verschwunden, wie es einem Menschen aus Fleisch und Blut möglich war. Wäre er allerdings ein Geist gewesen, hätte sein Verschwinden nicht unauffälliger sein können. Auf der letzten Sitzung, bei der er anwesend war, wurden einige lapidare Erklärungen abgegeben, warum er schon so bald fortging, um eine andere Filiale unter die Lupe zu nehmen, wobei die vollzählig versammelte Chefetage dazu ein Gesicht machte, als ob sie es genauer wüßten und den kleinen Angestellten nur nicht verraten würden, dabei waren sie genauso unwissend wie alle anderen auch.
Erst eine Woche nach Fireys Verschwinden traute sich Sarahs direkter Vorgesetzter, bei ihr einen Schuß ins Blaue abzugeben. Sie lief ihm auf der Suche nach Druckerpapier über den Weg und er nutzte diese Chance um sie in ein - wie er hoffte - klärendes Gespräch zu verwickeln. Es war nicht auszudenken, wenn in Mr. O´Keefes Bericht über ihre Filiale etwas Negatives stehen würde...
"Ah, Miss Williams! Ich wollte schon lange mal bei Ihnen vorbeischauen."
"Guten Tag, Mister Shaw. Wir können gerne in mein Büro gehen."
"Nein, nein. Lieber nicht", winkte Mr. Shaw hastig ab. "Es ist eine etwas heikle Angelegenheit. Ich möchte lieber keinen offiziellen Termin daraus machen."
In Sarah stieg ein dunkler Verdacht auf. Trotzdem blieb sie nach außen hin ruhig und kühl.
"Ich wollte sie schon seit einiger Zeit fragen, wann sie uns verlassen wollen, Miss Williams", fuhr Mr. Shaw fort, als er sich vergewissert hatte, daß sich außer ihnen niemand auf diesem Korridor aufhielt.
"Sie verlassen? Ich hatte nicht einmal im Traum daran gedacht, die Firma zu wechseln." Sarah war sichtlich geschockt. "Wenn sie aber glauben, es wäre besser, dann..."
"Nein, Miss Williams, um Gottes Willen!" Mr. Shaw war nicht weniger schockiert als Sarah. So ein dummes Mißverständnis! "Hier will sie niemand loswerden. Was ich eigentlich meinte war nur, daß... nun ja, da doch Mr. O`Keefe nun fort ist, da dachten einige wohl, sie hätten auch vor..."
Sarah mußte sehr an sich halten, um ihren Chef nicht auszulachen. Seine Unbeholfenheit hatte etwas rührend Komisches an sich. Doch gleich darauf wurde sie wieder ernst, als sie begriff, welche Meinung über sie und ihre Beziehung zu Firey in der Firma kursierte.
"Mr. O`Keefe hat mich nicht abgeworben, wenn sie das meinen." Sie senkte den Blick. "Ich fürchte, wir waren nicht sehr diskret."
"Und ich fürchte, daß selbst die größte Diskretion nichts genutzt hätte. Mr. O`Keefe stand denn doch zu sehr unter allgemeiner Beobachtung." Es war lediglich ein milder Scherz, den Mr. Shaw gemacht hatte, um seinen väterlichen Beschützerinstinkt zu kaschieren, der ihn gelegentlich gegenüber seinen jüngeren Untergebenen überkam. Besonders wenn sie so unverkennbar traurig Löcher in den Teppichboden starrten. Doch der leichte Scherz, mochte er auch noch so dumm gewesen sein, bewirkte, daß Sarah den Kopf wieder hob, ihren Chef geradeheraus anblickte und mit entschlossener Stimme sagte: "Es wird nicht wieder vorkommen, Mr. Shaw."
Er konnte sich gerade noch rechtzeitig davor zurückhalten, ihr liebevoll die Wange zu tätscheln. Stattdessen lachte er. "Und wenn schon. Solange uns die Kunden, die durch sie betreut werden, die Tür mit Folgeaufträgen einrennen, können sie von mir aus tun und lassen, was sie wollen, Miss Williams. Machen Sie weiter so. Wir sind sehr mit Ihnen zufrieden." Mit Genugtuung bemerkte er, daß Miss Williams noch nicht zu abgebrüht war, um nicht durch ein Lob sehr kleidsam zu erröten. Auf seinem Rückweg in sein Büro warf er im Vorbeigehen seiner Sekretärin einen flüchtigen Blick zu und seufzte leise. Ihre Bluse war hochgeschlossen und zugeknöpft. Es gab keinen Zweifel - Mr. O`Keefe war tatsächlich fort.
Als Sarah endlich mit ihrem aus fünf verschiedenen Büros erbettelten Druckerpapier in ihr eigenes Büro zurückeilte, fand sie in ihrem "Vorzimmer" ein reizendes Bild vor.
Mr. Millford war schon wieder da! Und schon wieder plauderte er angeregt mit Tess! Insgeheim amüsierte sich Sarah über die ganze Angelegenheit. Hatte es doch zuerst ganz so ausgesehen, als ob Mr. Millford hinter Sarah hergewesen wäre. Ihr selbst war seine ständigen Anrufe, Besuch, Folgeaufträge und Besprechungen bald so auf die Nerven gegangen, daß sie sich schließlich immer öfter von Tess hatte verleugnen lassen. Je öfter Mr. Millford nun mit Tess sprach, desto mehr wandte er seine Aufmerksamkeit von Sarah ab. In der Zwischenzeit lernte Sarah die Worte "Henry sagt..." oder "Henry hat..." begleitet mit einem schmachtenden Augenaufschlag von Tess fürchten gelernt. Sie konnte nur hoffen, "Henry" würde ihre Assistentin endlich einmal zum Essen einladen, damit die Angelegenheit endlich zum Abschluß kam. Die beiden würden hervorragend zu einander passen!
Durch Sarahs Eintreten offensichtlich gestört, sah Mr. Millford demonstrativ auf seine Uhr, sagte zu Sarah etwas wie: "...habe nur schnell die Korrekturbögen vorbeigebracht, habe eigentlich gar keine Zeit mehr, muß gleich wieder los..." und raunte Tess noch ein schnelles "bis heute abend" zu und war auch schon wieder draußen. Tess blickte ihm noch schmachtend nach und seufzte romantisch.
Sarah verdrehte daraufhin die Augen. "Hat er dich nun doch noch zum Abendessen eingeladen?" Grinste sie. "Ich hatte schon befürchtet, er wäre zu schüchtern dazu."
"Henry ist eben ein Gentleman", protestierte Tess leicht beleidigt. "Hier sind übrigens noch zwei Faxe gekommen. Was soll ich nur anziehen?"
Sarah konnte nicht anders. Sie brach in schallendes Gelächter aus.
"Das ist gemein, Sarah. Mich so auszulachen!" schmollte Tess.
"Entschuldige, Tess." keuchte Sarah zwischen zwei Lachkrämpfen. "Ich lache nicht über dich. Wirklich nicht." Sarah kicherte lediglich deshalb haltlos vor sich hin, weil Tess´ Ausspruch erstens typisch weiblich war und zweitens von Sarah selbst immer öfter gebraucht wurde. Es war einfach das Echo ihrer eigenen Gedanken, das sie so sehr aus der Fassung gebracht hatte. In letzter Zeit war es nicht immer einfach gewesen, die passende Kleidung auszuwählen. Dabei ging es nicht mal um die Dinge, die sie tagsüber trug. Vielmehr bereitete ihr die Anzahl an Nachthemden, die ihr zur Verfügung stand Sorgen.
Seit jenem "eindrucksvollen" Gespräch mit Jareth legten beide - ohne daß sie darüber gesprochen hätten - keinen gesteigerten Wert mehr auf korrekte Kleidung. Sarah trug seither keinen Morgenmantel mehr über ihren Nachthemden und wenn sie es doch einmal tat, ließ sie ihn offen. Auch Jareth wählte seine Kleidung nun unter anderen Gesichtspunkten aus. Er hatte bemerkt, daß sie weite Hemden mit Spitzen oder Rüschen an Kragen und Manschetten an ihm besonders liebte. Er trug auch deshalb keine Westen, Capes oder ähnliches mehr. Nie wieder hatte er seither seine Hemden ganz zugeknöpft. Oft knöpfte er sie auch gar nicht mehr zu, sondern ließ sie offen über seine Hosen hängen. Sarah und Jareth trieben in diesen Wochen ein frivoles Spiel miteinander. Während zumindest Sarah alle Spielarten dieses distanzierten Flirtens schon seit ihrer Schulzeit beherrschte, war für Jareth alles köstlich neu und erregend - und er lernte schnell. Sarah reizte ihn mit allen Variationen der übereinandergeschlagenen Beine, der vor der Brust gekreuzten Arme, des Vorbeugens des Oberkörpers und der halb geöffneten Lippen. Der Inhalt ihrer Gespräche in dieser Zeit war nicht anders als banal zu nennen und diente lediglich als Deckmäntelchen, damit der eigentliche Zweck, dem diese Treffen dienten, nicht gar zu offensichtlich wurde. In diesen Nächten schürten beide das Verlangen nacheinander mit lustvoller Hingabe, die äußere Form mühsam wahrend, während beide vor unterdrückter Erregung bebten. Oft zögerten Sie den Zeitpunkt des nächtlichen Abschiedes hinaus - törichterweise auf ein Wunder hoffend, das ihnen den unausweichlichen Abschluß einer solchen Begegnung ersparen würde. Doch das Wunder ereignete sich nie und letzten Endes verschafften ihnen wieder nur die eigenen Hände einen einsamen Trost und die nötige Befriedigung ihrer aufgestauten Lust.
*Perhaps you should read chapter 18 and 22 only when you're old enough...*
*Kapitel 18 und 22 sollte man vielleicht besser erst lesen, wenn man alt genug ist...*
Labyrinth - die magischen Jahre (the magic years)
fanfiction by Lorelei Lee
Teil eins (part one)
"Opening titles"
Kapitel 1
Mißmutig sah sich Tandor, der Koboldkönig, in seinem Thronsaal um. Was er sah, gefiel ihm nicht besonders. Es war nicht so sehr das ewige Durcheinander, die immer gleiche Unordnung und der Schmutz in allen Ecken und Winkeln, der seinen Unwillen erregte, sondern vielmehr das Verhalten seines Kronprinzen Jareth.
Jareth saß mit einigen Kobolden in einer Ecke des Thronsaales und spielte Karten.
"Wenigstens gewinnt er", dachte Tandor bei sich. Und zum wohl tausendsten Male fragte er sich, ob er mit Jareth eine gute Wahl getroffen hatte. Doch wie jedesmal mußte Tandor sich eingestehen, daß Jareth von allen Babys, die er jemals gestohlen hatte, die einzig richtige Wahl gewesen war. Jareth war der einzige Säugling gewesen, der wenigstens einen Funken Magie in sich gehabt hatte. Nur Dank diesem Funken hatte er Jareth in seiner menschlichen Gestalt aufwachsen lassen können. Ohne diese Gabe wäre er in einen Kobold verwandelt worden.
Tandor seufzte leise. Jareth war tatsächlich die einzige Möglichkeit gewesen. Außer ihm war er noch nie in den Besitz eines Kindes mit magischen Fähigkeiten gelangt. Wie lange war es nun schon her, seit er begonnen hatte sich Jareths Ausbildung
zu widmen? Er sah zu dem kartenspielenden Jareth hinüber. Mittlerweile war ein junger Mann aus ihm geworden. Nach menschlichen Maßstäben sah er aus wie ein Zwanzigjähriger. Doch Zeit hatte hier im Land der Kobolde keine Bedeutung. Tandor selbst hatte vor 200 Jahren aufgehört sein Alter zu zählen. Doch seit einiger Zeit fühlte er die Last der Jahrhunderte. Er war des Regierens müde geworden. Früher oder später würde Jareth ihm auf den Thron folgen. Warum also warten?
Tandor gab sich einen Ruck und erhob sich aus dem Thronsessel.
"Jareth, mein Prinz!"
Jareth erhob sich sofort und kam auf den König zu.
"Ja, mein König?"
"Folge mir in meine Gemächer, ich habe mit dir zu reden."
"Ja, mein König."
Tandor verließ den Thronsaal und Jareth folgte ihm leicht bedrückt. Kurz überlegte er, was er sich seit der letzten Aussprache mit dem Koboldkönig hatte zu Schulden kommen lassen. Eine Katze getötet, zwei Kobolde getreten,...Nein, das war nicht schwerwiegend genug für eine Unterredung zwischen vier Augen. Und für die zerbrochene Zauberkugel war er schon das letzte Mal bestraft worden. Mochte der Teufel wissen, was sein König schon wieder von ihm wollte, er wußte es auf jeden Fall nicht.
Mittlerweile waren sie vor Tandors Gemächern angekommen und traten nacheinander durch die schwere, vom Alter dunkel gewordene Eichentür ein.
Wie alle Zimmer des Schlosses waren auch die Räumlichkeiten des Königs spärlich möbliert. Die Mauern aus roh behauenem Stein wurden nur durch wenige Fenster durchbrochen, durch die nun die letzten Strahlen der Nachmittagssonne fielen. Der Raum, den Jareth und Tandor gerade betreten hatten, diente dem König als Arbeitszimmer. Auf der rechten Seite des Zimmers waren vom Boden bis zur Decke Regale angebracht. Hier befanden sich die meisten Unterlagen über das Königreich
und die wichtigsten der magischen Bücher. Daneben standen Stuhl und Schreibtisch des Königs. Für Bittsteller und Besucher standen lediglich eine paar lederbespannte Schemel bereit. In der linken Wand war ein offener Durchgang der in das angrenzende Schlafzimmer des Königs führte. Der Koboldkönig ging langsam auf seinen Stuhl zu und setzte sich. Da Jareth nicht die Erlaubnis erhalten hatte, sich ebenfalls zu setzen, blieb er stehen und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Tandor musterte seinen Prinzen. Was er sah, hätte ihm eigentlich gefallen können. Jareth war zu einem attraktiven jungen Mann herangewachsen. Er war zwar nur mittelgroß, doch schlank und von muskulösem Körperbau. Er war immer gut gekleidet, für Tandors Geschmack war er vielleicht etwas zu eitel. Seine Gesichtszüge waren ebenmäßig, fast aristokratisch. Das einzig bedauerliche waren seine widerspenstigen blonden Haare. Jareth hatte schon alle möglichen Frisuren ausprobiert, um sie zu bändigen, doch seine Haare hatten allen Bemühungen getrotzt, und so trug er sie in einer offenen Mähne, die ihm bis auf die Schultern herabfiel. Sie zerstörte den eleganten Eindruck, den seine Kleidung hervorrief und ließ ihn bedrohlicher wirken. Dennoch war Tandor nicht völlig zufrieden. Jareth wurde durch die Stille und die Betrachtung durch seinen König immer unbehaglicher zumute.
Schließlich brach Tandor das Schweigen.
"Du solltest aufhören, die Kobolde beim Spielen zu betrügen. Ich wünschte, ich hätte dieses Kartenspiel nie von der Erde mitgebracht."
Jareth war erleichtert. Wenn das seine ganzen Verfehlungen waren...
"Mein König, ich habe die Kobolde nicht betrogen. Sie sind so dumm, daß ich mir diese Mühe nicht zu machen brauche. Ich gewinne auch so."
"Ich finde trotzdem, daß Kartenspiele kein angemessener Zeitvertreib für meinen Kronprinzen sind. Aber genug davon. Ich habe wichtigeres mit dir zu besprechen. Ich habe vor, diese Welt für immer zu verlassen."
"Für immer? Vater, damit meinst du doch nicht, daß du stirbst? Ich dachte wir wären unsterblich!"
"Jareth, nimm Platz. Ich habe dir viel zu erklären." Tandor wartete, bis Jareth sich auf einen der Schemel gesetzt hatte und fuhr dann erst fort.
"Du mußt wissen, daß ich nicht dein Vater bin. Ich habe es dir zwar nie gesagt, aber du wirst dich erinnern, daß ich dir nie erlaubt habe, mich Vater zu nennen. Du warst noch ein Baby als ich dich geraubt habe. Ja, ein Baby, genau wie die anderen, die ich und du geraubt haben, um sie zu Kobolden zu machen. Mit dem einen winzigen Unterschied. Du hattest schon als Säugling Magie in dir. Ich spürte es sofort. Du allein warst würdig, mein Nachfolger auf dem Thron zu werden. Und so behielt ich dich bei mir, erzog dich, lehrte dich die Magie zu gebrauchen, und bereitete dich auf den Tag vor, an dem du selbst einmal der König der Kobolde sein würdest. Was nun die Unsterblichkeit angeht ... Du kannst hier leben und regieren, solange du willst. Zeit hat hier keine Bedeutung, wie du weißt. Doch ich rate dir, dich unter den geraubten Babys beizeiten nach einem Nachfolger umzusehen, denn glaube mir, irgendwann wirst auch du die Last der Jahrhunderte spüren. Ich für meinen Teil habe genug gelebt. Nach deiner Krönung werde ich diese Daseinsform verlassen."
Jareth saß wie betäubt auf dem Schemel.
Er hatte diesen Mann jahrelang für seinen Vater gehalten. Sie waren doch die einzigen menschlichen Wesen in diesem Königreich der Kobolde. Daß auch er nur ein geraubtes Baby gewesen sein könnte, war ihm nie in den Sinn gekommen. Und nach seiner Mutter hatte er sich nie getraut zu fragen.
"Nun, Jareth, hast du denn gar keine Fragen?"
"Wer sind meine richtigen Eltern?"
"Ich hatte befürchtet, daß du mir diese Frage eines Tages stellen würdest. Ich kann sie dir leider nicht beantworten. Ich weiß es nicht. Du warst ein Findelkind. Ich habe dich von einer Kirchentreppe aufgelesen." Aus Tandors Stimme klang echtes Bedauern. Auf seine Art hatte er Jareth liebgewonnen. Er hätte ihm diese Enttäuschung gerne erspart. Denn eine Enttäuschung war es. Tandor hatte noch nie eine solche Traurigkeit in Jareths Augen gesehen. Er wartete einen Moment auf eine Reaktion von ihm. Als er sich nach einer Weile immer noch nicht rührte, stand Tandor auf. Er ging um seinen Schreibtisch herum und stellte sich hinter seinen Prinz. Schließlich legte er ihm seine Hände auf die Schultern.
"Du kannst dich jetzt nicht so gehenlassen. Sei ein König, Jareth! In einer Woche soll deine Krönung stattfinden, und du mußt noch einiges lernen. Um König zu sein, genügt es nicht, wenn man ein bißchen mit den Kristallkugeln jonglieren kann."
Bei diesen Worten drehte sich Jareth um und sah seinem König fest in die Augen.
"Ich weiß, daß Sie mich gern für einen Nichtsnutz halten. Aber ich verspreche Ihnen, ich werde Sie nie enttäuschen, mein König."
"Lost and lonely"
Kapitel 2
Jareth saß auf der steinernen Brüstung seines Balkons, den er an sein Schlafzimmer hatte anbauen lassen, als er König geworden war. So war es für ihn einfacher, sich in eine weiße Eule zu verwandeln. Wenn es um Magie ging, liebte Jareth die Bequemlichkeit. In den letzten Jahren war fast kein Tag vergangen, in denen er nicht an das Versprechen gedacht hatte, das er dem verstorbenen König vor seiner eigenen Krönung gegeben hatte. Jahrzehnte-, fast Jahrhundertelang hatte er sein Versprechen erfüllt. Tandor wäre zufrieden mit ihm gewesen. Er verbreitete Angst und Schrecken, nicht nur auf der Erde, sondern auch bei seinen Untertanen. Er raubte Babys wo er nur konnte und seine Magischen Kräfte schienen mit jedem Tag stärker zu werden. Bis er eines Nachts ein Baby namens Toby gestohlen hatte. In Toby hatte er einen Hauch Magie gespürt. Er hatte sich darauf gefreut, aus dem kleinen Kerl einen großen, mächtigen Koboldkönig zu machen, doch dann hatte ihm Tobys Schwester Sarah einen Strich durch die Rechnung gemacht. Jareth hatte die Magie, die in Sarah schlummerte unterschätzt. Sarah hatte ihn besiegt und ihren Bruder zurückbekommen. Dergleichen war seit Koboldgedenken nicht geschehen!
Jareth hatte versagt. Die Magischen Kräfte seines Reiches waren durch Sarahs Sieg schwer erschüttert worden und Jareth hatte über Jahre hinweg seine ganze Konzentration und Geschicklichkeit aufbringen müssen um das sensible magische Gleichgewicht seines Reiches wiederherzustellen.
Seit diese Arbeit getan war, hatte er plötzlich sehr viel Zeit um Nachzudenken. Er dachte oft an Tandor und sein Versprechen, doch immer öfter dachte er auch an Sarah.
Die Niederlage, die er durch sie erlitten hatte, nagte noch immer an seinem Stolz, doch irgendwie konnte er ihr nicht wirklich böse sein. Er hätte nie gedacht, daß ein Mädchen dazu fähig sein sollte, seine Sinne derart zu verwirren. Ein Mädchen. Aber was für ein Mädchen! Wenn er daran dachte, wie sie ihm seine schöne Ballsaal-Illusion zerstört hatte, konnte er nicht umhin, ihren Mut zu bewundern. Was war damals eigentlich über ihn gekommen? Er hatte schließlich nicht vorgehabt mit ihr zu tanzen auch noch ein Lied für sie zu singen! Und doch hatte er es getan. Wie lange mochte es wohl her sein, daß sie sein Angebot abgelehnt hatte? Nach irdischer Zeitrechnung vielleicht fünf oder sechs Jahre...Wie es ihr wohl in der Zwischenzeit ergangen war? Jareths Blick schweifte über sein Reich und ihm wurde bewußt wie schrecklich einsam er sich plötzlich fühlte. Die Kobolde waren auf Dauer einfach nicht die richtige Gesellschaft für ihn. Vielleicht...vielleicht sollte er einmal bei Hoggle nach dem Rechten sehen. Der Zwerg war immer wieder für etwas Abwechslung gut. Zudem war er nicht ganz so dumm wie die Kobolde.
Jareth erhob sich von der Balkonbrüstung. Sein Entschluß stand fest. Er würde Hoggle besuchen.
Jareth hatte sich direkt vor Hoggles Haus gezaubert, das sich der Zwerg vor einiger Zeit im Wald des Schweigens gebaut hatte. Jareth hatte sich gewundert, als er davon erfahren hatte. In den Wald des Schweigens "verirrte" sich nur sehr selten jemand und Hoggle hatte immer als sehr gesellig gegolten. Doch Jareth hatte anderes zu tun gehabt, als sich darüber zu wundern, warum einer seiner Untertanen es plötzlich vorzog ein Einsiedlerdasein zu führen. Das winzige Häuschen machte einen relativ guten Eindruck auf Jareth. Immerhin versuchte der Zwerg wenigstens es sauber zu halten. Jareth seufzte. Wenn nur seine Kobolde ein bißchen mehr wie Hoggle wären...Er bückte sich, um an die Tür zu klopfen. Als sich im Inneren des Hauses nichts regte, trat er ein. Als sich seine Augen an das Halbdunkel im Zimmer gewöhnt hatten, sah er sich um. Das Haus war nicht unterteilt, sondern bildete lediglich einen Raum. Hoggle war augenscheinlich nicht Zuhause. Jareth beschloß, da er nun schon einmal hier war und sonst nichts anderes zu tun hatte, auf ihn zu warten. Sein Cape war ihm in der kleinen Behausung hinderlich und so nahm er es ab und legte es auf einen Stuhl. Außer dem einen Stuhl konnte er keine andere Sitzgelegenheit erkennen, die seiner Körpergröße eher entsprochen hätte und so ließ er sich auf dem Tisch nieder. Dort fand er auch eine Kerze, die er entzündete um sich besser umsehen zu können. Der Eindruck den das Haus von außen auf ihn gemacht hatte wurde nun auch durch die Einrichtung bestätigt. Die Möbel schienen zwar ausnahmslos alt und reparaturbedürftig zu sein, doch Hoggle war augenscheinlich bemüht, alles sauberzuhalten. Im Schein der Kerze konnte Jareth noch ein Bett, eine Kommode und mehrere kleine Wandregale erkennen. Auf der Kommode lag ein mit Tüchern verhüllter Gegenstand. Was mochte das wohl sein. Jareth stand auf um es sich näher anzusehen. Vielleicht ein Bild? Er hob die Tücher hoch und starrte völlig verblüfft auf den Zauberspiegel, der darunter verborgen gewesen war. Er hielt ihn hoch und trat damit an das kleine Fenster um ihn besser betrachten zu können. Es bestand kein Zweifel. Der Zwerg besaß einen Zauberspiegel! Jareth spürte, wie er langsam aber sicher sehr, sehr wütend wurde.
In diesem Moment öffnete sich die Tür des Häuschens und Hoggle trat ein.
"Eure Majestät!", rief Hoggle zu Tode erschrocken. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Der Koboldkönig hatte seinen Zauberspiegel gefunden. Warum hatte er nur immer so viel Pech. "Bitte nicht in den Sumpf des ewigen Gestanks!"
"Der Sumpf ist noch viel zu gut für dich!", brüllte Jareth. Seine Augen blitzten vor Wut. "Wie kommst du zu diesem Spiegel! Weißt du nicht, daß niemand außer mir einen Zauberspiegel besitzen darf? Du hast ihn doch womöglich nicht auch noch benutzt?" Jareth holte mit dem Spiegel aus um ihn an der Wand zu zerbrechen. Hoggle sah ihm voller Entsetzen dabei zu und ohne es zu wollen, entfuhr im ein Schrei.
"Nein, nicht!"
Jareth brachte dieser Ausbruch so aus dem Konzept, daß er in seiner Bewegung inne hielt und den Zwerg ungläubig anstarrte.
"Majestät, ihr dürft den Spiegel nicht zerbrechen, ich kann sonst nicht mehr... wir können sonst nicht mehr.... sie glaubt dann...."
Ein Verdacht stieg in Jareth hoch und er unterbrach Hoggles Gestammel.
"Du hast doch nicht etwa über diesen Spiegel mit Sarah Kontakt aufgenommen?" Er konnte es kaum glauben, doch als Hoggle schuldbewußt den Kopf senkte, wurde sein Verdacht zur Gewißheit. Sein Magen krampfte sich zu einem Eisklumpen zusammen und er wollte nur noch weg von Hoggle, weg von diesem Haus und diesem Wald. Behutsam stellte er den Spiegel auf den Boden.
"Hm, Hoggle, es ist schon spät geworden... ich... ich habe noch zu tun...Bis bald."
Ohne ein weiteres Wort abzuwarten stürmte er aus der Hütte.
Erleichtert sah ihm Hoggle nach. Das war noch einmal gut ausgegangen! Der Spiegel war noch ganz, und der Koboldkönig war weg! Vielleicht würde heute doch noch ein schöner Tag werden. Hoggle hob die Tücher auf um den Spiegel wieder darin einzuwickeln und entdeckte dabei Jareths Cape, das noch immer auf dem Stuhl lag.
"Verdammt! Er hat es wohl vergessen. Wird wohl besser sein, wenn ich es ihm bringe, sonst kommt er am Ende noch mal hierher um es zu holen." Hoggle schauderte bei dem Gedanken an einen zweiten Besuch des Koboldkönigs, also nahm er das Cape und verließ sein Haus, um Jareth hinterherzueilen.
"Hat sich wahrscheinlich schon auf sein Schloß gezaubert und ich kann sehen, wie ich hinkomme - Ach herrje! Da steht er ja noch - sieht fast so aus, als wäre er zu Fuß gegangen.... Komisch, das tut er doch sonst nicht..."
Mittlerweile hatte er Jareth fast erreicht und rief ihm nun zu:
"Eure Majestät! Eure Majestät!"
Zornig blieb Jareth stehen und drehte sich um. Was wollte dieser Zwerg nun schon wieder von ihm!
Hoggle hatte den wütenden Blick bemerkt, und verwünschte seine eigene Courage. Sarah hatte einfach unrecht gehabt. Mut brachte einen nirgendwo hin! Außer vielleicht in den Sumpf des ewigen Gestanks.
"Eure Majestät haben Euer Cape vergessen." Zitternd hielt er es Jareth entgegen, dessen Wut genauso schnell erloschen war, wie sie aufgeflackert war. Auch wenn er noch immer diesen Eisklumpen in sich fühlte, ein paar Fragen sollte er dem Zwerg schon noch stellen. Wer konnte wissen, wann sich wieder eine solche Gelegenheit bot. Er würde jedoch sehr aufpassen müssen, damit der Hoggle nichts von seiner inneren Erregung verriet. Er war immerhin der König. Er biß sich kurz auf die Lippen, dann sah er Hoggle scharf an.
"Danke, Hoggle. Ich war wohl etwas in Gedanken. Ich hätte auch fast vergessen, warum ich eigentlich gekommen bin." Er machte eine kurze Pause um das Gesagte bei Hoggle einwirken zu lassen und fuhr dann fort. "Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, warum du dir wohl dieses Haus gebaut hast... so weit weg...von allem..." Er hob fragend die linke Augenbraue. "Ich warte."
Hoggle lachte nervös.
"Jaja, das Haus...nun...das Haus..."
"Hoggle, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit! Hör mit dem Gestotter auf! Ich will die ganze Wahrheit wissen. Und wehe dir, wenn du mich anlügen solltest, ich finde es ja doch heraus und dann gnade dir Gott, denn von mir kannst du dann keine Gnade mehr erwarten!"
"Nun gut." Hoggle seufzte, holte noch einmal tief Luft und berichtete Jareth, was dieser wissen wollte.
"Bei der großen Katastrophe hat einer Eurer Wachposten einiges beiseite geschafft. Und da war auch dieser Spiegel darunter. Als ich von Sir Dydimus davon erfuhr, haben wir unsere Ersparnisse zusammengelegt und dem Kobold den Spiegel abgekauft. Das war aber eigentlich keine so gute Idee, weil wir nicht wußten, wohin wir den Spiegel tun sollten, damit ihn keiner findet. Da sind wir auf die Idee gekommen, daß ich mir hier ein Haus bauen sollte. Ein neues Haus hätte ich schon lange gebraucht, da haben wir gedacht, daß es dann nicht so auffällt. Ludo wohnt ja im Wald und nicht in Häusern und Sir Dydimus genießt mehr Aufmerksamkeit als ich. Also haben wir es so gemacht. Und es ging ja auch gut....bis jetzt." Während seines Berichtes hatte er immer wieder ängstlich nach Jareth geschielt, doch der König hatte sich auf den Waldboden gesetzt, den Rücken an einen Baumstamm angelehnt und ihm mit nachdenklicher Miene zugehört, ohne ihn zu unterbrechen. Diesen Tag würde sich Hoggle im Kalender rot anstreichen!
"Ich muß zugeben, daß euer Plan sehr klug war. Ihr habt also all die Jahre mit Sarah gesprochen, ohne daß jemand etwas davon gemerkt hat."
"Ja."
"Wie geht es ihr?" Kaum hatte Jareth die Frage ausgesprochen, hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen. Wirklich, ein sehr königliches Verhalten. Aber die Neugier war stärker gewesen.
"Ich weiß es nicht, Euer Majestät."
"Du weißt es nicht, aber wieso..?"
"Sie hat sich schon lange nicht mehr gemeldet...leider."
"Wie lange?"
"Vielleicht ein oder zwei Jahre nicht mehr." Hoggle nahm seinen ganzen Mut zusammen um eine Frage zu stellen, die ihm die ganze Zeit über keine Ruhe gelassen hatte: "Ist es möglich, auch von dieser Seite des Spiegels aus Kontakt mit ihr aufzunehmen?"
"Nein, Hoggle. Die gibt es nicht." Jareth erhob sich. "Wir werden wohl nie erfahren, was aus ihr geworden ist."
Eine unendliche Traurigkeit hatte von Jareth Besitz ergriffen. Mit gesenkten Kopf verließ er den Zwerg und ging tiefer in den Wald des Schweigens hinein.
Kapitel 3
"Nein, Greg! Laß das. Du sollst das lassen!"
"Nun zier dich nicht so, Sarah. Ich bin nun schon seit fast zwei Jahren dein Freund und du läßt mich immer noch nicht ein bißchen fummeln."
Sarah war blaß geworden vor Wut.
"Du widerliches Schwein! Ich will dich nie mehr sehen! Wenn du dich noch einmal hier blicken läßt rufe ich die Polizei! Und hier hast du deinen blöden Ring zurück!"
Mit einem Ruck war Sarah aus Gregs parkendem Wagen ausgestiegen und auf das Haus ihrer Eltern zugerannt. "Hoffentlich läuft er mir nicht auch noch nach," dachte sie noch, als sie hörte wie er den Motor anließ und mit Vollgas wegfuhr.
"Scheißkerl!" rief sie ihm noch durch die Nacht nach. Dann schloß sie die Tür auf und ging ins Haus.
Im Wohnzimmer brannte noch Licht. Vorsichtig öffnete Sarah die Tür und sah hinein.
"Ach, Mam. Du sollst doch nicht aufbleiben und auf mich warten." Sarah ging ins Wohnzimmer und setzte sich mit Schwung neben ihre Stiefmutter auf das Sofa.
Seit dem Ende ihrer Pubertät hatte Sarah aufgehört, ihre Stiefmutter ständig zu bekämpfen. Zur großen Freude und Überraschung aller beteiligten Parteien entwickelten beide eine dauerhafte Zuneigung zueinander, so daß seit einigen Jahren nichts mehr den häuslichen Frieden der Familie Williams gestört hatte.
"Wenn dein Vater schnarcht, kann ich sowieso nicht einschlafen. Das weißt du genau. Außerdem ist es doch gar nicht so spät." Sie sah auf die Uhr. "Kurz nach Mitternacht. Warum bist du eigentlich schon da? Und was war das für ein Geschrei vor unserer Haustür?"
Sarah seufzte und machte einen Schmollmund.
"Ich habe mit Greg Schluß gemacht. Frag mich bitte nicht warum. Ich weiß nämlich nicht einmal mehr, warum ich mich überhaupt mit diesem Idioten eingelassen habe."
Ihre Mutter nahm Sarah in den Arm.
"Ach, Kindchen. Nein - ist schon gut. Ich sage nichts weiter. Du mußt schließlich mit ihm auskommen - oder auch nicht. Nur eines würde mich schon interessieren: du bist jetzt über zwanzig - für wen sparst du dich auf? Doch nicht für einen Märchenprinzen oder Mr. Perfect."
Sarah stand auf und gab ihrer Mutter einen Kuß auf die Wange.
"Wenn ich ihn gefunden habe, werd ich's wissen. Vorher nicht. Ich geh jetzt schlafen. Gute Nacht."
"Gute Nacht, Sarah. Ich werde noch ein bißchen aufbleiben. Schlaf schön."
"Danke, Mam."
Als Sarah in den ersten Stock zu ihrem Zimmer ging mußte sie unwillkürlich lächeln. Fast hätte ihre Mutter richtig geraten. Ein Koboldkönig war allerdings nicht unbedingt ein Märchenprinz....
Nachdenklich betrat Sarah ihr Zimmer, knipste das Licht an und sah sich unsicher um. Das Zimmer war leer. Ärgerlich über sich selbst schüttelte sie den Kopf. Als ob es genügen würde an ihn zu denken um ihn herbeizuschaffen. Was für ein Blödsinn. Wenn das ausgereicht hätte, dann hätte er schon seit einigen Jahren in diesem Zimmer auftauchen müssen. Ach Jareth. Sie seufzte. Vor über einem Jahr hatte sie beschlossen, das Labyrinth und alles was dazugehörte endgültig zu vergessen. Sie hatte es redlich versucht und sich sogar mit Greg eingelassen. Auch den Spiegel ihrer Frisierkommode hatte sie nicht mehr dazu benutzt um mit Hoggle und ihren anderen Freunden zu sprechen. Es war ihr nämlich immer schwerer gefallen nicht nach Jareth zu fragen. Gleichzeitig fühlte sie sich gekränkt, daß er nie einen Versuch unternommen hatte, um sich mit ihr zu treffen. "Was für ein Blödsinn," dachte sie zum zweiten Mal. Das hörte sich ja an wie dieses pubertäre Spielchen: Wenn-er-mich-nicht-zuerst-anruft-rufe-ich-ihn-auch-nicht-An! Sie stöhnte. Er hatte ihr ihre Teenagerzeit gründlich verdorben. Was war schon ein Nachmittag in der Eisdiele, oder eine Fahrt im Cabrio, oder sogar ein Schulball gegen einen Tanz mit ihm! Komisch, daß sie nach ihrer Rückkehr aus dem Labyrinth gar nicht mehr an ihn gedacht hatte. Erst nach ein paar Jahren war ihr aufgegangen, wie einmalig er doch war und wie aufregend es gewesen war, als er sie in seinen Armen gehalten hatte. Langsam zog sie ihre Kleidung aus und ihren Pyjama an. Sie löschte das Licht und blickte durch ihr Fenster verträumt auf den Mond. Es war Vollmond. Eigentlich keine Nacht um früh zu Bett zu gehen. Und schon gar nicht alleine! Sie lächelte wehmütig. Warum war sie nur so dumm gewesen. Sie hätte die Worte nicht aussprechen dürfen. Wenn sie nur damals schon erkannt hätte, daß er ihr nicht ihre Träume anbot, als er ihr die Kristallkugel zeigte. Er hatte es zwar gesagt, aber eigentlich hatte er ihr sein Herz und seine ganze Liebe angeboten. Und sie war noch nicht reif dafür gewesen und hatte sie ausgeschlagen....Ob er wohl wußte, was er ihr eigentlich angeboten hatte?
Männern wird ja manchmal gar nicht bewußt, wie groß ihre Liebe zu einer Frau ist. Ob Jareth auch hier eine Ausnahme war? Verdammt, sie liebte diesen Hundesohn namens Jareth! Wenn er doch bloß noch einmal erscheinen würde. Müde und traurig ging sie schließlich zu Bett.
"No one can blame you"
Kapitel 4
Immer tiefer war Jareth in den Wald des Schweigens vorgedrungen. Die ganze Zeit über hatte er nachgedacht. Darüber was ihm der Zwerg erzählt hatte und seine eigene Reaktion darauf. Er verstand sich selbst nicht. Wenn von Sarah die Rede war, oder er auch nur an sie dachte, benahm er sich so... so... eigenartig. Sogar jetzt bemerkte er eine Veränderung an sich: sein Herz klopfte ein kleines bißchen anders. Geradeso, als sei es etwas aus dem Takt geraten. Seit seiner Auseinandersetzung mit Sarah schien sich alles verändert zu haben! Sein Reich, seine Untertanen und nun sogar er selbst. Er durchforschte seine Erinnerung bis zu dem Tag an dem Tandor "gestorben" war. Es war ein schmerzlicher Tag gewesen und die Erinnerung daran keinesfalls angenehm. Er hatte den alten König gemocht. Und doch waren seine Gefühle damals bei weitem nicht so konfus gewesen, wie sie jetzt waren, wenn er an Sarah dachte. Wenn er nur wüßte, was eigentlich mit ihm los war! Vielleicht...wenn er Sarah noch einmal sehen könnte....dann könnte er vielleicht herausfinden, was mit ihm nicht stimmte. Sie hatte diese ganze Konfusion verursacht, warum sollte sie sie nicht auch wieder beseitigen können? Verdammt, es mußte doch einen Weg geben um mit ihr Kontakt aufzunehmen. Wenn sie nur noch einmal den Spiegel benutzen würde....Und wenn sie ihn gar nicht mehr benutzen konnte? Vielleicht war ihr ja etwas zugestoßen? Jareth runzelte die Stirn. Es war zum Verrücktwerden! So oft wie in den letzten Minuten hatte er das Wort "vielleicht" in seinem ganzen bisherigen Leben nicht gebraucht. Es mußte eine Möglichkeit geben um Sarah wiederzusehen! Er beschloß, auf der Stelle ins Schloß zurückzukehren. Eigentlich hatte er auch diesen Weg zu Fuß gehen wollen, doch er bemerkte erst jetzt, daß die Dämmerung schon lange vorbei war, und es allmählich Nacht wurde. Sogar Jareth zog es vor, bei Nacht nicht mehr ohne Eskorte in seinem Labyrinth herumzulaufen und so zauberte er sich stattdessen direkt in seine Bibliothek.
Die Bibliothek war ursprünglich ein kleiner, dunkler Raum mit verstaubten Bücherregalen gewesen, auf denen sich Magische Werke mit Trivialliteratur vermischten. Doch Jareth hatte sich gleich nach seiner Krönung darum gekümmert, daß zumindest seine persönlich Räume etwas gemütlicher hergerichtet wurden. Die Bücher standen nun -zwar immer noch unsortiert- ordentlich in sauberen Regalen, zwei schwere Ledersessel standen am Fenster und an den Wänden waren reichlich Kerzenhalter angebracht. Jareth entzündete die Kerzen und machte sich an die Arbeit. Er wußte selbst nicht, wie lange es dauern würde, bis er in einem dieser Bücher einen Hinweis darauf finden würde wie man es anstellte, bei einer Person zu erscheinen, die gar nicht besucht zu werden wünscht. Er blickte ein wenig verzagt die langen Bücherreihen an. Es würde eine lange Nacht werden!
Die aufgehende Sonne weckte Jareth. Verschlafen sah er sich um. Er saß in einem Sessel in der Bibliothek. Er mußte wohl doch eingenickt sein. Ein Buch war von seinem Schoß auf den Boden gefallen. Er hob es auf und strich die umgeknickten Seiten mit einem zärtlichen Lächeln glatt. Er hatte die Lösung seines Problems gefunden. Doch was hatte er nicht alles lesen müssen, bis er es endlich gefunden hatte! In einem der Bücher hatte sogar gestanden, daß das Labyrinth erst durch einen Fluch seine heutige "Form" erhalten habe und es vorher ein Paradies mit glücklichen Untertanen gewesen sein solle. Wie alle Flüche sollte auch dieser Fluch durch den Eintritt eines höchst unwahrscheinlichen Ereignisses aufgehoben werden können... Jareth schüttelte immer noch lächelnd den Kopf. Da mußte er wohl aus Versehen ein Märchenbuch aufgeschlagen haben. Mit einer anmutigen Geste seines rechten Armes zaubert er die herumliegenden Bücher wieder an ihre Plätze. Nur das eine Buch drückte er fest an seinen Körper.
Heute Nacht! Jareth würde nur noch bis heute nacht warten müssen um den Trick aus dem Buch auszuprobieren. Es war tatsächlich nur ein Trick, der mit Magie sehr wenig zu tun hatte, aber sehr effektvoll. Jareth würde sich in eine weiße Eule verwandeln und zur Erde fliegen, bis vor Sarahs Fenster. Von dort konnte er sich ohne Probleme in ihr Zimmer hineinzaubern. Der Kniff dabei war der, daß sie ihn nicht sehen durfte. Denn wenn sie schlief konnte man nicht mehr sagen, ob diese Person nun besucht werden wollte oder nicht. Für ein sichtbares Erscheinen hätte es Sarahs Einladung bedurft. So konnte er diese magische Regel umgehen. Bei dem Gedanken, daß er ihr in ein paar Stunden gegenüberstehen würde geriet sein Herz wieder aus dem Takt. Ärgerlich legte er seine Hand auf seine Brust. Doch wenn er ehrlich war, war es eigentlich kein unangenehmes Gefühl....
Kapitel 5
Es hatte geklappt! Jareth stand in Sarahs Zimmer und sah sich vorsichtig um. Er durfte unter keinen Umständen irgendwelchen Lärm verursachen von dem Sarah aufgeweckt werden könnte. Glücklicherweise hatte er auf ein Cape verzichtet und nur enganliegende, schwarze Kleidung angezogen. Es war nicht mehr das penibel aufgeräumte Kinderzimmer von früher. Sie hatte wohl auch andere Möbel angeschafft. Jareth war beeindruckt. Das wenige was er im Mondlicht erkannte, wirkte sehr elegant. Erstaunt bemerkte er einen PC auf ihrem Schreibtisch. Überall lagen Zeitschriften und Bücher. Das meiste schien Fachliteratur zu sein. Er hätte zwar eher auf Modezeitschriften getippt, aber Sarah hatte ihn schließlich schon öfter überrascht. Langsam tastete er sich zu ihrem Bett vor, bis er direkt davor stand und endlich auf ihr schlafendes Gesicht herunterblicken konnte.
Ihr Anblick benahm ihm für einen Augenblick den Atem. Sein Herz geriet nicht nur ein bißchen aus dem Takt sondern es klopfte ihm bis zum Hals. Seine enge Kleidung schien ihn nun unbarmherzig einzuschnüren und ohne es recht zu merken, sank er vor ihrem Bett auf die Knie.
Sie war so schön geworden.... gerade jetzt mußte sie etwas sehr Schönes träumen, denn sie lächelte im Schlaf.
In diesem Moment wußte Jareth, daß er sie liebte. Er hatte sich vom ersten Augenblick an in sie verliebt und hatte es gleichzeitig nicht wahrhaben wollen. Je mehr er sie liebte, desto mehr hatte er seine wahren Gefühle hinter immer mehr Grausamkeit versteckt. Als er dann mit ihr getanzt hatte, war es endgültig um ihn geschehen. Sie hatte ihn verzaubert ohne es zu wissen. Jetzt erkannte er auch, daß er ihr eigentlich viel, viel mehr als nur ihre Träume angeboten hatte. Wie hatte er nur so dumm sein können? Sie war damals noch viel zu jung gewesen, um zwischen den Zeilen zu lesen. Sie hatte ihn gehaßt, sie hatte ihn besiegt und sie hatte versucht, ihn zu vernichten. Vielleicht war sie jetzt reifer? Er musterte sie genauer. Ihre Haare waren nicht mehr so lang wie früher, doch sie waren lockiger. Es gefiel ihm. Es gefiel ihm sogar sehr gut. Richtig frisiert mußte ihr Haar jetzt fabelhaft aussehen. Ihr Gesicht war nicht mehr so rundlich. Die Wangen hatten einen aparten Schwung bekommen. Sie hatte etwas von einer herben, wilden Schönheit. Ihre Lippen wölbten sich geheimnisvoll und Jareth ertappte sich bei dem Gedanken, wie es wohl sein mußte, diese Lippen zu küssen.
Er beugte sich langsam über sie. Sein Blick hing an ihren Lippen. Doch bevor sein Mund sein Ziel erreicht hatte, bewegte sich Sarah im Schlaf. Jareth erstarrte.
Als er sicher sein konnte, daß er sie nicht geweckt hatte, zog er sich von ihrem Bett zurück und setzte sich auf ihren Stuhl. Er hatte unwillkürlich den Atem angehalten und holte erst jetzt wieder tief Luft.
Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht? Scheu warf er einen Blick in ihre Richtung. Ihre Anmut und Unschuld nahmen ihn völlig gefangen. Wie recht sie doch damals gehabt hatte: Er hatte keine Macht über sie! Es war genau umgekehrt. Wäre er doch nur nie auf die Idee gekommen, ihr diesen Besuch abzustatten. Die Ahnung, daß er sie nun nie mehr würde vergessen können, wurde zur Gewißheit.
Jareth war in seinen menschlichen Anlagen ein leidenschaftlicher Mensch. Wenn er haßte, war sein Haß grenzenlos. Wenn er grausam war, nahm seine Grausamkeit gigantische Ausmaße an. Wenn er strafte, strafte er gnadenlos. Diese Anlagen hatten ihm dabei geholfen, ein mächtiger und gefürchteter Herrscher zu werden.
Doch nun war zum ersten Mal in seinem langen Leben sein Herz berührt worden.
Eine Berührung nicht mehr als ein Schmetterlingsflügel an einem Blütenblatt und doch hatte sich von einem Augenblick auf den anderen sein Denken und Fühlen, sein Handeln und sein Leben, ja, sein ganzes Wesen verändert.
Nichts würde mehr so sein, wie es vorher war. Alles verändert sich immerzu. Ein Schritt zurück ist vielleicht ein Schritt nach vorn.
Die Erkenntnis, daß er Sarah liebte, liebte mit all seiner Kraft, mit seinem ganzen Herzen, mit seiner ganzen Verzweiflung und seiner ganzen Einsamkeit, war für ihn zu plötzlich gekommen. Er war dem Ansturm sich widersprechender Gefühle kaum gewachsen. Er mußte eine Entschluß treffen, bevor er noch den Verstand verlor. Je eher desto besser. Er riß sich von ihrem Anblick los und vergrub das Gesicht in seinen Händen.
"Was soll ich nur tun?", dachte er verzweifelt. "Ohne sie kann ich nicht mehr leben."
Neidisch sah er noch einmal zu Sarah hinüber. Wie konnte sie nur so friedlich daliegen und schlafen? Ihr Anblick beruhigte seine verwirrten Gedanken etwas und es gelang ihm, etwas Ordnung in seine Überlegungen zu bringen.
"Ich weiß, daß wir zueinander gehören. Wir sind füreinander bestimmt. Wahrhaft glücklich können wir nur miteinander werden. Doch wie soll uns das gelingen? Ich kann mich ihr nicht einmal in einer sichtbaren Gestalt zeigen." Traurig schüttelte er den Kopf. "Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als auf ein Wunder zu warten und bis dahin deinen Schlaf zu hüten, mein Dornröschen ...." Bei diesem Gedanken zeigte sich ein melancholisches Lächeln auf seinen Lippen.
Von da an verbrachte der Koboldkönig tatsächlich jede Nacht in Sarahs Zimmer. Niemand bemerkte ihn oder die weiße Eule, die in die Morgendämmerung eines jeden Tages entschwand. Wenn Jareth bei Sarah war, vergaß er für diese wenigen Stunden seine drückenden Sorgen. Er konnte sich einreden, sie wäre schon bei ihm, auf seinem Schloß, in seinem Bett, als seine Königin. Es war ein armseliges Märchen, aber für Jareth bedeutete es eine große Erleichterung. Die Realität - ein Leben ohne Sarah, eingepfercht zwischen Kobolden - war zu erdrückend geworden.
Dabei wurden seine nächtlichen Besuche zu einer Art Besessenheit. Er wollte Sarah öfter sehen - also fertigte er ein Portrait von ihr an, welches er in seinem Schlafgemach aufhängen ließ. Es zeigte Sarah nicht so, wie sie jetzt war, sondern wie sie damals gewesen war, als er sie zum erstenmal in seinen Armen gehalten hatte. Jedesmal wenn er das Bild betrachtete, stieg die Erinnerung wie süßer Schmerz in ihm auf.
Bald genügte es ihm auch nicht mehr sie nur anzusehen. Er wollte wissen, zu welcher Persönlichkeit sie gereift war. Wie sehr ihr Körper gereift war, konnte er zwar meist nur erahnen, doch bereits diese Ahnung genügte, um ihn unruhig werden zu lassen. Besonders jetzt, da es Sommer geworden war, trug sie oft sehr verführerische Spitzennachthemden. Immer öfter ertappte sich Jareth bei dem Gedanken, sie möge einen nicht ganz so ruhigen Schlaf haben und wie angenagelt unter ihrer Bettdecke zu liegen. Doch so sehr ihn auch ihr Körper beschäftigte, genauso sehr beschäftigte ihn auch ihr Geist.
Nachdem der Sommer langsam in einen milden Herbst übergegangen war, wußte Jareth alles über sie, was er eben aus ihrer Handtasche, ihrem Kleiderschrank oder auch ihren Schreibtischschubladen und Büchern in Erfahrung hatte bringen können.
Jareth hatte eine bemerkenswerte Geschicklichkeit darin entwickelt, alles wieder so zurecht zu rücken, daß Sarah nie bemerkte, daß sich Nacht für Nacht jemand in ihrem Zimmer umgesehen hatte. Zu seinem Bedauern führte sie auch kein Tagebuch, so daß er die meisten seiner Informationen ihrem Filofax entnehmen mußte. Besonders ernüchternd war ihm noch die Nacht vor einigen Wochen in Erinnerung, als er in ihrer Handtasche auf ein eingeschweißtes Kondom gestoßen war. Er wußte zuerst nicht recht, wozu dieses Ding überhaupt gebraucht wurde. Als ihm dann die Erkenntnis dämmerte, schwappte eine Woge aus unkontrollierter Eifersucht über ihm zusammen. Er hatte Tage gebraucht um sich wieder zu beruhigen. Seither suchte er verzweifelt nach irgendwelchen Anzeichen für Männerbekanntschaften.
Er war ja so naiv gewesen zu glauben, sie würde ihn genauso lieben wie er sie. Mein Gott! Sarah würde nicht ewig auf ihn warten. Sie war teuflisch attraktiv geworden. Die jungen Männer standen gewiß Schlange bei ihr.
Doch so sehr er auch suchte, er fand keinerlei Beweise. Keine Liebesbriefe, keine Freundschaftsringe, keine Termine für Rendezvous in ihrem Kalender. Danach war ihm wieder etwas wohler zumute. Allerdings brannte ihm jetzt die Zeit unter den Fingernägeln. Ihm mußte etwas einfallen - und zwar schnell! Er mußte sie unbedingt sehen, mit ihr sprechen. Er mußte wissen, was sie für ihn fühlte. Und wenn es ihn vor Schmerz umbrachte!
Die nächste Nacht hielt neue Schrecken für ihn bereit. In ihren Unterlagen fand er das Schreiben einer Firma. Sie bestätigten den Erhalt eines unterschriebenen Vertrages und freuten sich darauf, Sarah zum nächsten Ersten in ihrem Hause als neue Mitarbeiterin begrüßen zu dürfen.
Der Schock, daß Sarah weggehen würde, traf ihn völlig unvorbereitet. Fieberhaft suchte er nach einem Ausweg. Da er niemand - schon gar nicht Hoggle - anvertraut hatte, wohin er jede Nacht ging, konnte er nun auch niemand um Hilfe bitten.
Diese Suppe hatte er sich ganz alleine eingebrockt und nun suchte er verzweifelt eine Möglichkeit, um sie auch auszulöffeln.
Plötzlich kam ihm die Erleuchtung!
Sarah feierte am 20. September ihren 21. Geburtstag. Er würde ihr einfach ein Geschenk zukommen lassen, aus dem eindeutig hervorging, daß er sie sehen wollte. Ja, das konnte klappen! Es mußte klappen, denn bis sie am 01. Oktober nach Phoenix, Arizona ging war nicht mehr allzu viel Zeit. Und der Himmel mochte wissen, ob er sie je wiederfand wenn sie erst einmal in Phoenix lebte.
Kapitel 6
Sarah erwachte an ihrem Geburtstagmorgen voller unruhiger Vorfreude. Sie wußte einfach, daß heute alles ganz phantastisch werden würde! Wohlig dehnte und streckte sie sich in ihrem Bett. Bald - bald würde sie endlich alles hinter sich lassen und aus dieser engen Stadt verschwinden. Der neue Job den sie bei einer großen Werbefirma in Phoenix bekommen hatte, war fast zu gut um wahr zu sein. Der Personalchef hatte ihr so gut wie versprochen, daß sie in zwei bis drei Jahren eine eigene Abteilung leiten konnte. Man stelle sich vor: Sarah Williams, Abteilungsleiterin! Wow! Wie hatte sie sich nur jemals wünschen können, eines Tages Schauspielerin zu werden. Pah. Es gab nichts Erregenderes als die Werbebranche. Mit einem tiefen, zufriedenen Seufzen öffnete sie die Augen und sah auf den Wecker auf ihrem Nachttisch.
Da sah sie es.
Sofort saß sie kerzengerade in ihrem Bett. Ihr Herzschlag raste, doch ihr Kopf war merkwürdig leer. Mechanisch streckte sie die Hand nach dem fremden Gegenstand auf ihrem Nachttisch aus und nahm ihn an sich. Es war ein goldenes Medaillon, nicht größer als eine Münze, mit einem wundervollen, filigranen Muster auf der Vorderseite. Sie umschloß es fest mit ihrer Hand und preßte sie gegen ihre Brust.
Jareth!
Er war hier gewesen. Er mußte es gewesen sein.
Und wenn er es doch nicht gewesen war? Wenn es nur ein Geschenk von ihren Eltern war? Die Ungewißheit brachte sie fast um. Mit zitternden Fingern öffnete sie den Deckel. Sie glaubte fast ohnmächtig zu werden vor Glück.
Im Inneren des Medaillons befand sich ein Miniaturportrait von ihr selbst. So wie sie damals ausgesehen hatte, als sie mit Jareth in seinem Ballsaal getanzt hatte.
Ein Irrtum war ausgeschlossen.
Seine Majestät, Jareth, der Koboldkönig hatte ihr zu ihrem 21. Geburtstag ein Geschenk gemacht. Da bemerkte sie, daß sie weinte. Hastig schloß sie den Deckel, damit ihr Bild nicht naß wurde. Sie hatte nie begriffen, warum manche Menschen vor Glück weinten. Jetzt begriff sie es. Die Tränen liefen an ihren Wangen hinab und tropften von da aus auf ihr Nachthemd. Sie ließ es geschehen und war so glücklich wie nie zuvor in ihrem ganzen Leben.
Ein Klopfen an ihrer Zimmertür riß sie aus ihren Träumen.
"Sarah?" Es war ihr Vater. "Bist du schon auf?"
"Noch nicht, Dad. Ich komme gleich."
Flüchtig wischte sie sich die Tränen aus ihrem Gesicht und wartete, bis sie hörte, daß ihr Vater die Treppe hinunter ging. Fieberhaft überlegte sie, wo sie das Medaillon verstecken konnte um peinliche Fragen zu vermeiden. Sie schob es schließlich zwischen ihre Büstenhalter. Dort würde so schnell niemand danach suchen.
Als sie kurze Zeit später in das Eßzimmer hinunter ging, um die Glückwünsche und Geschenke ihrer Familie entgegenzunehmen, gab es keine äußeren Anzeichen für den Aufruhr von Gefühlen, der in ihrem Inneren tobte. Die letzten Tränenspuren wurden von sorgfältig angebrachtem Make-up verdeckt und ihr nervöses Herz von einem eleganten hellgrünen Kostüm verborgen.
"Guten Morgen Prinzessin," begrüßte sie ihr Vater. "Alles Gute zum Geburtstag."
Ihre Mutter umarmte sie. "Alles Glück der Welt, mein Mädchen."
Sogar ihr Bruder Toby gab ihr einen Schmatz auf die Wange. Sie rechnete ihm das hoch an. Er war bereits in dem Alter, in dem richtige Jungs diese ganze Küsserei höchst albern fanden. Sie setzten sich an den liebevoll gedeckten Frühstückstisch. Toby drückte seiner Schwester verlegen ein zerknittertes Päckchen in die Hand.
"Ein Geschenk für dich", murmelte er.
Neugierig riß Sarah das Geschenkpapier auf. Was Geschenke anging, so hatte sie nie gelernt, sich zu beherrschen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein Geschenk langsam und vorsichtig ausgepackt zu haben. Dazu war sie viel zu gespannt auf den Inhalt.
Als sie sah, was er ihr geschenkt hatte, hielt sie unwillkürlich die Luft an.
Er hatte ihr einen Briefbeschwerer in Form einer Kristallkugel gekauft.
"Gefällt es dir?" Wollte Toby wissen.
"Oh, ja, es ist - es ist wundervoll." Mißtrauisch sah Sarah ihren Bruder an. Sie hatte eigentlich gehofft, er könnte sich nicht mehr an seinen Aufenthalt im Labyrinth erinnern. Er war doch noch so klein gewesen.
Ihre Mutter stupste sie an. "Ich habe ihm ein bißchen beim Aussuchen geholfen," flüsterte sie Sarah zu. "Du liebst solche eleganten Kleinigkeiten."
Sarah war grenzenlos erleichtert. "Ja," lachte sie. "Ja, es gefällt mir wirklich! Vielen Dank Toby!"
Ihre Eltern lächelten sich an und Sarah bemerkte, wie Mutter ihrem Vater einen Wink gab. Ihr Vater wirkte plötzlich ein wenig verlegen und bevor er sich an Sarah wandte, räusperte er sich erst ausgiebig.
" Wir haben uns lange überlegt, was wir dir schenken können. Wie du dir denken kannst, ist uns nicht viel eingefallen. Dann haben wir uns überlegt, was du wirklich brauchen könntest du da ist uns eine ganze Menge eingefallen: neue Kleider, neue Möbel, neue Töpfe und Pfannen.... kurz und gut, du wirst dir, wenn du nach Phoenix ziehst, eine Menge anschaffen müssen. Vielleicht nicht alles auf einmal, aber auch das Notwendigste für den Anfang kostet eine schöne Stange. Und da sind wir auf so etwas profanes verfallen, dir Geld zu schenken." Er gab ihr einen Briefumschlag. "Wir haben dir deshalb schon einmal ein Konto bei einer Bank in Phoenix eingerichtet. In dem Umschlag sind die Unterlagen darüber."
Sarah war sprachlos.
"Oh Sarah, bitte sie uns nicht böse," bat ihre Mutter. " Wir wissen ja, daß du dir alles selbst erarbeiten willst, aber wir wollen auch, daß es dir gut geht."
"Ach Mam, du verstehst das falsch, ich - ich bin nicht böse mit euch.... ich war nur zu überrascht. Das ist so lieb von euch." Nach einer kurzen Pause fügte sie mit einem Lächeln hinzu: "Aber ihr hättet es nicht tun dürfen." Sie umarmte ihre Eltern voller Dankbarkeit. "Hergeben werde ich es allerdings auch nicht. Vielen Dank!"
Ihr Blick fiel dabei zufällig auf ihre Armbanduhr. Erschrocken stellte sie fest, daß sie eigentlich schon längst in ihrem Auto sitzen sollte.
"Oh-Oh. Ich muß los. Bis heute abend!"
"Aber du hast noch nicht gefrühstückt!" rief ihr ihre Mutter noch hinterher.
Doch das hatte Sarah schon nicht mehr gehört. Sekunden später konnten ihre Eltern hören, wie Sarah ihren kleinen weißen Golf viel zu hochtourig aus der Einfahrt jagte.
"No love injection"
Kapitel 7
Nach Abschluß ihrer Schul- und Ausbildungszeit hatte Sarah begonnen bei verschiedenen Zeitungen und Werbe-Agenturen zu jobben. Nur so hatte sie sich genug Wissen erarbeiten können um für eine wirklich gute Stelle qualifiziert zu sein.
Ihre Rechnung war aufgegangen, sie hatte die ersehnte Stelle in Phoenix erhalten.
Amazing Advertising war eine der fünf größten Agenturen im Süden der USA. Wer weiß, wozu sie es noch bringen konnte, wenn sie nur ehrgeizig genug war.
Auf der Fahrt zu ihrem derzeitigen Job überschlug sie kurz im Kopf ihren Terminplan.
"Noch drei Tage hier arbeiten, dann zwei Tage packen, ein Tag Fahrt mit der Spedition nach Phoenix, zwei Tage auspacken - bleiben noch 3 Tage, bis ich mich in meiner neuen Firma melden muß." Sie grinste zufrieden. Was Selbstmanagement anging, war sie immer eine der besten gewesen! Doch dann war ihre gute Laune wie weggewischt. Sie grübelte über Jareths Geschenk nach. "Was bezweckt er nur damit? Ich bin mir sicher, er tut nichts ohne Grund. Ob er irgendeine Gemeinheit im Schilde führt?" Ungläubig schüttelte sie den Kopf. " Das kann nicht sein. Er hat damals nur etwas Böses getan, weil ich es mir gewünscht hatte. Diesmal habe ich mir sicher nichts derartiges gewünscht. Im Gegenteil! Aber was will er nun wirklich von mir?"
Obwohl sie den ganzen Tag darüber nachdachte, fand sie auf diese Frage keine befriedigende Antwort. Abends war sie dann nahe daran zu verzweifeln und als ihre Eltern wissen wollten, wie ihr Tag heute gewesen wäre, konnte sie sich nicht erinnern, wie sie überhaupt zu ihrer Arbeit gekommen war und was dort den ganzen Tag über vorgefallen war. Sie gab ihnen eine nichtssagende Antwort, als sie plötzlich einen Geistesblitz hatte.
In dem Medaillon mußte eine Botschaft verborgen sein! Daß ihr das nicht früher eingefallen war! So was Blödes.
Während des Abendessens konnte sie ihre Ungeduld, endlich in ihr Zimmer zu gehen, kaum bezähmen. Sofort nachdem sie aufgegessen hatte, schützte sie bleierne Müdigkeit vor und zog sich zurück.
Kaum in ihrem Zimmer, schloß sie auch schon die Tür hinter sich ab, um wirklich ungestört zu sein. Mit zitternden Fingern nahm sie das Medaillon an sich. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, um es in Ruhe betrachten zu können. Als sie an der Gravur nichts geheimnisvolles entdeckte, spielte sie so lange damit herum, bis sie ein leises Klicken hörte. Hinter ihrem Bild sprang ein Geheimdeckel auf, aus dem ein Zettelchen herausfiel. Sarah atmete tief durch. Erst als sie sicher sein konnte, nicht in Ohnmacht zu fallen, nahm sie den Zettel und faltete ihn mit bebenden Fingern auseinander.
"Nenn den Namen nur ganz sacht,
Träume werden wahr zur Nacht."
Sarah schloß die Augen um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten.
"Ich bin eine richtige Heulsuse geworden," dachte sie. "Das ist also das ganze Geheimnis. Ich muß ihn rufen. Ich muß nur seinen Namen aussprechen. Wenn ich es nicht tue, kann er auch nicht zu mir kommen. Mein Gott, ist das einfach!"
Nachdem dieses Problem gelöst war, sah sie sich nun mit weitaus größeren Sorgen konfrontiert. "Will ich ihn überhaupt sehen? Andererseits, wenn ich ihn nicht sehe, werde ich nie erfahren, was er von mir will. Warum steht auf diesem Zettel nichts von einer Gültigkeitsdauer! Womöglich funktioniert das nur heute nacht und dann nie wieder. Scheiße! Was soll ich denn jetzt bloß tun?"
Die Entscheidung lag nun eindeutig bei ihr. Einerseits rechnete sie es Jareth hoch an, daß er sie nicht einfach so überfiel, andererseits hätte so ein Überfall ihr die Entscheidung abgenommen. Sie zermarterte sich das Gehirn nach einer Lösung. Warum mußte er sich ausgerechnet jetzt melden, wo für sie alles so gut lief.
Unschlüssig stand sie von ihrem Schreibtisch auf. Vielleicht war es besser wenn sie sich erstmal in ihr Bett legte um etwas zur Ruhe zu kommen....
In der Zwischenzeit saß Jareth in seinem Schlafgemach in einem reichgeschnitzten Lehnstuhl und betrachtete Sarahs Portrait. Er wartete. Er war sich sicher, daß sie ihn rufen würde. So sicher, daß er sich bereits für diese Begegnung umgezogen hatte.
Er hatte sich für enge, schwarze Hosen, eine ebensolche Weste und dazu passende Stiefel entschieden. Dazu trug er ein tiefblaues Rüschenhemd mit weiten Ärmeln und schwarzen Spitzenmanscheten. Sein bodenlanges Cape war von demselben Blau wie sein Hemd. Auf Handschuhe hatte er bewußt verzichtet. Er wollte Sarah spüren.
Sarah hatte mittlerweile ihr dunkelrotes Spitzennachthemd angezogen und sich in ihr Bett gekuschelt. Das Medaillon trug sie um den Hals. Sie dachte wohl stundenlang über ihr Problem nach, wendete es von innen nach außen, betrachtete Pro und Kontra, drehte es hin und her.... und schlief schließlich völlig erschöpft ein.
"Sarah."
Sarah drehte sich im Bett auf die andere Seite.
"Sarah." Die Stimme war sanft und drängend.
"Sarah. Wach auf."
Sie blinzelte verwirrt. In ihrem Zimmer war es dunkel. Da spürte sie eine Bewegung im Raum. Jemand setzte sich auf ihr Bett. In Panik wollte sie aufschreien, da erhellte ein sanfter Lichterschein, der von nirgendwoher zu kommen schien das Zimmer und das Gesicht des Eindringlings.
Jareth.
Er lächelte.
Immer noch verwirrt flüsterte Sarah: "Aber ich habe doch gar nicht...."
Jareths Lächeln vertiefte sich. "Du träumst sehr deutlich, meine Liebe."
"Oh." Hauchte Sarah. Sie fühlte wie sie rot wurde und wandte den Blick verlegen von ihm ab.
Jareth sah das Medaillon an ihrem Hals glitzern. "Ich hoffe, mein Geschenk hat dir gefallen."
Sarah richtete sich in ihrem Bett auf und hob den Blick. Sie konnte nicht anders, sie mußte ihn einfach wieder ansehen. Er sah so phantastisch aus. Es war einfach zu schön um wahr zu sein.
"Es ist das Wundervollste, was ich je geschenkt bekam. Vielen Dank, Jareth."
Ihre Blicke trafen sich und Sarah glaubte, in diesen magischen Augen zu ertrinken.
Für Jareth waren diese Worte die süßeste Musik, die er in seinem Leben gehört hatte. Er war wie verzaubert von ihrem Anblick. Sanft ergriff er ihre beiden Hände und hauchte auf jede einen Handkuß.
"Es freut mich, daß es dir gefällt," sagte er schlicht, ohne ihre Hände loszulassen. Sie fühlten sich wundervoll an. So weich und warm. Es war wirklich gut, daß er keine Handschuhe angezogen hatte. Seine Handflächen fingen an leicht zu kribbeln, aber es war ein gutes Gefühl.
"Ach, Jareth," seufzte Sarah leise, " das ist doch nur ein Traum, oder? Ich träume doch nur, daß du bei mir bist."
"Nein, Sarah. Es ist kein Traum. Es ist alles wirklich."
Verträumt sah sie auf ihre ineinander verschlungenen Hände und für den Bruchteil einer Sekunde gewann ihre Vernunft die Oberhand.
"Was willst du hier?"
"Schade," dachte Jareth. "Sie hat sich kaum verändert." Er stand von ihrem Bett auf und drehte ihr den Rücken zu. Er wollte nicht, daß sie sah, wie enttäuscht er war.
"Ich wollte dir zum Geburtstag gratulieren."
"Das glaube ich nicht." Sarah war hatte sich nun ebenfalls erhoben und stand nun hinter ihm. Er spürte die Wärme ihres Körpers und wünschte sich nichts mehr, als sie in seine Arme zu schließen....doch der Moment war bereits vorbei. Er wollte sie auch eigentlich nicht überrumpeln....
Mit einer Geste wies er auf ihre Spiegelkommode.
"Wann hast du ihn das letzte Mal benutzt?"
"Den Frisierspiegel? Ich verstehe nicht ganz."
Jareth drehte sich langsam zu ihr um.
"Du verstehst mich schon. Wann hast du ihn das letzte Mal benutzt um mit dem Labyrinth zu kommunizieren?"
"Ich glaube vor ungefähr zwei Jahren. Ich wollte mit diesem Kapitel meines Lebens endgültig abschließen."
Jareth sah an ihr vorbei. "Ich - wir haben uns Sorgen um dich gemacht," flüsterte er schließlich. Ihr Spitzennachthemd machte ihn ziemlich nervös. Sie war schön wie die Sünde.
Sarah trat auf ihn zu, bis sie sehr dicht vor ihm stand. Sie atmete schwer.
"Du hast dich verändert, Jareth." Sie zupfte unsicher an seiner Kragenmanschette und wünschte sich, er möge sie endlich küssen.
Jareth brachte ihre Nähe fast um den Verstand. Unwillkürlich legte er seine Hände um ihre Taille. Durch ihr Nachthemd hindurch spürte er, wie sie bei seiner Berührung erschauerte. Nur mühsam gelang es ihm, sich zu beherrschen. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Er wollte mehr von ihr als nur diese eine Nacht. Er wollte sie sooft sehen, wie es möglich war. Und dazu mußte er ihr ein Versprechen abringen. Das konnte er nicht, wenn er sie jetzt küßte. Er schluckte krampfhaft.
"Sarah, du hast recht. Ich bin nicht nur hier um dir zu gratulieren. Ich bin vielmehr hier, um dich um etwas zu bitten."
"Ja," hauchte Sarah.
"Ich wollte dich bitten, den Spiegel wieder zu benutzen. Regelmäßig zu benutzen. Ich weiß, daß du nach Phoenix gehst. Ohne den Spiegel gibt es dort keine Möglichkeit mehr um mit dir Kontakt aufzunehmen."
"Was, das ist alles?" Sarah war enttäuscht.
"Bitte." Er ließ sie los.
"Ich weiß nicht." Unschlüssig sah sie von ihrem Spiegel zu Jareth.
"Was wolltest du sonst hören, daß ich dich bitte mit mir zu kommen, in mein Schloß, als meine Königin?"
Irgendwie hatte sie das schon gehofft. Aber jetzt, da er sie nicht mehr umarmte, klang sein Vorschlag völlig idiotisch.
Sie lachte. "Nein, sicher nicht. Also der Spiegel?" Sie lächelte ihn an. Er nickte. "Gut, ich nehme ihn mit."
"Und du benutzt ihn auch?"
"Regelmäßig, ich verspreche es. Wie soll ich ihn benutzen?"
Er hatte es geschafft. Er atmete tief durch. Bald würde er sie sehen und mit ihr sprechen können.
"Nenne einfach nur den Namen, derjenigen Person, mit der du sprechen möchtest."
"Zum Beispiel auch deinen?"
"Es wäre mir eine Ehre." Er verneigte sich leicht.
"Soll ich Hoggle und deine anderen Freunde von dir grüßen?"
"Sie wissen gar nicht, daß du hier bist?"
"Nein, sie wissen es nicht. Du hättest meine Bitte ja auch ablehnen können. Sie wären sehr enttäuscht gewesen. Deshalb habe ich lieber nichts gesagt."
Sie nickte. Das war völlig logisch. "Ja, grüße sie bitte von mir."
Mit einem Seitenblick bemerkte er, daß es draußen schon dämmerte.
"Ich muß jetzt gehen. Es wird bald hell."
"Schon?" Fast hätte sie darum gebettelt, daß er noch bleiben solle. Aber sie beherrschte sich. Bald konnte sie ihn ja sehen, so oft sie wollte.
"Auf Wiedersehen, Sarah." Er gab ihr nochmals einen Handkuß.
"Bis bald."
Vor ihren Augen löste er sich in nichts auf. Vor ihrem Fenster sah sie eine weiße Eule davonfliegen. Sie sah ihr nach, bis ihre Augen brannten.
Kapitel 8
Wieder in seinem Schlafgemach angelangt verwandelte sich Jareth in seine menschliche Gestalt zurück. Auch hier brach bereits der Morgen an. Die rötlichen Strahlen der aufgehenden Sonne erfüllten sein Zimmer mit romantischem Licht.
Zufrieden sah er sich um. "Das hätte ich selbst nicht besser zaubern können."
Ihm war noch nicht danach sich wieder als Koboldkönig zu fühlen, er wollte noch eine kleine Weile wie ein normaler Mann sein, der sich verliebt hatte. Er trat vor Sarahs Portrait und betrachtete es lange und zärtlich. Er unternahm den Versuch seine Gefühle zu analysieren um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, doch es mißlang ihm gründlich. Zuviel tobte in seinem Innersten. Liebe, Dankbarkeit, Glück....
und Begehren. Noch nie zuvor hatte irgend etwas oder irgend jemand dieses Gefühl in ihm ausgelöst. Es war ihm so fremd wie noch vor einiger Zeit das Gefühl der Liebe.
Wenn er sich ihr Aussehen in ihrem Nachthemd wieder in Erinnerung rief wurde ihm so merkwürdig heiß und sein Atem ging rascher. Er war neugierig wie sich die Sache entwickeln würde. Nachdenklich ging er in seinem Zimmer auf und ab. Er war unschlüssig ob er Hoggle von seinem Treffen mit Sarah berichten sollte. Einerseits war er dagegen, andererseits hatte er Sarah versprochen dem Zwerg ihre Grüße zu bestellen. Er seufzte. Sein Leben war merkwürdig kompliziert geworden. Er entschied sich schließlich dafür dem Zwerg alles zu erzählen und damit sein Versprechen Sarah gegenüber zu halten. Er hatte die vage Vorstellung davon, daß sie es hätte herausfinden können und sie wäre bestimmt böse mit ihm gewesen. Das wollte er auf keinen Fall riskieren. Er würde alles tun um sie glücklich zu machen. Egal wie schwer es ihm auch fallen mochte. Er gähnte herzhaft. Mittlerweile war er sehr müde geworden und er blickte sehnsüchtig sein Bett an. Doch erst mußte er mit Hoggle sprechen. Am besten würde er ihn holen lassen. Er selbst war zu müde um sich noch einmal irgendwohin zu zaubern.
Jareths Wachen mußten glücklicherweise nicht lange nach Hoggle suchen. In der Koboldstadt war gerade Markttag und Hoggle schob sich mit vielen anderen Geschöpfen des Labyrinths an den Marktständen vorbei, als die Wachen seiner ansichtig wurden.
"He !! Du da!!"
"Meint ihr mich?" Überrascht drehte sich Hoggle um. Als er sah, daß Jareths Wachen auf ihn zukamen rutschte ihm das Herz in die Hosen. Bestimmt waren sie gekommen um ihn wegen des Zauberspiegels zu verhaften. Hoggle hatte sich bereits in Sicherheit gewiegt, als mehrere Wochen nichts geschehen war und niemand etwas von Jareth gehört oder gesehen hatte, aber es war dem König wohl doch wieder eingefallen. Seine sanfte Miene bei ihrem letzten Zusammentreffen war ja auch gar nicht typisch für ihn gewesen.
"Ja, du! Hoggle, oder wie du auch heißt. Der König will dich sehen."
"Seine Majestät?" Er hatte also richtig geraten. "Warum will seine Majestät mich denn verhaften? Es schien ihm doch damals nichts auszumachen", unternahm Hoggle einen lahmen Versuch um seiner Verhaftung zu entkommen. Doch aus einer Flucht würde sowieso nichts mehr werden, wie sich durch einen schnellen Blick herausstellte. Allerlei Schaulustige hatten sich um die kleine Gruppe versammelte und versperrten jeglichen Fluchtweg.
"Was sagt der da von verhaften? Hätten wir zwar auch lieber gemacht, aber der König hat nichts davon gesagt. Du sollst einfach nur mitkommen. Bringt Hoggle zu mir, ich habe mit ihm zu sprechen. Hat er gesagt. Nicht mehr und nicht weniger. Also was ist jetzt? Kommst du mit? Oder sollen wir dich doch noch verhaften."
"Nein, nein", stammelte der aufgeregte Hoggle. "Ich komme ja schon."
Die Menge zerstreute sich um das kleine Grüppchen durchzulassen. Und schon kurze Zeit darauf sprach die ganze Koboldstadt von nichts anderem mehr: ihr König wollte mit einem von ihnen sprechen und hatte ihn dazu nicht einmal verhaften lassen. Die Neuigkeit war so unerhört, daß sie kaum geglaubt wurde und deshalb genauso schnell wieder in Vergessenheit geriet.
Auf dem Weg zum Schloß schimpfte Hoggle in Gedanken über seinen König. "Dieser verflixte Jareth! Nie weiß man woran man bei ihm ist. Einmal ist er honigsüß und in der nächsten Minute der reinste Teufel."
Jareth saß in einem purpurroten Morgenrock an seinem Schreibtisch, den Kopf auf eine Hand gestützt. Als an seine Tür geklopft wurde ließ er sich müde in seinen Sessel zurückfallen und rief: "Herein mit ihm!"
Hoggle wurde von den Wachen förmlich in Jareths Arbeitszimmer hineingestoßen. Seine Beine zitterten so sehr, daß sie ihm nicht mehr gehorchten. Die Tür wurde hinter ihm zugeschlagen und er fühlte sich gefangen. Ängstlich sah er zu dem großen Schreibtisch hinüber an dem Jareth saß. Als er bemerkte, daß sein König augenscheinlich mehr gegen den Schlaf kämpfte, als gegen eine aufkommende Wut, schöpfte er wieder ein wenig Hoffnung.
"Komm´ her Hoggle und setz dich zu mir", winkte ihn Jareth zu sich heran.
Hoggle gehorchte und nahm immer noch unbehaglich auf einem der Schemel Platz.
Hoggles Furcht war so offensichtlich, daß sich Jareth leicht darüber amüsierte. Er konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Doch er hatte den kleinen Kerl nicht rufen lassen um ihm Unbehagen zu bereiten. Jareth räusperte sich.
"Du wirst dich freuen zu hören, daß es Sarah gut geht."
Diese Nachricht schlug bei Hoggle ein wie eine Bombe.
"Eure Majestät! Ihr habt mit ihr gesprochen? Wo ist sie? Wie geht es ihr? Warum hatte sie sich nicht mehr gemeldet?" In seiner Aufregung vergaß er sogar seine Angst vor Jareth.
"Pst, Hoggle. Eins nach dem anderen." Hoggles Erleichterung amüsierte ihn. Sie erinnerte ihn an seine eigenen Gefühle. "Sie lebt noch bei ihren Eltern, aber sie zieht in wenigen Tagen nach einem Ort namens Phoenix um, um dort zu arbeiten. Sie hat mir Grüße an euch aufgetragen. Und ich habe ihr Versprechen, daß sie den Spiegel wieder benutzen wird - regelmäßig."
"Tatsächlich?"
"Sie hat es versprochen."
Hoggle runzelte die Stirn. "Wie ist es Euch gelungen, zu ihr zu kommen? Als ich Euch fragte ob es möglich wäre, sagtet Ihr, es ginge nicht."
Jareth grinste. "Ich habe einen kleinen Trick versucht und er ist mir gelungen."
Plötzlich sprang Hoggle auf. "Wenn ihr die Lady hereinlegen wollt, dann, dann...."
Hoggle suchte verzweifelt nach einer Drohung die fürchterlich genug war um Jareth einzuschüchtern, doch in der Aufregung wollte ihm keine einfallen. Schließlich wurde ihm bewußt, was er eigentlich tat und schielte schuldbewußt nach seinem König.
Jareth sah den Zwerg ernst an.
"Sarah ist die letzte Person in diesem Universum, der ich etwas Böses antun würde. Ich habe sogar die Hoffnung, daß sie einen Bruchteil der Gefühle die ich für sie hege erwidert." So, dachte er dann. Nun ist es heraus. Ich hätte nicht mit Hoggle sprechen dürfen, solange ich so müde bin.
"Ist das wahr?" Hoggle konnte vor Überraschung kaum denken.
Jareth erhob sich. "Ich werde dir etwas zeigen. Komm mit."
Hoggle folgte ihm in sein Schlafgemach und blieb (wenn möglich) noch überraschter als zuvor wie angewurzelt stehen. In Jareths Schlafgemach hing ein Bild von Sarah.
Sein Blick ging von dem Bild zu Jareth und wieder zurück. Als er bemerkte wie wehmütig dieser das Portrait betrachtete fing er tatsächlich an zu verstehen.
"Hoggle, ich weiß, daß du mir kaum glauben wirst, aber ich liebe Sarah von ganzem Herzen. Deshalb war ich heute nacht bei ihr. Ich konnte es nicht mehr ertragen, sie nicht zu sehen. Ich habe ihr das Versprechen abgenommen wieder den Spiegel zu benutzten und ich hoffe, sie wird dadurch mit mir sprechen wollen und nicht mit euch." Jareth lächelte schwach. "Sie wollte mit diesem Kapitel ihres Lebens abschließen, aber ich glaube, sie hätte es genausowenig gekonnt, wie ich. Doch jetzt laß mich bitte allein, Hoggle. Ich werde dich auf dem laufenden halten."
Hoggle war zu perplex um etwas anderes zu tun, als ihm Jareth geboten hatte, so machte er eine tiefe Verbeugung vor seinem König und verließ das Schloß so schnell ihn seine kurzen Beine trugen.
Derweil konnte Jareth endlich zu Bett gehen.
Kapitel 9
Sarah hatte nach den Ereignissen dieser Nacht einfach nicht mehr die Ruhe um sich hinzulegen und zu schlafen, obwohl sie dringend Schlaf gebraucht hätte. So setzte sie sich eben an ihren Schreibtisch und schaltete ihren PC an. Um sich abzulenken sicherte sie einige Dateien und Dokumente auf Diskette, damit sie bei ihrem Umzug auf keinen Fall gelöscht wurden. Eine Zeitlang funktionierte diese Art der Selbsttäuschung auch ganz gut, doch dann gingen ihre Gedanken auf die Reise ins Labyrinth.
Wie es wohl sein würde mit Jareth zu leben? Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wünschte sie sich tatsächlich nichts sehnlicher als dies. Sie gehörten zusammen, waren wie zwei Teile eines Ganzen. Nach dieser Nacht war sie sich sicher, daß er sie genauso liebte, wie sie ihn. Warum er allerdings keine Anstalten gemacht hatte um sie zu verführen, oder wenigstens zu küssen, darauf konnte sie sich noch keinen Reim machen. Vielleicht hatte er sich ganz einfach gentlemanlike verhalten. Es wäre auch etwas gewagt gewesen, wenn sie und Jareth... mit ihren Eltern nebenan....
Sie lächelte. Das mußte der Grund für sein Verhalten gewesen sein. Doch wenn sie erst ihre eigene Wohnung hatte..... Ungeahnte Möglichkeiten!
Sie würden so glücklich miteinander sein! Nur sie beide! Nur sie beide? Verdammt, das war der Haken an der Geschichte. Er paßte nicht in ihre reale Welt. Er war zu phantastisch. Sie konnte ihn ja schlecht ihren Eltern als Schwiegersohn präsentieren. Die Vorstellung war zu lächerlich. Und wenn sie einfach mit ihm verschwand? In sein Reich? Puh! Den ganzen Tag nur Kobolde. So umwerfend konnten die Nächte gar nicht sein, um dieses Manko auszugleichen.... und doch.... Liebte sie ihn etwa nicht genug um ihm überallhin zu folgen?
Ihre leibliche Mutter hatte das getan. Sie folgte ihrem Bühnen- und späteren Lebenspartner überallhin. Sie hatte ihn genug geliebt um allen Konventionen zu trotzen und war einfach mit ihm auf und davon gegangen. Sarahs Lächeln wurde bitter. Ja, wahre Liebe hatte ihre leibliche Mutter dazu gebracht Sarah und ihren Vater einfach zurückzulassen. Sie hatte damit den Menschen die sie am meisten geliebt hatten unglaublich weh getan. Und wofür? Für ein bißchen Romantik. Nach ein paar Jahren war die große Liebe vorbei gewesen. Am Ende hatte dieser Jeremy ihre Mutter einfach verlassen. Sarah hatte dies stets als ausgleichende Gerechtigkeit empfunden. Sarahs Kontakt zu ihrer Mutter und ihrem Liebhaber war mehr als locker gewesen und nach dieser Trennung war er ganz abgerissen. Rückblickend betrachtet bedauerte Sarah dies nicht. Nicht mehr. Und jetzt? Jetzt mußte sie feststellen, daß mehr von ihrer Mutter in ihr steckte, als ihr lieb war. Bis vor wenigen Minuten war sie noch drauf und dran gewesen, die Menschen zu verlassen, die ihr am meisten bedeuteten, nur um mit einem dubiosen Koboldkönig in wilder Ehe zu leben. Mein Gott! Was für eine abstruse Idee! Andererseits - wiedersehen wollte sie ihn schon...Vielleicht war das eine bessere Erklärung für Jareths Verhalten. Auch er sah nicht, wie diese Liebe eine Zukunft haben konnte. Aber auch er konnte nicht von ihr lassen, genausowenig wie sie ihn sich aus dem Herzen reißen konnte, obwohl sie es jahrelang versucht hatte. Sie glaubte nun zu verstehen, daß er ihr zwar nicht seine Liebe, aber seine Freundschaft angeboten hatte. Eine Freundschaft, in der er nichts von ihr fordern wollte, außer dem was sie zu geben bereit war. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Dieser Mann war eindeutig zu gut für diese Welt. Nie würde er sie gegen ihren Willen betatschen oder ihr einen Kuß rauben, wie ihr das schon oft passiert war. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er sie küssen würde, wenn sie es von ihm verlangte. Sie begriff, daß alles bei ihr lag und sie sehr vorsichtig sein mußte wenn sie nicht etwas sehr, sehr Wertvolles zerstören wollte.
Erschöpft und etwas mutlos schaltete sie den PC ab. Es war Zeit aufzustehen. Vor ihrem Umzug war noch einiges zu erledigen.
Der Tag war erwartungsgemäß hektisch verlaufen.
Morgens hatte ihre Mutter noch bittere Tränen vergossen und sogar die Augen ihres Vaters hatten feucht geglänzt, als sie sich von ihm verabschiedet hatte. Auch Toby war traurig gewesen, daß seine große Schwester ihn verließ. Erst ihr Versprechen, daß sie zu Weihnachten auf Besuch kommen würde und ihm ein ganz tolles Geschenk mitbrächte, versöhnte ihn wieder etwas. Schließlich hatte sie sich in ihr Auto gezwängt und war dem Umzugswagen die ganze Strecke bis nach Phoenix vorneweg gefahren. Ihre neue Wohnung lag in einem Apartmenthaus, das noch keine zehn Jahre alt war. Die Anlage war zwar nicht mehr schick, aber immer noch sehr schön und ziemlich gemütlich. Ihr Appartement war für eine Person ausreichend. Es hatte einen großen Wohnraum in den Küche, Ess- und Wohnzimmer integriert waren, außerdem ein Schlafzimmer mit anschließendem Bad. Durch die großen Fenster und den ebenfalls ziemlich großen Balkon, der vom Wohnraum aus betreten werden konnte, wirkte die Wohnung sehr luftig und freundlich. Überdies hatte sie durch ihre Lage im 10. Stock zwar keinen atemberaubenden, aber doch ein schönen Ausblick auf Phoenix. Nachdem die Möbelpacker ihr Hab und Gut ausgeladen hatten, räumte Sarah bis in den späten Abend hinein so lange ein, aus, und um, bis das meiste geschafft war. Die wirkliche Schufterei würde erst in den nächsten drei Tagen richtig losgehen, wenn die restlichen Möbel, die sie bestellt hatte, geliefert wurden. Für diesen Tag hatte sie lediglich den Aufbau ihres Schlafzimmer angesetzt. So emotionslos wie sie diesen Tag gemeistert hatte, hatte sie doch tausend Ängste ausgestanden, daß ihrer Spiegelkommode auf dem Transport etwas zustoßen könnte. Sie hatte sich erst wieder beruhigt, als sie sicher in ihrem Schlafzimmer deponiert war. Beim Abstauben des Spiegels hatte ihr Pulsschlag allerdings doch wieder verrückt gespielt. Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Gestern noch hatte sie beschlossen, Jareth nur noch als Freund zu sehen, und sich alles andere wegen der Unausführbarkeit aus dem Kopf zu schlagen und kaum dachte sie daran, daß sie ihn nun bald wiedersehen würde, schon tanzte ihr Herz Cha-cha-cha. So konnte es nicht weitergehen. Sie mußte sich genauso zusammenreißen wie er. Wenn sie ihn nicht für immer verlieren wollte mußte sie ihre Gefühle unterdrücken. Allzu schwer sollte ihr das eigentlich nicht fallen. Sie lächelte schief. Schließlich hatte sie es lange genug getan. Nun kam es auf ein paar Jahre mehr oder weniger auch nicht mehr an. Worauf es nun ankam war einzig und allein die Tatsache, daß auch er sie wiedersehen wollte. An diesen Gedanken klammerte sie sich unbewußt mit der ganzen Kraft ihres unverstandenen Herzens.
Kapitel 10
"Wenn ich es euch doch sage! Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!" Behauptete Hoggle nun zum dritten Mal.
Sir Dydimus, Ludo und der Zwerg saßen vor Hoggles Hütte auf dem weichen Waldboden. Hoggle hatte noch am selben Tag Sarahs frühere Weggefährten alarmiert und berichtete ihnen von seinen merkwürdigen Erlebnissen mit seiner Majestät. Wie der König den Spiegel zerbrechen wollte, es dann aber doch nicht getan hatte, wie er Hoggle über Sarah ausgehorcht hatte und wie er schließlich erst vor wenigen Stunden Hoggle zu sich hatte kommen lassen um ihm ein Bild von Sarah zu zeigen und allerlei dummes Zeug zu reden.
"Und seine Majestät sagte wirklich er habe mit Mylady Sarah gesprochen und sie ließe uns Grüße ausrichten?" Sir Dydimus wollte es einfach nicht glauben. Denn wenn es sich tatsächlich so abgespielt hatte, wie sein treuer Waffenbruder es ihn glauben machen wollte, so mußte er in seiner Ehre und ihn seinem Stolz gekränkt sein. Im Stillen hatte er sich selbst Hoffnung auf die holde Lady gemacht. Zu Ihren Ehren hätte er die tapfersten Heldentaten begangen und vielleicht, eines Tages, hätte sie ihm dann eines ihrer Taschentüchlein..... "Ich kann es nicht begreifen, warum sie sich mit seiner Majestät abgibt und uns, ihrer ehemaligen Waffengefährten....," vor Empörung blieb ihm die Luft weg. "Oder verstehst du das, Ambrosius?"
Doch Ambrosius hatte den Ernst der Lage genausowenig begriffen wie Ludo. Er verstand nur, daß sein Herr seit einiger Zeit das Zigeunerleben als Brückenwächter aufgegeben hatte um Kommandant der Stadttorwache zu werden. Das behagte Ambrosius weit mehr als wilde Kämpfe und kühne Heldentaten.
"Wenn seine Majestät nicht so wäre wie er eben ist könnte man tatsächlich glauben, er hätte sich in Sarah verliebt," griff Hoggle den flüchtigen Gedanken wieder auf, der ihm bei seiner überstürzten Flucht aus dem Schloß heute morgen durch den Kopf geschossen war. "Was haltet ihr davon?" Forschend sah er in die Runde.
Sir Dydimus schnappte vor lauter Entrüstung nach Luft. Als er sich wieder gefangen hatte und zu einer Erwiderung ansetzte, kam ihm jedoch Ludo zuvor.
"Sarah - König - Freunde", brummte er mit seiner tiefen Stimme. Es war keine Frage, es war eine Feststellung. Das war doch so einfach. Warum machten seine Freunde deswegen nur so ein Geschrei?
Sir Dydimus sah den treuen Riesen mit großen Augen an.
"Nun ja, wenn Ihr meint, Sir Ludo....dann wird es wohl so sein", seufzte er. "Mein ganzes Streben war immer nur auf das Glück der jungen Lady ausgerichtet. Wenn sie meint, sie braucht Ihre Majestät zu ihrem Glück.....nun gut, dann soll sie ihn auch bekommen." Sein edler Verzicht auf die Hand der Mylady um ihres Glückes Willen trieb ihm fast die Tränen in die Augen. Ja, so verhielt sich noch ein Ritter der alten Schule! Jetzt konnte er wieder stolz auf sich sein und den Kopf hoch tragen. Er hatte seine Ideale nicht verraten.
"Wenn wir wenigstens mit Sarah selbst sprechen könnten", gab Hoggle zu bedenken.
"Sarah - erwachsen", brummte Ludo.
Sir Dydimus runzelte die Stirn und Hoggle zuckte mit den Schultern. "Ludo hat wahrscheinlich recht. Sarah ist mittlerweile alt genug um zu wissen, was sie will. Ich fürchte fast, sie braucht uns tatsächlich nicht mehr....." Hoggle verstummte.
Als Jareth erwachte, war der Tag schon weit fortgeschritten und die Nachmittagssonne zauberte warme Lichtreflexe auf Sarahs Portrait.
Jareth blieb noch eine Weile in seinem Bett liegen, um es in Ruhe zu betrachten, und um seine Gedanken nach der letzten Nacht zu ordnen.
Alles in allem konnte er sehr zufrieden mit sich sein. Bis auf seine Ausrutscher Hoggle gegenüber....doch das war nun nicht mehr zu ändern. Irgendwann hätte der Zwerg sowieso alles erfahren. Jareth konnte nicht ausschließen, daß Sarah den Spiegel nun auch benutzte um mit ihren alten Freunden wieder Kontakt aufzunehmen. Das konnte er weder überwachen, noch kontrollieren. Es war besser gewesen, die Wahrheit zu sagen. Plötzlich lachte er auf. Die Wahrheit! Phantastisch!
Seine Majestät, der Koboldkönig wurde auf seine alten Tage noch ehrbar und anständig. Ein Witz! Doch was sollte er dagegen tun. Ein Blick in ihre unrgründlichen grau-grünen Augen und er war ihr machtlos ausgeliefert. Ob sie wohl schon heute abend nach im rufen würde? Ob sie es tat oder nicht, er mußte auf jeden Fall bereit sein. Schnell stand er auf, um sich anzukleiden. Sorgsam wählte er ein rotes, einfach geschnittenes Hemd mit weiten Ärmeln, aber ohne Rüschen aus. Dazu zog er eine enge schwarze Hose und eine weiten schwarzen Mantel ohne Ärmel an. Zufrieden betrachtete er sein Spiegelbild. Ob er nicht doch mal eine andere Frisur ausprobieren sollte. Vielleicht einen Zopf im Nacken? Nach einigen Minuten in denen er sich mit einem schwarzen Band vergeblich abgemüht hatte, gab er es schließlich auf. Seine Haare waren einfach zu widerspenstig. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, daß er wahrscheinlich noch genügend Zeit hatte um einige Papiere durchzuarbeiten, bis ihn Sarah rief.
Wenn sie ihn heute überhaupt rief. Er zuckte die Schultern, als er die Berge von Arbeit auf seinem Schreibtisch im Nebenzimmer in Augenschein nahm. Und wenn nicht.....dann würde er wenigstens mal dazu kommen alles aufzuarbeiten. Auch wenn er es noch so gern getan hätte, er durfte nicht sein ganzes Herz an sie hängen.
Sein Reich hatte genauso viel Anspruch auf ihn. Wenn er doch nur Gewißheit hätte, ob seine Liebe zu ihr eine Zukunft haben könnte..... Er seufzte leise. Sich wie ein König zu benehmen war nicht immer leicht.
Behutsam rückte er noch einmal seinen Zauberspiegel in seinem Arbeitszimmer zurecht, dann erst machte er sich an seine Arbeit.
Es war schon fast Mitternacht als sich Sarah entschlossen hatte, Jareth nun doch schon in dieser Nacht zu rufen. Vorher hatte sie noch lange überlegt, was sie anziehen sollte, bis ihr klar wurde, daß das eigentlich völlig egal war. Immerhin hatte er sie ja schon im Nachthemd gesehen. Also! Daher schlüpfte sie gleich in ihren grünen Seidenpyjama und zog noch einen leichten Morgenmantel darüber, den sie aber durchaus nicht zuband. Nach diesen ganzen Vorbereitungen setzte sie sich etwas nervös vor ihren Frisierspiegel und flüsterte ganz leise seinen Namen um sich sofort ganz entsetzlich albern vorzukommen.
Doch dann geschah etwas. Ihr Spiegelbild trübte sich, der Spiegel flimmerte und Jareths Gesicht erschien.
Er lächelte sie an. "Guten Abend, Sarah."
"Guten Abend, Jareth."
"Ich nehme an, du bist schon umgezogen?"
"Ja, das hier ist Phoenix."
"Was ich bis jetzt davon sehe gefällt mir." Sarah spürte, wie sie rot wurde, doch er blickte an ihr vorbei, um das Zimmer besser in Augenschein nehmen zu können. "Dein Schlafzimmer?" Seine linke Augenbraue hob sich überrascht in die Höhe. Sarahs Bett stand der Spiegelkommode direkt gegenüber. Außerdem konnte er noch einen Schrank erkennen und wenn er sich etwas anstrengt hätte, hätte er wahrscheinlich auch einen Blick aus dem Fenster werfen können. Was er sah gefiel ihm. Die Möbel waren neu, aber im Stil den Möbeln, die sie in ihrem Elternhaus gehabt hatte sehr ähnlich. Sie waren in apartem lichtgrau gehalten, der Teppichboden und die Vorhänge waren einige Nuancen dunkler. Die Wände waren apricot-farben, genauso wie die Tagesdecke ihres Bettes. Und wahrscheinlich auch ihre Bettwäsche....ob die wohl aus Satin war? Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er auf das Bett förmlich gestarrt hatte und er wandte sich schnell wieder Sarah zu, die inzwischen allerdings auch etwas verlegen dreinsah.
Verflixt, so etwas durfte ihm nie wieder passieren. Er hatte auch nicht im Traum damit gerechnet, daß sie die Kommode in ihr Schlafzimmer stellen würde. Auf diese intime Umgebung war er nicht vorbereitet gewesen. Von jetzt ab mußte er sich viel besser zusammennehmen und sich vor allem endlich wie ein König benehmen und nicht wie irgendein dahergelaufener Spanner von der Straße!
"Natürlich dein Schlafzimmer. Verzeih mir Sarah, wie dumm von mir. Natürlich kannst du eine Frisierkommode schlecht in die Küche stellen."
Sie lächelte ihn dankbar an. Nachdem er die Spannung von ihnen genommen hatte, konnte sie wieder unbefangen mit ihm sprechen.
"Nein, das hätte wohl etwas seltsam ausgesehen." Stimmte sie ihm zu.
"Wie fühlst du dich jetzt? Bist du froh hier zu sein?"
"Ich bin ziemlich müde", gab sie offen zu. "Der Tag war doch ziemlich anstrengend. Aber die Wohnung ist sehr schön...." Sie überlegte bevor sie fortfuhr. "Ich bin froh, daß ich jetzt hier bin. Obwohl es eigentlich keine Unterschied macht, ob es jetzt tatsächlich Phoenix ist. Es hätte auch jede andere Stadt sein können. An Städten liegt mir nicht viel. Hauptsache ich bin nicht mehr in meiner Heimatstadt."
Ihr Stimme hatte abweisend geklungen, doch Jareth kam es so vor, als ob sie trotzdem darüber sprechen wollte. Außerdem war er neugierig geworden. Es war so aufregend mit ihr zu sprechen. Viel aufregender als sie nur im Schlaf zu beobachten.
"War es dort so schlimm? Ich hatte bislang nicht den Eindruck, daß du es eilig gehabt hättest von deinen Eltern wegzukommen."
"Es waren nicht meine Eltern - die habe ich sehr lieb, es waren die anderen Menschen dort...." Sie stockte. Konnte sie es ihm wirklich erzählen? Es wäre eine solche Erleichterung, sich einmal den Kummer von der Seele zu reden. Auch wenn sie ihrer alten Umgebung entflohen war, so mußte sie doch wenigstens einmal mit jemandem darüber sprechen um es zu verarbeiten. Und wer würde sie besser verstehen als Jareth? Außerdem konnte er es keiner Menschenseele weitererzählen. Ihre Kümmernisse wären bei ihm gut aufgehoben. Sie biß sich kurz auf die Unterlippe, doch dann sprach sie schnell weiter: "Ich habe mich dort nie wohlgefühlt. Ich hatte immer das Gefühl anders zu sein. Anders als die anderen. Schon als Kind war das so." Sie sah Jareth an. In seinen unergründlichen blauen Augen konnte sie lesen, daß er sie verstand. Besser verstand als je ein Mensch zuvor. "Und dann...dann hat Dad wieder geheiratet und ich war wieder anders als die anderen. Das einzige Mädchen mit einer Stiefmutter. Es war ein regelrechter Skandal. Als dann auch noch Toby auf die Welt kam....da konnte meine Andersartigkeit nicht mehr überboten werden. Ich war so bekannt wie ein Kalb mit zwei Köpfen. Und genauso gefürchtet. Die Menschen fürchten sie immer vor allem das anders ist als die Norm...." Sie lächelte schief. "Und dann....dann kamst du...."
"Ich kam, weil du mich riefst", sagte er mit sanfter Stimme.
"Ja, das hab ich wohl...." Sie senkte den Blick. "Auf jeden Fall hatte ich sowieso nie viele Freunde gehabt und von da an wurden es immer weniger. Ich hatte mit ihnen kaum etwas gemeinsam. Meine Erlebnisse hatten mich verändert. Du hast mich...." sie zögerte. "Das Labyrinth hat mich verändert. Niemand hat mich je verstanden.....niemand.....außer......" Sie unterbrach sich wieder. "Auch Greg hat nie begriffen......"
Das war für Jareth eine beunruhigende Neuigkeit. Er konnte die Frage einfach nicht unterdrücken. "Greg?"
"Ja, Greg. Ein Junge mit dem ich gegangen bin bis vor....." Sie überlegte. "Bis vor einer Woche!" Sie war ehrlich überrascht. Sie hätte ihren neuen Job darauf verwettet, daß sie ihm bereits vor mehreren Monaten den Laufpaß gegeben hatte.
Jareth konnte sie nur völlig perplex anstarren. Ein Mann in ihrem Leben. Die ganze Zeit über. Und er hatte nichts davon bemerkt. Andererseits schien sie ihm auch keine großen Tränen nachzuweinen. Möglicherweise war es gar nichts Ernstes gewesen.
Sarah hatte plötzlich das Bedürfnis ihr Verhältnis zu Greg näher zu erläutern, doch schließlich sagte sie nur: "Es hatte nichts zu bedeuten. Er war einfach nur ein Freund....und selbst das wäre schon übertrieben."
Jareth atmete insgeheim erleichtert aus.
"Auf jeden Fall wollte ich unbedingt weg. Egal wohin. Es ging einfach nicht mehr. Deshalb habe ich auch einen Beruf in der Werbebranche. Falls du es nicht weißt, Werbeleute sind auch anders als alle anderen. Dort werde ich so akzeptiert wie ich bin. Da muß ich mich nicht verbiegen nur um dazuzugehören."
Erst jetzt hatte sie wieder den Mut ihm in die Augen zu sehen. Der ernste Blick aus seinen magischen Augen schwemmte ihre Seelennöte mit sich fort. Sie fühlte sich zum ersten Mal seit Jahren wieder leicht wie ein Schmetterling.
Jareth hingegen wünschte sich nichts sehnlicher als sie in seine Arme zu schließen und ihre ganzen Sorgen einfach wegzuküssen. Aber wer hatte je behauptet, das Leben wäre einfach.....
"Du hattest nie besonders viel Spaß, nicht wahr, Sarah?"
"Nein, nicht sehr. Aber jetzt macht es mir nichts mehr aus. Das ist Vergangenheit. Auf mich wartet jetzt ein anderes Leben."
"Du bist ein außergewöhnliches Mädchen."
"Ich weiß!" Sie grinste übermütig. "Welches normale Mädchen besäße schon einen Zauberspiegel!" Da konnte sie ein Gähnen nicht mehr unterdrücken.
"Ich sehe, du bist müde. Darf ich dir schöne Träume wünschen?"
"Ja, du darfst. Denn was man in der ersten Nacht in einer neuen Wohnung träumt, geht in Erfüllung! Gute Nacht, Jareth."
"Gute Nacht."
Als sich sein Gesicht bereits auflöste flüsterte sie noch schnell "Bis morgen" und wußte nicht, ob er es nun gehört hatte oder nicht.
Doch Jareth hatte es sehr wohl noch gehört und ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Glücklich lehnte er sich in seinem Sessel zurück. Es war tatsächlich sehr spät geworden, aber die meiste Arbeit hatte er vor ihrem Ruf glücklicherweise erledigen können. Die restlichen Stapel waren nicht mehr der Rede wert und so konnte er sich in sein Schlafgemach zurückziehen.
Er entkleidete sich rasch und zog ein weißes Rüschennachthemd an, das er nur halb zuknöpfte, da er glaubte er würde sonst an seine Gefühlen ersticken. Er hatte gleich schlafen gehen wollen, doch stattdessen saß er noch lange mit gekreuzten Beinen auf seinem Bett. Daß er Sarah liebte wußte er schon lange, doch wie unmöglich diese Liebe war, war ihm erst heute klar geworden. Sie würde ihr Leben auf der Erde nie eintauschen gegen ein Leben an seiner Seite. Ihr mußte schon länger klar geworden sein, daß sich diese Liebe nie erfüllen würde. Denn daß auch sie ihn liebte, das hatte er heute sehr wohl gemerkt. Und auch sie wollte ihn wiedersehen, wieder mit ihm sprechen. Sogar schon morgen. Und wahrscheinlich von nun an jeden Tag. Es war ein Teufelskreis. Sie liebten einander gegen jede Vernunft und konnten doch nicht voneinander lassen. Alles was er sich erhoffen konnte waren ein paar Augenblicke aus ihrem Leben, ein paar Einblicke in ihre Seele und ihr Herz. Mehr konnte er nicht von ihr verlangen. Mehr würde sie ihm auch nicht geben. Mit erschreckender Schärfe wurde ihm klar, daß es bei diesen Spiegelgesprächen bleiben würde. Nie wieder würde er sie berühren oder gar küssen können oder......
Er dachte daran, wie sie in ihrem Spitzennachthemd ausgesehen hatte und er spürte eine wilde Glut in sich aufsteigen. Einen kurzen Moment gab er sich diesem körperlichen Verlangen nach ihr hin, kostete den süßen Schmerz aus, doch dann unterdrückte er seine Begierde mit seiner ganzen Willensstärke. Es hatte keinen Sinn, nach etwas zu verlangen, daß er doch nie bekommen konnte. Er mußte nehmen, was sie zu geben bereit war. Glücklich werden konnte sie nur mit einem Mann, der wie sie auf der Erde lebte. Wenn dieser Zeitpunkt gekommen war, nun, dann mußte er eben gehen. Er würde ihrem Glück nie ihm Wege stehen, und wenn es ihm das Herz endgültig brach. Doch bis dahin würde sie ihm gehören.
"Life can be easy"
Kapitel 11
Die Tage vergingen in beruhigender Gleichförmigkeit, seit Sarah ihre Arbeit bei Amazing Advertising angetreten hatte. Sie warf sich jeden Morgen mit dem gleichen Elan in ihre Kleidung und auf ihre Arbeit. Der Job machte ihr verflixt viel Spaß auch wenn sie die erste Verschnaufpause erst gegen ein Uhr Mittags hatte, um kurz ein Sandwich zu sich zu nehmen und der Feierabend in der Regel erst nach 18 Uhr in Sicht war. Doch die Stimmung in ihrer Abteilung war locker, die Finanzlage der Firma sah rosig aus, sie waren alle jung und gesund und dazu bereit sich zu Tode zu schuften, wenn, ja wenn eine Beförderung oder ein besseres Gehalt oder auch nur eine hübschere Bilanz für die Firma dabei heraussprang. Sarah war nach der ersten Woche voll integriert, wobei sie es am angenehmsten empfand, daß niemand an ihrer Vergangenheit interessiert war. Tess, eine rundliche Blondine aus einer anderen Abteilung hatte ihr beim Mittagessen erklärt, warum das so war.
"Weißt du Sarah, natürlich haben wir alle noch irgendwo eine Familie sitzen, womöglich sogar eine Verlobten oder einen Ex-Mann oder Kinder. Aber wer will das schon wissen? Natürlich waren wir alle auf der High-School oder dem College. Na und? Wenn es dort, wo wir herkommen, tatsächlich so interessant gewesen wäre, wären wir dann hier? Nein! Wir leben nicht im gestern, Herzchen. Wir leben im Heute und wir genießen es. Und die Brötchen verdienen wir, indem wir das Morgen verkaufen!"
Sarah hatte zwar darüber gelacht, aber im Prinzip hatte Tess recht gehabt. Sie hatte nur eine etwas merkwürdige Art, sich auszudrücken. Es war auch angenehm, daß die Angestellten sich bei der Arbeit bestens verstanden, aber nach Feierabend ihre eignen Wege gingen. Um sich Abends auch noch zu treffen, dazu sah man sich tagsüber einfach zu lange. Sarah konnte das nur recht sein. An einigen Abenden ging sie noch einkaufen oder machte einen kleinen Schaufensterbummel. Bis sie dann nach hause kam war es schon spät genug um die Mikrowelle anzuwerfen und vor dem Fernseher noch etwas auszuspannen. An den Wochenenden machte sie oft lange Spaziergänge um sich die Beine etwas im voraus zu vertreten und sah sich ein bißchen die Stadt an. Ab und zu ging sie auch ins Kino, hatte aber sonst keine Verabredungen. Kurz: sie unterschied sich in nichts von einem berufstätigen weiblichen Single. Bis auf.... ja, bis auf den Moment an jedem Abend, an dem sie das Badezimmer verließ, bereits in Nachthemd oder Pyjama mit ihrem seidenen Morgenmantel darüber und sich bevor sie zu Bett ging noch vor ihre Frisierkommode setzte und nach Jareth rief. In dieser Hinsicht war ihr Leben einmalig.
Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht sich jeden Abend bevor sie zu Bett ging mit Jareth zu unterhalten. Sie bekam dadurch zwar weniger Schlaf als sie eigentlich gebraucht hätte, doch die Gespräche mit ihm gaben ihr jedesmal wieder neue Kraft und Zuversicht in ihre eigenen Fähigkeiten. Ohne ihn hätte sie die ersten Wochen nie so leicht überstanden. Sie wußte das. Sie legte auch nie die Kette mit dem Medaillon ab. Sie war zu ihrem Talisman geworden. Wenn sie von Zweifeln geplagt wurde rief sie sich immer ins Gedächtnis zurück, was sie in ihrem Leben bereits alles erreicht hatte. Die Kette war zu einem Symbol dafür geworden. Jareth hatte nie wieder ein Wort über sein Geschenk verloren, aber sie spürte, daß sein Blick jeden Abend nach dem Medaillon suchte und er jedesmal wieder erleichtert war, wenn er sah, daß sie es noch trug. Es tat so gut, ihm alles zu erzählen, über ihre Kindheit, ihre Mutter, die Schule und den neuen Job. Sie unterhielten sich über alles mögliche, ab und zu rutschen ihre Gespräche auch ins philosophische oder ins lächerliche ab. Doch beide erweiterten durch diese Unterhaltungen ihren Horizont und lernten viel voneinander.
Glücklicherweise drängten sich nur selten erotische Untertöne in ihre Gespräche, denn wenn dies einmal geschah, waren beide unangenehm davon berührt. Sie wußten, daß es besser für sie war, wenn sie nur Freunde blieben und nicht mehr. Doch die Spannung zwischen ihnen konnte man an manchen Abenden fast mit den Händen greifen.
Kapitel 12
"Jareth, ich muß dir noch etwas sagen."
Erstaunt sah er sie an. Was kam jetzt wohl?
"Ich kann dich morgen abend nicht sehen", ergänzte Sarah. "Morgen ist Halloween."
"Halloween? Ich glaube, ich verstehe den Zusammenhang nicht ganz.....wobei du dich natürlich nicht dafür entschuldigen mußt, daß wir uns einmal nicht sehen können." Er lächelte sie an. "Dies hier ist keine Verpflichtung. Und sollte es auch nie sein", fügte er etwas ernster hinzu.
"Verpflichtung? Nie im Leben!" entrüstete sich Sarah. "Es ist nur so.....ach, ist ja auch egal. Ich werde dir jetzt erklären was die ganze Sache mit Halloween zu tun hat."
"Ich bitte darum", erwiderte Jareth amüsiert.
"Die Sache ist die, daß unsere Firma jedes Jahr an Halloween mit Einladungen zu Party überschwemmt wird. Weil alle Einladungen von guten Kunden sind, muß einfach irgend jemand von uns hingehen. Mittlerweile hat es sich wohl eingebürgert, daß die Chefs sich die wirklich wichtigen Einladungen herauspicken und selbst hingehen, und die anderen werden unter allen Angestellten verlost."
Sarah erwartete sichtlich eine Reaktion auf ihre Erklärung und so sagte Jareth: "Klingt sehr amüsant."
"Amüsant? Diesen Zirkus findest du amüsant?" Sarah ärgerte sich. Jareth hatte schon immer gefunden, daß sie besonders niedlich aussah, wenn sie sich über etwas ärgerte, aber das konnte er ihr einfach nicht sagen.
"Wie dem auch sei - ich habe mir im Kostümverleih ein Kleid geholt und werde morgen abend bei Mister Millford erscheinen. Er macht in Bohnerwachs." Sie schnitt eine Grimasse.
"Ich wünsche dir trotzdem viel Spaß. Amüsier dich gut, bezaubere den Bohnerwachskönig und ziehe einen neuen Werbeauftrag an Land." Er lachte.
"Ach dummes Zeug." Doch sie mußte auch lachen. "Gute Nacht, Jareth."
"Gute Nacht."
Als Sarahs Bild im Zauberspiegel erloschen war lehnte sich Jareth nachdenklich in seinem Sessel zurück. Es wurmte ihn ein bißchen, daß sie ausging. Es war nicht so sehr die Tatsache, daß sie überhaupt ausging, es war nur so, wenn sie schon mit keinem anderen Mann verabredet war, dann wäre er schon gerne selbst mit ihr ausgegangen.
Halloween. Er schüttelte den Kopf. Die Menschen würde er nie völlig begreifen können. Eine magische Nacht, in der alle Grenzen verwischen und alles möglich war, nahmen sie alljährlich zum Anlaß für eine Art Karneval. Eigentlich sollten sie vor Ehrfurcht erzittern in diesen Nächten der dunklen Macht. Als junger König hatte er in diesen Nächten immer besonders viel Spaß gehabt. Doch die modernen Menschen konnte nichts mehr so leicht erschrecken. Er hätte dieses Jahr auch gar keinen Kopf dafür gehabt.
Halloween. Ein flüchtiger Einfall streifte seine Gedanken, doch er konnte ihn nicht fassen. Er hatte in einem Buch etwas darüber gelesen.... Er würde wohl in seiner Bibliothek danach suchen müssen, es ließ ihm ja sonst doch keine Ruhe.
Kapitel 13
Sarah stand alleine auf der Dachterasse von Mister Millfords schicker Penthouse-Wohnung und langweilte sich. Warum sie sich für diese Halloween-Party für ein Elfenkostüm entschieden hatte wußte sie wirklich nicht mehr. Sie führte nicht einmal mehr als Pluspunkt an, daß es ihr besonders gut stand. Der weite Rock war fast bodenlang und zackig ausgefranst. Die enge Korsage mit dem weiten Ausschnitt brachte ihre Figur besser zur Geltung als in ihren üblichen Bürokostümen. Die Ärmel waren durch halblange lose Stoffstreifen ersetzt und flatterten sacht bei jeder Bewegung. Die Grundfarbe war ein zartes hellgrün, doch je nach Lichteinfall schillerte es silbern auf. Auch die zierlichen Elfenflügel auf ihrem Rücken schimmerten silbern. Eine Maske trug sie nicht, wohl aber einen silbernen Fächer. Ihre Haare hatte sie stundenlang mit dem Lockenstab bearbeitet und eine wundervolle Hochfrisur gezaubert. Doch nun fand sie sich einfach nur einfallslos und altmodisch. Gereizt starrte sie auf die umliegenden Häuser. Halloween. Was für ein Blödsinn! Dachte sie ärgerlich. Sie hatte doch gleich gewußt, daß sie sich hier nicht amüsieren würde. Resigniert sah sie auf ihre Uhr. Erst zehn! Sie seufzte. Anständigerweise konnte sie sich vor Mitternacht schlecht verabschieden. Mist! Sie beschloß noch ein paar Minuten auf der Terrasse zu bleiben und sich dann wieder mit neuem Schwung ins Getümmel der 80 oder 90 anderen Gäste zu stürzen, die sich alle nicht kannten und die sich wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben nie wieder treffen würden.
Auf einmal spürte sie, daß sie nicht mehr allein auf der Terrasse stand.
Langsam straffte sie ihren Körper und drehte sich um. Sie lächelte. Denn noch bevor sie ihn sah, hatte sie gewußt, daß er es war.
Jareth.
Sein Kostüm war in allen Schattierungen von weiß und hellgrau gehalten. Eine weiße Eulen-Halbmaske an einem Stab verdeckte sein Gesicht, doch sie mußte ihn nicht sehen um sich von seiner Anwesenheit zu überzeugen. Er sah umwerfend aus in seinen schmalen Frackhosen, den Halbstiefeln und der Pailletten-Weste. Sein knielanges Cape trug er schräg über einer Schulter. Die Kette, die es hielt, spannte sich diagonal über seiner Hemdbrust und schimmerte im Mondlicht silbern. In den Falten seines Halstuches glitzerte eine silberne Krawattennadel.
In diesem Moment fühlte sie sich wieder lebendig bis in ihre Fingerspitzen.
Jareths Glück war vollkommen. Ihr Lächeln verhieß ihm mehr als eine freundliche Begrüßung. Wie sie so im sanften Licht des Vollmondes vor ihm stand war sie für ihn die Erfüllung all seiner Träume. Während er ihre Erscheinung noch aufmerksam betrachtete bemerkte er wie sie sich veränderte. Ihre Augen leuchteten klarer, ihre Wangen waren rosiger, sogar die Farbe ihrer Aura wechselte von einer Sekunde auf die andere. Jareth lief dabei ein wohliger Schauer den Rücken hinab. Heute nacht war mehr Magie in ihr, als für sie beide gut sein konnte. Doch zum Teufel damit!
Halloween war nicht die Nacht für Skrupel oder Moral.
Mit diesen Gedanken ging er auf Sarah zu, die ihn strahlend erwartete.
"Das ist doch nur ein Traum", flüsterte sie ihm zu.
Er senkte die Eulen-Maske und blickte sie mit einer Intensität an, die sie erschauern ließ.
"Nein, es ist kein Traum. Es ist alles wirklich", flüsterte er genauso leise zurück. Etwas lauter sagte er dann: " Miss Williams, war für eine angenehme Überraschung."
Dabei bückte er sich über ihre Hand und hauchte einen eleganten Kuß darauf. Im ersten Augenblick war Sarah nahe daran, die Fassung zu verlieren, doch dann begriff sie sehr rasch, daß sie Jareth vor den anderen Gästen eine Art Alibi liefern mußte. Wie aufregend! Schließlich waren sie heute nacht nicht alleine auf diesem Planeten. So schüttelte sie ihm artig die Hand und richtete einige passende Worte an ihn: " Mister... Mister King. Ich hatte keine Ahnung, daß sie sich in Phoenix aufhalten.
Eine angenehme Überraschung. In der Tat." Ihre Augen tanzten, denn sie spürte mehr, als daß sie es sah, daß "Mr. King" nahe dran war, vor unterdrücktem Lachen zu platzen. Er hatte sich jedoch schnell wieder unter Kontrolle. Keine Sekunde zu früh, dachte Sarah, denn diesen Moment hatte ihr Gastgeber ausgewählt um auf der Terrasse zu erscheinen. Sarah atmete tief durch und übernahm die Aufgabe die Herren einander vorzustellen.
"Mr. Millford, darf ich Ihnen einen meiner Bekannten vorstellen? Mr. King ist zur Zeit auf Durchreise in Phoenix. Mr. King - Mr. Millford."
Mr. Millford hatte bereits vor Tagen den Überblick über seine Gästeliste verloren. Zu diesem Zeitpunkt hätte sich unerkannt das halbe Pentagon unter seine Gäste mischen können, ohne daß ihm etwas aufgefallen wäre. Sarah allerdings hätte er sogar unter tausenden wiedererkannt. Ihr war das Kunststückchen gelungen, seine - in Bezug auf Frauen - sehr wählerische Aufmerksamkeit für mehr als 30 Sekunden zu fesseln. Er hatte sich geschworen, sich dieses Appettithäppchen, wie er sie im Stillen nannte, nicht von jemand anders wegessen zu lassen. Doch nun war dieser dubiose Bekannte von ihr auf seiner Party aufgetaucht und brachte ihm sein Konzept gehörig durcheinander. Mr. Millford war wild entschlossen herauszufinden, ob er wirklich nur ihr Bekannter war oder nicht.
"Mr. King, woher kennen Sie denn Miss Williams?"
Bevor Jareth noch auf Millfords hinterhältige Frage antworten konnte, warf sich Sarah in die Bresche.
"Oh, Mr. King hielt an meiner Schule einige Vorträge über britische Literatur." Nach einer kleinen Pause fügte sie noch schamlos hinzu: "Er war zudem so freundlich mir damals einige Nachhilfestunden zu geben, die ich dringend nötig hatte."
Jareth hielt sich die Eulenmaske schräg vor sein Gesicht, damit nicht zu sehen war, wie er sich auf die Lippe biß um nicht laut herauszulachen.
Mr. Millford war von ihrer Offenheit peinlich berührt und verabschiedete sich hastig.
"Ach, von der Schule her, naja.... äh...... wir sehen uns ja noch Miss Williams, Mr. King. Amüsieren sie sich noch gut."
Kaum war ihr Gastgeber im Haus verschwunden ließ Jareth seiner aufgestauten Heiterkeit freien Lauf.
"Meine entzückende Elfe! Findest du nicht, du hättest etwas zartfühlender mit deinem Gastgeber umspringen können? Meine Güte, ich hätte nie gedacht, daß du einen Mann so kurz abfertigen könntest, mein liebes Entzücken."
Sarah sog seine Koseworte in sich auf wie ein Schwamm. Es war Balsam für ihre Seele. Um sich nichts davon anmerken zu lassen antwortete sie recht obenhin.
"Meinst du wirklich, ich war zu grob zu ihm? Dann muß ich es wieder gutmachen."
"Später, meine entzückende Elfe, später. Erst möchte ich dich um diesen Tanz bitten. Darf ich?"
Galant reichte er ihr den Arm. Sanft legte sie ihre Finger in seine Armbeuge.
Dabei fing ihr Herz an ungehörig zu klopfen. Sie glaubte schon, auch er müsse es hören, so laut erschien es ihr.
"Nur dieser eine Tanz?"
"Alle Tänze dieser Nacht, wenn du es wünscht, meine Schöne."
"Jareth, du darfst nicht so viel dummes Zeug reden. Ich könnte es schließlich glauben, und mir den Kopf davon verdrehen lassen", beschwerte sie sich leise. Insgeheim hoffte sie jedoch er möge nie damit aufhören. Niemals!
"Nun ja, ein oder zwei Tänze solltest du mit deinem Gastgeber absolvieren und wieder etwas Öl auf die Wogen gießen. Es sollte mich nicht wundern, wenn du ihm dabei sogar noch einen Werbeauftrag abschwatzt."
Mit einem fröhlichen Lachen zog er sie mit sich auf die Tanzfläche.
Sie tanzten die halbe Nacht miteinander. Dazwischen trat Jareth tatsächlich einige Tänze an Mr. Millford ab und beobachtete amüsiert, wie seine entzückende Elfe ihm in der Tat sogar zwei Aufträge abschmeichelte. Während des nächsten Tanzes berichtete sie ihm, wie einfach es gewesen war den armen Mr. Millford um den kleinen Finger zu wickeln und zu ihrer großen Freude flüsterte er ihr daraufhin ins Ohr, daß er sehr stolz auf sie sei. Als sein Atem dabei ihren Hals streifte, atmete sie rascher und ihr Busen hob und senkte sich wie unter einer großen körperlichen Anstrengung. In dieser Stimmung befand sie sich noch immer, als der Bandleader der Tanzkapelle einige Damen dazu animieren wollte, auf die improvisierte Bühne zu kommen und ein oder zwei Lieder zu singen. Sarah war die erste, die er dazu aufforderte. Unter normalen Umständen hätte sie sich geziert und zu Tode geschämt. Doch Jareths Nähe wirkte auf sie berauschender als eine ganze Flasche Sekt und so entschied sie sich spontan und zur Begeisterung aller Gäste dem Bandleader auf die Bühne zu folgen.
Jareth lauschte ihr wie verzaubert. Er hatte sie bislang noch nie singen gehört. Was ihr an Stimme fehlte machte sie durch Gefühl wieder wett. Sie sang "everybody loves somebody sometimes" mit viel Tremolo und Schmalz, wie Dean Martin es vorgegeben hatte. Aber Jareth wußte, daß sie es nur für ihn sang.
everybody loves somebody sometimes
everybody falls in love somehow
something in your kiss just told me
my sometime is now
everybody finds somebody someplaces
there´s no telling where love may appear
something in my heart keeps telling
my someplace is here
and if I had it in my power
I would arange for every boy
to have your charme
and then every minute every hour
every girl would find what I found in your heart
everybody loves somebody sometime
and although my dream was overdue
your love made it well worth waiting
for someone like you...
Der letzte Akkord verklang und Menge beklatschte Sarah wie verrückt. Ihr Vortrag war melodisch gewesen und Erscheinung bezaubernd. Nach ihr wagte sich keine der anwesenden Damen mehr auf die Bühne. Der Bandleader gab es schließlich auf, er wollte sich gerade noch einmal an Sarah um ein zweites Lied wenden, da war sie auch schon verschwunden.
"Don't tell me truth hurts"
Kapitel 14
Sarah und Jareth spazierten durch den nächtlichen Park. Sie hatte sich bei ihm eingehakt und lehnte ihren Kopf leicht an seine Schulter.
"Hat dir das Lied gefallen?" brach sie schließlich das Schweigen.
"Es war sehr....passend. Ich danke dir. Ich fand es wunderschön. Warum wolltest du gleich darauf die Party verlassen?"
"Es ist doch schon so spät. Fast schon drei Uhr morgens." Sie sah zu ihm auf und wußte, daß er ihr nicht glaubte. "Ich wollte noch ein bißchen mit dir allein sein", gab sie schließlich zu.
Wieder herrschte Schweigen zwischen ihnen, bis er stehen blieb und sie zu sich herumdrehte. Sanft legte er ihr beide Hände auf die Schultern.
"Sag mir die Wahrheit, Sarah. Bist du mir sehr böse, daß ich so einfach aufgetaucht bin?" Er sprach mit großem Ernst.
"Böse? Jareth, ich war nie im Leben froher, dich zu sehen. Ich.......ich hatte es mir mehr als alles auf der Welt gewünscht...." ihre Stimme erstarb zu einem Flüstern. Dann runzelte sie die Stirn. " Wie hast du das eigentlich gemacht? Wie ist es dir gelungen, hier zu erscheinen? Ich dachte immer, das geht nicht so einfach."
Was war sie doch für ein kapriziöses Geschöpfchen. Er sah sie amüsiert an.
"An Halloween verschwimmen die Grenzen", antwortete er ausweichend. "Alles ist erfüllt von Magie und Zauber. Mehr kann ich dir leider nicht sagen. Und du bist mir wirklich nicht böse?"
"Jareth, jetzt wirst du albern. Ich habe dir doch schon gesagt, daß ich dir nicht böse bin. Ich habe mich sogar sehr gefreut. Wenn du vielleicht befürchtest, daß du mich erschreckt haben könntest, sogar da kann ich dich beruhigen. Wie könnte ich mich vor einem Freund fürchten." Sie ging einige Schritte weiter, doch als er ihr nicht folgte blieb sie stehen und drehte sich wieder nach ihm um. Seine Haltung war nicht zu deuten und sein Gesichtsausdruck jagte ihr doch so etwas wie Angst ein.
"Freunde." Seine Stimme klang seltsam tonlos.
Sarah ging auf ihn zu.
"Wir- wir sind doch Freunde, oder?" Ihre Stimme zitterte. Unsicher blieb sie vor ihm stehen und sah im in die Augen. Doch er sah sie gar nicht. Er blickte in eine Welt zu der sie keinen Zugang hatte. Nervös redete sie weiter: "Wir sind doch keine Feinde mehr. Jareth! Da ist doch nichts mehr, was uns trennt. Ich dachte, du hättest mir deine Freundschaft angeboten." Ihre Augen füllten sich bereits mit Tränen.
Endlich senkte er seinen Blick und sah sie an. Seine Augen blickten tief in ihre Seele und in ihr Herz hinab.
"Sarah.....wenn ich nur den Hauch einer Chance für uns sehen würde.....dann......dann hätte ich dir meine ganze Liebe angeboten. Liebe......Sarah. Nicht Freundschaft."
Ihre Lippen hatten sich leicht geöffnet und formten nun ein stummes Oh. Ihre Augen schwammen in Tränen.
Jareth wußte kaum noch, was er tat und so sprach er weiter.
"Sarah, ich liebe dich. Ich liebte dich vom ersten Augenblick an. Ich war nur zu dumm um es zu begreifen. Sarah, ich liebe dich von ganzem Herzen...." Er stockte, als er sah, daß sie weinte. Die Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln über die Wange hinab und jede Träne glitzerte im Mondlicht wie ein Diamant.
"Wenn du wüßtest, wie lange ich darauf gewartet habe diese Worte von dir zu hören.... Oh, Jareth, ich gehöre zu dir. Ich liebe dich schon so lange. Schon ewig", schluchzte sie.
"Mein Liebling." Er schloß sie stürmisch in seine Arme. Warum nur konnte dieser Moment nicht ewig dauern!
"Jareth, du machst mich so glücklich." Sie hatte aufgehört zu weinen und schmiegte sich nun noch etwas enger an ihn. Als seine Lippen einen Kuß auf ihre Locken hauchten, schloß sie beseligt die Augen und hob ihm ihr Gesicht ein kleines bißchen entgegen. Doch anstatt sie zu küssen, lockerte er seine Umarmung und nahm sie bei der Hand.
"Ich habe da hinten eine Parkbank gesehen. Es wäre besser, wenn wir uns einen Augenblick setzten. Wir haben einiges zu besprechen." Er versuchte, diesen Worten einen festen Klang zu geben, doch sogar ihm selbst fiel auf, daß seine Stimme vor Erregung heiser war.
Enttäuscht ließ sich Sarah von ihm zu der Bank führen, wo sie nebeneinander Platz nahmen. Jareth hielt ihre Hände immer noch fest, geradeso als wollte er verhindern, daß sie ihm um den Hals fiel. Genau das war auch seine Absicht. Er räusperte sich.
"Was ich gesagt habe, hätte ich nie sagen dürfen - widersprich mir bitte nicht - du weißt genausogut wie ich, daß wir unsere Liebe zueinander nie hätten erwähnen dürfen. Ich habe es bereits vorhin gesagt: wir haben keine gemeinsame Zukunft vor uns. Was ich getan und gesagt habe ist unverzeihlich. Ich habe die Beherrschung verloren und dafür gibt es keine Entschuldigung." Er unterbrach sich und lächelte melancholisch, während sich in ihren Gesichtszügen die Enttäuschung immer deutlicher ablesen ließ. Er schüttelte den Kopf. "keine Entschuldigung, außer, daß meine Liebe die Grenzen des Erträglichen weit überschritten hat. Kannst du mir noch einmal verzeihen?"
Seine Demut ihr gegenüber war fast zuviel für sie. Traurig senkte sie den Blick auf ihre ineinanderverschlungenen Hände.
"Wie sollte ich dir nicht verzeihen? Ich liebe dich doch. Und wenn es ein Verbrechen sein sollte, dies zu sagen, dann habe ich mich des gleichen Verbrechens schuldig gemacht. Das Schlimmste daran ist, ich weiß daß du recht hast. Mit allem was du gerade gesagt hast. Wir haben keine Zukunft. Ich fürchte wir haben uns etwas vorgemacht. Wir dachten, es könnte ewig so weitergehen. Aber es klappt nicht.
Wir wollen einander zu sehr, als daß wir aufeinander verzichten könnten." Zaghaft sah sie zu ihm auf. "Oder gibt es doch eine Möglichkeit für uns?"
Er schüttelte verneinend den Kopf.
"Das ist nicht fair." Um ihre Lippen spielte ein wehmütiges Lächeln. "Kannst du mich nicht mit zu dir nehmen?"
"Das könnte ich schon - nur - es wäre nicht richtig.... und wenn du ehrlich bist , ist es auch nicht das was du wirklich willst."
"Ich will dich!"
"Es ist nicht sehr vernünftig, was ich dir gleich vorschlagen werde, aber es ist die einzige Möglichkeit unserem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen."
Blitzartig kehrte die Hoffnung in ihre Augen zurück. "Sag es mir!"
"Wir könnten uns eine Nacht im Jahr sehen. An Halloween. Es ist alles, was wir dem Schicksal abtrotzen können. Eine Nacht für unsere Liebe. Nicht mehr und nicht weniger." Seine Stimme hatte kühl geklungen. Er wollte sie nicht überreden. Diese Sache mußte sie selbst entscheiden. Er war sowieso nicht mehr zurechnungsfähig.
Wäre er nur heut nacht nicht auf die Erde gekommen, wäre er nur nicht - ach - wäre doch ewig Halloween.....
Bestürzt sah sie ihn an. "Eine Nacht im Jahr?" Er nickte. Dann versank sie in Schweigen. Sie versuchte krampfhaft zu überlegen. Gab es eine vernünftige Lösung für dieses Dilemma? Doch so sehr sie auch versuchte sich zu konzentrieren, ihre Gedanken wirbelten aufs anmutigste durcheinander und nach einer Weile gab sie es auf, diese Frage mit ihrer Vernunft zu beantworten. Sie folgte ihrem Herzen.
"Jareth, ich weiß, daß es unvernünftig ist - aber ich will es so sehr!" In ihrem Herzen brannte die Flamme der Leidenschaft, deren Widerschein in ihren Augen aufloderte.
Jareths Erregung wurde durch diese Glut in ihren Augen neu angefacht und er schloß sie erneut in seine Arme.
"Es ist sogar ganz entsetzlich unvernünftig - aber ich will es auch - mehr als alles auf der Welt."
Ihre Lippen bebten und ihr Gesicht hob sich ihm ein zweites Mal erwartungsvoll entgegen. Dieses Mal konnte er ihr nicht mehr widerstehen. Sein Mund näherte sich ihren Lippen. Er wollte diesen herrlichen Augenblick voll auskosten und so hauchte er erst einen Kuß auf ihre Wange und auf ihren Mundwinkel. Ihr Körper bog sich ihm entgegen und erst jetzt verschloß er ihre anbetungswürdigen Lippen mit einem Kuß.
Sie küßten sich zärtlich, ohne Hast und Erregung. Lange genossen sie dieses Gefühl der Erlösung, das sie beide befiel, als ihre jahrelangen Träume endlich Wirklichkeit geworden waren. Endlos lagen sie einander in den Armen, tranken ihre Küsse und vergaßen ihr trauriges Schicksal für die Dauer dieses Kusses. Sie teilten sich ihre Ängste und Sehnsüchte durch ihre Liebkosungen mit, ihre Wünsche und ihre Wut. Doch Sarah erfuhr noch etwas anderes. Dies waren eindeutig die ersten Küsse, die Jareth je in seinem Leben gegeben und empfangen hatte. Dieses Wissen verursachte in ihr ein zusätzliches Prickeln, doch sie beschloß noch im gleichen Moment, dieses Wissen wie einen kostbaren Schatz im tiefsten Versteck ihres Herzens aufzubewahren. Allmählich wurden seine Küsse fordernder und sie gab ihm nur allzu bereitwillig nach. Er bedeckte ihren Nacken mit feurigen Liebkosungen, bis sie vor Wonne seufzte. Ihre schlanken Hände streichelten seinen Nacken hinauf, was bei ihm nie gekannte Empfindungen auslöste. Ihre Fingernägel zogen leichte Spuren auf seiner Hemdbrust und ein heißer Schauer lief ihm den Rücken hinab.
Wie lange sie diese Zärtlichkeiten genossen, wußten beide nicht mehr zu sagen.
Viel später saßen sie immer noch auf der Parkbank. Jareth hatte seinen Kopf auf ihren Schoß gelegt und ließ es willig geschehen, daß sie mit einem Finger seine Gesichtszüge nachzeichnete. Besonders gefiel es ihm, wenn sie mit ihrem Fingernagel seinen Mund entlangfuhr. Versonnen sahen sie einander in die Augen.
Doch Jareth sah noch etwas anderes. Er sah den Morgen heraufdämmern. Er mußte gehen, bevor die Sonne aufging. Wer wußte, welche Schäden sein Fortbleiben in dieser Nacht in seinem Reich bereits verursacht hatte. Er durfte auf keine Fall nach Sonnenaufgang noch auf der Erde sein. Das Magische Gleichgewicht seines Reiches war selbst nach dieser langen Zeit nach Sarahs Besuch immer noch nicht so stabil wie er es sich gewünscht hätte. So schwer es ihm auch fiel, er fing ihre Hand auf ihrem Spaziergang ein und setzte sich auf.
"Ich muß gehen, meine kleine Elfe."
"Ja, das dachte ich mir - vor Sonnenaufgang?"
"Ja. Ich bringe dich noch zu deiner Wohnung. Ich könnte deinen Balkon benutzen, um mich zu verwandeln."
"Wieso? Ist es dann einfacher?"
"Nein", lachte er, "Ich habe nur einen leichteren Start."
Zu ihrer Wohnung war es glücklicherweise nicht mehr weit. Sie schritten zügig aus und erreichten das Haus noch rechtzeitig. Der Abschied auf ihrem Balkon fiel gezwungenermaßen etwas flüchtig aus, denn Jareth mußte sich nun doch beeilen. Er küßte sie noch einmal und schwang sich auf die Balkonbrüstung. Im selben Augenblick war er verschwunden und an seiner Stelle saß eine weiße Eule, die erst nach Osten blickte, und dann den Kopf zu Sarah drehte. Die Eule blinzelte einmal, spreizte ihre Flügel und flog gleich darauf der aufgehenden Sonne zu, bis sie vollständig verschwunden war. Sarah starrte noch lange in die rote Morgensonne, erst als sie nichts mehr erkennen konnte ging sie endlich zu Bett. Gottseidank war der Tag nach Halloween bei ihrer Firma arbeitsfrei.
Kapitel 15
In seinem Schlafzimmer angelangt verwandelte sich Jareth wieder in seine menschliche Gestalt zurück. Er hatte erst einen Rundflug über sein Reich unternommen um die Schäden abzuschätzen, die durch seine Abwesenheit entstanden waren. Zu seiner großen Erleichterung war es nicht zu größeren Vorfällen gekommen. Seine bloße Anwesenheit hatte bereits genügt um alles wieder in Ordnung zu bringen. Nach dieser Inspektion hatte er unbesorgt ins Schloß fliegen können. Jetzt war sein Kopf wieder frei für andere Gedanken, Träume und - Sorgen.
Wollte er in diesem Moment überhaupt an sie denken? Vielleicht sollte er besser zu Bett gehen um noch etwas zu schlafen, denn wer wußte schon, wann sie ihn wieder rief? Doch wenn er ehrlich war, wollte er eigentlich nicht zu Bett gehen, dort würde er ja doch nur ihr Portrait anstarren, bis schließlich vor lauter Sehnsucht nach ihr an Schlaf gar nicht mehr zu denken war. Ärgerlich runzelte er die Stirn und sah an die Wand hinüber, an der ihr Bild hing. Sofort wurde sein Gesichtsausdruck wieder weich und er dachte versonnen darüber nach, daß er in dieser Nacht zumindest einen Teil seiner Jungfräulichkeit verloren hatte. Er war sich fast sicher, daß es für sie nicht der erste Kuß in ihrem Leben gewesen war und sie deshalb sicher gemerkt hatte, wie es um ihn stand... doch darüber machte er sich wirklich keine Sorgen. Es war so aufregend gewesen. Seine Hormone schlugen noch immer Salto wenn er sich ihre Berührungen ins Gedächtnis zurückrief. Auf diese Art war er eben doch nur ein ganz normaler Mann, was ihn nicht weiter verwunderte. Er wußte ja, daß er menschlicher Abstammung war. Da war es nur selbstverständlich, daß er in dieser Hinsicht die gleichen Bedürfnisse verspürte, wie irgendein anderer verliebter Mann auf der Erde.
Wenn er nur wüßte, ob sich ihm je die Gelegenheit bieten würde, diese Bedürfnisse auch zu befriedigen... Mit aller Gewalt riß er sich von diesen Gedankengängen los. Sie führten ja doch zu nichts, außer zu Erregung und Verwirrung. Es war sicher besser, wenn er sich ein wenig ablenkte. Am besten mit Arbeit!
Vorsichtig zog er seine Ballkleidung aus und hängte sie sorgfältig in seinen Kleiderschrank. Dann wählte er braune Hosen, ein weißes Hemd und eine braune Lederjacke als Kleidung für den heutigen Tag aus und begab sich schließlich in sein Arbeitszimmer um sich abzulenken. Doch sein Schreibtisch war leer. Er hatte sich seit Sarah in Phoenix lebte, angewöhnt, abends noch zwei, drei Stunden an seinem Schreibtisch zu arbeiten, damit ihm die Zeit nicht lang wurde, bis sie ihn zu seinem Zauberspiegel rief. In diesen Wochen hatte er also nicht nur die laufenden Geschäfte erledigt sondern auch alle anderen Dinge erledigt, die teilweise schon seit Jahren darauf warteten. Der Anblick seines leeren Schreibtisches verblüffte ihn so, daß er in lautes Gelächter ausbrach. Ein leerer Schreibtisch! Das war während seiner ganzen Zeit als König nicht vorgekommen. Sarah hatte ihn sehr verändert. Sie tat ihm verdammt gut. Vielleicht würde aus ihm ja nicht nur ein mächtiger und gefürchteter König sonder auch noch ein guter Herrscher. Tandor hätte das auf jeden Fall sehr gefallen. Er hing den Erinnerungen an Tandor noch ein bißchen nach, bevor er überlegte, womit er sich dann ablenken könnte, wenn schon nicht mit Papierkram.
Da hatte er eine Idee. Schnell holte er noch ein schwarzes, bodenlanges Cape und einen kurzen Stab mit einem Knauf aus Halbedelsteinen, der ihm ein ungemein würdiges Auftreten verschaffte. Er hatte beschlossen, die Stadttorwache zu inspizieren. Er verließ seine Gemächer und rief auf dem Weg in den Thronsaal seine Eskorte zu sich.
"Wache!! Ich brauche eine Eskorte!! Aber ein bißchen plötzlich!" Eilig rannten aus allen Ecken Kobolde hinter ihrem König her in den Thronsaal und stellten sich in einer Reihe auf. Jareth wählte fünf von ihnen aus und bedeutete ihnen mit einem Wink, ihm zu folgen. "Ich werde heute die Stadttorwache inspizieren", teilte er ihnen beim Verlassen des Schlosses mit.
Sie legten den Weg bis zum Stadttor ohne Zwischenfälle zurück. Die Kobolde, die Jareths Eskorte bildeten, rempelten sich nicht an, stritten nicht miteinander und forderten auch keine anderen Kobolde, denen sie begegneten zu irgendwelchen Dummheiten heraus. Kurz, sie benahmen sich in allem so, wie sich eine Eskorte zu benehmen hatte. Jareth war wirklich verblüfft. Er befürchtete allerdings gleichzeitig, daß dieser mustergültige Zustand nicht von Dauer sein konnte, deshalb erwartete er bereits für die nahe Zukunft einiges an Katastrophen. In der Nähe des Tores angekommen, wandten sie sich nach links, wo sich die Gebäude der Wache und das Wohnhaus ihres Hauptmanns befanden. Der neue Hauptmann der Stadttorwache war einer der Gründe warum Jareth bei seiner Inspektion bewußt als König auftrat. Der kleine Sir Dydimus hatte nun mal sehr strenge Vorstellungen von Rittern und Königen. Es war besser, ihn nicht zu enttäuschen. Niemand konnte voraussagen, ob seine Loyalität dadurch nicht ins Schwanken geraten konnte und einen schwankenden Hauptmann konnte sich Jareth nun wirklich nicht leisten. Auf dem Hof der Wache war niemand zu sehen und so bedeutet Jareth einem seiner Kobolde ihn anzumelden. Es war erstaunlich, dem kleinen Kerl dabei zuzusehen, denn ihm unterlief kein einziger Fehler. Nach Erhalt der Anweisung verbeugte er sich vor seinem König, drehte sich um und ging - ohne zu stolpern - zum Haus des Hauptmanns. Dort klopfte er an die Tür, ohne sie zu beschädigen und meldete Sir Dydimus sobald dieser die Tür öffnete die Anwesenheit seiner Majestät ohne zu stottern. Jareth überlegte sich ernsthaft, ob der kleine Kobold dafür eine Belohnung verdient hätte, er entschied sich schließlich dagegen. Die korrekte Ausführung eines Befehls sollte eine Selbstverständlichkeit sein und keine herausragende Leistung.
Geduldig wartete er das Ende der weitschweifenden Begrüßung durch Sir Dydimus ab.
"Eure Majestät! Welch angenehme Überraschung!" Sir Dydimus zog seinen Hut um sich anmutig vor seinem König zu verneigen. "Ich kann Euch gar nicht genug versichern wie geehrt ich mich durch Euren Besuch fühle. Womit kann ich Euch dienen, mein König? Mein Schwert steht zu Eurer Verfügung."
"Erhebt Euch, Sir Dydimus. Ihr könnt mir wahrhaftig dienlich sein. Ich hege das Vorhaben, Eure Einheit zu inspizieren. Mir kam heute der Gedanke, es wäre an der Zeit dafür." Jareth paßte sich der gestelzten Ausdrucksweise seines Hauptmannes vor allem deshalb an, um seine Gefühle nicht zu verletzten, andererseits hatte eine gewisse Etikette und die Einhaltung eines militärischen Protokolls noch niemandem geschadet.
"Eine wahrhaft kluge Entscheidung, Majestät", versicherte Sir Dydimus unter weiteren Verbeugungen. "Tatsächlich habe ich Euren Besuch bereits täglich erwartet. Ich hoffe, was Ihr hier vorfindet, wird Euren hohen Erwartungen entsprechen."
Jareth unterdrückte ein sehr unkönigliches Grinsen. Hohe Erwartungen! Wohl kaum. Schließlich kannte er seine Kobolde. Die Frage bei dieser Inspektion war lediglich wie unfähig sie tatsächlich waren.
"Wenn Ihr mir bitte folgen wollt, Majestät, dann lasse ich einen Teil der Wachen auf dem Hof etwas exerzieren." Mit einer besonders anmutigen Verbeugung wies Sir Dydimus seinem König den Weg zum Exerzierplatz, oder den Hinterhof, der in Ermangelung eines anderen Geländes eben als Exerzierplatz herhalten mußte. Sir Dydimus war mit diesem Zustand alles andere als zufrieden und war daher wild entschlossen, den Besuch des Königs zu nutzen, um einige der Dinge zur Sprache zu bringen, die seinen Erwartungen nicht gerecht wurden und ihn störten.
Ein Wink des Hauptmanns genügte, um Jareth eine Sitzgelegenheit an der Schmalseite des Platzes zu verschaffen. Der König registrierte dies mit Genugtuung.
Der kleine Hauptmann hatte seine Wache offenbar besser im Griff als alle seine Vorgänger. Die exerzierenden Wachen vollbrachten zwar keine Wunder, aber Jareth war mehr als zufrieden. Das hatte er wirklich nicht erwartet. Es drängte ihn einige Worte mit seinem Hauptmann alleine zu wechseln und er wußte auch schon, wie er das bewerkstelligen konnte.
Er neigte sich ihm vertraulich zu und dämpfte seine Stimme. "Ich würde mir gerne ein Bild über den Zustand unserer Befestigungsanlagen machen. Würdet Ihr mich wohl auf die Stadtmauer begleiten, Hauptmann?"
Sir Dydimus schwoll die Brust fast vor Stolz. "Es ist mir eine Ehre, Euer Majestät."
"Schickt meine Eskorte bitte weg, Hauptmann, ich komme jetzt allein zurecht." Mit diesen Worten erhob er sich von seiner Sitzgelegenheit und wandte sich zielstrebig und - wie er selbst fand - sehr hoheitsvoll dem Stadttor zu. Sir Dydimus tat sein möglichstes um mit seinem König Schritt zu halten und gleichzeitig die entsprechenden Befehle zu erteilen. Als Jareth am Stadttor angelangt war, befand sich der Hauptmann tatsächlich dicht auf seinen Fersen. Nacheinander bestiegen sie die schmalen Treppen, die an der Rückseite des Stadttores auf die Stadtmauer hinaufführten. Dort ging Jareth schweigend voraus, wobei er nachdenklich die Hände auf den Rücken gelegt hatte und beim Gehen mit seinem Stock gegen seine Waden klopfte. Schließlich räusperte sich Sir Dydimus.
"Euer Majestät, das heutige Schauspiel auf dem Exerzierplatz war schlichtweg unwürdig. Ich kann nichts anderes tun, als Euer Majestät dafür um Verzeihung zu bitten und meine Demission anzunehmen."
Abrupt wirbelte Jareth herum.
"Eure Demission? Ihr scherzt! Ich dachte eher daran Euch zu belohnen. Die Soldaten parieren unter Eurer Führung besser denn je. Eine Beförderung wäre angebracht. Eure Demission ist abgelehnt", erklärte er kategorisch.
Sir Dydimus seufzte ergeben. "Wenn es Euer Wunsch ist einen Unwürdigen zu belohnen..."
"Ja, ja, schon gut", unterbrach ihn Jareth ungeduldig. "Wurde Gigantus eigentlich
jemals repariert?"
"Nein. Euer Majestät haben nie den Befehl dazu gegeben."
"Stimmt - was meint Ihr dazu? Sollte er wieder in Betrieb genommen werden?"
Sir Dydimus hätte sich zu gern vor dieser Antwort gedrückt doch dies ließ wiederum sein ritterlicher Ehrenkodex nicht zu. Er wurde zwar etwas blasser um die Nase herum, doch er antwortete seinem König nach einigem Zaudern mit fester Stimme.
"Ich glaube nicht, daß Gigantus eine lohnende Investition war. Ich war selbst dabei, als er bezwungen wurde. Eine Verstärkung der Wache ist durchaus sinnvoller, als diese Maschine."
"Richtig, Sir Dydimus. Ich hatte fast vergessen, daß ihr bei der großen Schlacht mitgekämpft habt. Wollen wir uns nicht einen Moment setzen?"
Jareth nahm kurzerhand auf der Krone der Stadtmauer Platz und ließ die Beine an der Außenseite herunterhängen. Als ganz junger Prinz war er oft so dagesessen.... wie lange das schon her war.... "Die Stadtmauern scheinen allerdings in einem guten Zustand zu sein", nahm er das Gespräch wieder auf, als sich auch Sir Dydimus neben ihm plaziert hatte. "Ich werde darüber hinaus immer ein offenes Ohr für Eure Vorschläge haben. Das solltet Ihr wissen, Sir Dydimus."
So sehr Sir Dydimus auf ein solches Lob gehofft hatte, so sehr war es ihm nun unangenehm.
"Ich fürchte, ich habe das Wohlwollen Eurer Majestät nicht verdient. Wie Ihr ganz richtig bemerktet, habe ich in der Schlacht mitgekämpft - aber nicht an der Seite Eurer Majestät."
Jareth machte eine wegwerfende Handbewegung. "Das weiß ich doch alles, Sir Dydimus. Ich weiß, daß Ihr für die Farben einer Lady gekämpft habt und ich muß leider zugegeben, daß ich Euch mittlerweile verstehen kann." Er unterbrach sich kurz um sich Sarahs Bild ins Gedächtnis zurückzurufen und fuhr dann fort: "Nichtsdestoweniger habt Ihr tapfer gekämpft. Für diese Tapferkeit seid Ihr mit Eurer derzeitigen Position belohnt worden."
Sir Dydimus hatte den letzten Teil von Jareths Rede nicht mehr richtig mitbekommen, so sehr hatte ihn eine seiner Bemerkungen beschäftigt. Ritterliche Tugend hin oder her, er mußte mit der Frage heraus, die ihm auf der Zunge lag, sonst würde er platzen, das war so sicher wie der heilige Gral eben ein heiliger Gral war.
"Ihr versteht mich?"
Diese Frage traf Jareth nun völlig unvorbereitet. Er sah seinen Hauptmann überrascht an. War er seinem Hauptmann darauf eine Antwort schuldig? Nie im Leben! ... aber... sollte er einem Freund von Sarah nicht besser reinen Wein einschenken? Er holte tief Luft.
"Ja, ich verstehe Euch. Ich liebe Lady Sarah so sehr, daß ich für sie töten würde", sagte er schlicht.
"Und - und die Lady selbst?" fragte Sir Dydimus schüchtern weiter.
"Die Lady tat mir letzte Nacht die Ehre an, meine Liebe zu erwidern."
"Dann möchte ich doch lieber auf meiner Demission bestehen", stieß Sir Dydimus trotzig hervor.
Das hatte Jareth nun doch nicht erwartet. Ein eifersüchtiger Soldat war nicht gerade das, was er im Moment brauchen konnte. Verflixt! Er hatte sich nie die Mühe gemacht herauszufinden, wie die Gefühle seines Hauptmannes für Sarah tatsächlich waren. Er hatte eigentlich geglaubt sie wären wie bei Hoggle rein freundschaftlicher Natur.
"Sir Dydimus, ich kann zu diesem Zeitpunkt nicht auf Euch verzichten. Ich brauche jemanden auf den ich mich verlassen kann. Ihr seid der einzige, dem ich in allen militärischen Belangen volles Vertrauen schenke. Wollt Ihr mein Vertrauen enttäuschen? Oder wollt Ihr mich zum Duell fordern um Eure Ehre wiederherzustellen?" setzte er mit einem halben Lächeln hinzu. Es war fast lächerlich mit anzusehen, welch schlimmer Kampf in Sir Dydimus tobte. Einerseits wollte er auch in Zukunft voll Loyalität zu seinem König stehen. Bis auf das eine Mal, als er Lady Sarah geholfen hatte, war er auch immer treu gewesen, wie es einem Ritter geziemte, doch nun war er in einer Zwickmühle. Er hatte geglaubt, sich damit abgefunden zu haben, daß sein König der Lady seines Herzens den Hof machte - obwohl er Hoggle nie so ganz geglaubt hatte - nur um jetzt festzustellen, daß es wirklich demütigend war, im Minnekampf um ihr Herz geschlagen worden zu sein. Doch war es ritterlich diese Demütigung offen zu zeigen? Nein, sicher nicht. Und letzten Endes war selbst eine so außergewöhnliche Lady wie Sarah nur eine Frau.
Und wer hatte je gehört, daß ein Ritter sich ernsthaft um eine Frau bewarb! Ein Ritter mußte Heldentaten vollbringen! Dabei konnte er sich nicht mit einer Frau belasten. Wenn er es sich richtig überlegte war er gerade noch mal davon gekommen. Fast wäre er seinem König sogar dankbar gewesen, daß er das Herz der Lady errungen hatte.
"Nein, Majestät. Von einem Duell sollte in diesem Fall Abstand genommen werden. Ihr werdet nie wieder in die Verlegenheit kommen, an meiner Loyalität der Krone gegenüber zu zweifeln. Verzeiht meine Kühnheit, aber ich hoffe, Ihr findet Euer Glück."
"Das hoffe ich auch. Ich danke Euch Sir Dydimus. Als ich vorhin erwähnte, daß die sich die Soldaten unter Euch besser führen als jemals zuvor, war es keine leere Schmeichelei. Ich halte wirklich sehr viel von Eurem Können."
"Danke, Majestät, aber ich glaube nicht, daß dies lediglich auf meine Ernennung zum Hauptmann zurückzuführen ist. Diese Veränderung bei den Soldaten habe ich erst vor kurzem bemerkt, dabei bin ich doch schon einige Jahre in dieser Position. Ich weiß nicht wieso, aber der Grund dafür muß woanders zu finden sein."
Jareth runzelte nachdenklich die Stirn.
"Wenn ich es recht bedenke klappt auch im Schloß seit einiger Zeit alles ein bißchen besser.....", während er noch nachdachte, ließ er seine Augen über sein Reich schweifen, bis sein Blick von etwas gefesselt wurde, das äußerst merkwürdig war. "Wo kommen denn diese blühenden Bäume in meinem Labyrinth her?" Jareth war völlig fassungslos. "Hier hat doch noch nie etwas geblüht! Ihr seht es doch auch, Sir Dydimus?"
"Ja, Majestät. Ich sehe es auch. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich diese Bäume gestern schon bemerkt hätte. Es wäre mir bestimmt aufgefallen."
"Aber - was geschieht hier?"
"Seht Ihr nun was ich vorhin gemeint habe? Es gibt hier einige kleine Veränderungen, nichts gravierendes, aber eben doch Veränderungen. Die Soldaten parieren, die Bäume blühen,...."
"Alles verändert sich immerzu....", sagte Jareth halb zu sich selbst. Laut ergänzte er: "Irgend jemand muß aber dafür verantwortlich sein. Nur - wer?" Fragend sah er Sir Dydimus an.
"Vielleicht solltet Ihr den alten weisen Mann aufsuchen, der im geometrischen Labyrinth lebt." Schlug Sir Dydimus vor.
"Glaubt Ihr wirklich, er ist weise? Ist er nicht eher ein bißchen verrückt?" zweifelte Jareth.
"Ihr habt keine andere Wahl, Majestät. Außerdem weiß ich von Hoggle, daß der Rat des weisen Mannes Lady Sarah damals sehr geholfen hat. Einen Versuch dürfte es Wert sein."
"Vielleicht habt Ihr recht - Ich danke Euch, Sir Dydimus. Eure Ratschläge werden mir immer willkommen sein. Ich werde den weisen Mann unverzüglich aufsuchen." Jareth drängte es, die Stadtmauer zu verlassen. Die blühenden Bäume hatten ihn stärker verunsichert, als er zugeben wollte. Seit er König war, war in diesem Labyrinth nichts ohne sein Zutun geschehen. Und nun das! Irgendwas lief gar nicht gut. Am Fußende der Treppe angekommen verabschiedete er sich eilig von seinem Hauptmann und schlug sofort den Weg zum geometrischen Teil seines Labyrinths ein. Er hoffte nur, daß er den alten Mann bald finden würde. Da er darauf verzichtet hatte, seine Eskorte wieder zu sich zu befehlen, war es notwendig, daß er sich vor Einbruch der Dämmerung wieder innerhalb der Stadtmauern aufhielt. Aber auf die Rückkehr seiner Eskorte hatte er einfach nicht warten können. Er brauchte unbedingt eine Antwort auf seine drängenden Fragen.
Kapitel 16
Als Sarah erwachte, war es bereits später Nachmittag und die Sonne nahm schon die rötliche Färbung der nahenden Dämmerung an. Wohlig streckte sich Sarah und kuschelte sich noch eine Weile in ihre Kissen. Wenn sie an die letzte Nacht zurückdachte, glaubte sie fast, noch den Druck seiner Lippen zu spüren. Sie hatte sich noch nie in ihrem Leben so gut gefühlt. Alles erschien ihr plötzlich leicht und beschwingt. Daran, wie ihre komplizierte Beziehung weitergehen sollte, wollte sie nicht denken. Tief in ihrem Innersten wußte sie, daß es eines Tages nicht mehr weitergehen würde. Ihre Liebe war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wenn Ihre gemeinsame Zeit erst abgelaufen war..... Sie fröstelte. Ewig konnten sie dem Schicksal kein Schnippchen schlagen. Doch solange es dauerte war es wundervoll. Ihr war als könnte sie fliegen, so frei fühlte sie sich. Sie mußte Jareth heute abend unbedingt fragen, was es für ein Gefühl ist, sich als Eule in die Lüfte zu schwingen.
Sie wünschte, sie könnte es ihm gleichtun. Sie seufzte wehmütig und stand dann endgültig auf. Heute wollte sie alle Hausarbeit erledigen, die in den letzten Tagen liegengeblieben war.
Am späten Abend war sie endlich mit allem fertig geworden. Nachdem sie die halbe letzte Nacht auf den Beinen gewesen war und nun noch einige Zeit am Bügelbrett gestanden hatte, taten ihr die Beine weh. Also holte sie eine kleine Plastikwanne vor ihr Sofa, stellte das Telefon in Reichweite und machte es sich mit einem Fußbad und einem längst fälligen Anruf bei ihren Eltern gemütlich.
"Williams?"
"Hi, Mam! Ich bin's, Sarah."
"Kindchen, das ist aber schön, daß du dich mal wieder meldest."
"Ist es wirklich schon wieder so lange her?" fragte Sarah schuldbewußt.
"Fast drei Wochen!" entrüstete sich ihre Mutter. "Wie geht es dir? Du klingst so blaß. Gehst du auch oft an die frische Luft?"
"Mam! Du bist wirklich unglaublich. Ich klinge blaß? Wo hast du denn das her?" Sarah kicherte vergnügt. Mit ihrer Mutter konnte man wunderbar telefonieren.
"Lenk nicht ab. Du ißt bestimmt auch nicht genug." fuhr ihre Mutter unbeirrt fort.
"Seit ich nicht mehr Zuhause wohne hast du dich zu einer richtigen Glucke entwickelt. Kannst du dich bei Toby in dieser Beziehung nicht mehr genug austoben?"
"Ach, du weißt ja wie er ist. Richtig bemuttern kann man die kleinen Jungs in diesem Alter einfach nicht mehr. Warst du gestern auf irgendeiner Halloween-Party?"
"Ja, die Firma hat mich zu einer geschickt. Als Repräsentantin sozusagen." Sie schnitt eine Grimasse, die ihre Mutter allerdings nicht sehen konnte, doch der Unterton in ihrer Stimme war unverkennbar gewesen.
"Ich nehme an, du hast dich nicht besonders amüsiert, oder?"
"Ach, es ging", erwiderte Sarah betont gelangweilt. "Erst war es recht fad, aber gegen später wurde es dann noch ganz lustig. Hat Toby bei seinem Raubzug gestern viele Süßigkeiten erbeutet?"
"Viele? Du machst Witze. Säckeweise haben wir ihm die Bonbons hinterhergeschleppt. Er sah aber auch zu süß aus in seinem Kostüm", erklärte sie voll Mutterstolz.
"Als was hat er sich denn verkleidet?" Sarah war voll böser Vorahnung.
"Ich habe ihm aus ein paar alten Bettlaken ein ganz reizendes Schloßgespenst genäht. Mit Ketten und allem was so dazugehört."
Sarahs Erleichterung war fast schon lächerlich. Ein paar Sekunden lang hatte sie ernsthaft befürchtet, ihr Halbbruder habe sich an Halloween als Kobold verkleidet.
"Als Schloßgespenst also. Du mußt mir unbedingt ein paar Fotos schicken."
"Kommst du eigentlich an Weihnachten zu Besuch?"
"Ach Mam! Ich hab dir das doch schon tausendmal erklärt. Ich bin noch in der Probezeit. Deshalb darf ich noch keinen Urlaub planen. An den Feiertagen wird natürlich nicht gearbeitet, aber du glaubst nicht ernsthaft, daß ich mich wegen zwei Tagen ins Auto setze und die ganze Strecke zu euch fahre nur für eine gefüllte Weihnachtsgans. Das kannst du nicht von mir verlangen", protestierte Sarah.
"Nein, natürlich nicht, das wäre ja auch Blödsinn. Ich und dein Vater hätten dich eben gerne wieder eine Zeitlang bei uns gehabt. Wenn du was genaues weißt rufst du einfach wieder an."
"Klar Mam, geht in Ordnung."
"Und geh öfter an die frische Luft. Versprich es mir."
"Ich werd's versuchen. Aber versprechen kann ich es dir nicht."
"Na schön."
"Nicht traurig sein Mam. Ich ruf bald wieder an. Grüß Dad und Toby von mir."
"Ja, das mach ich. Paß auch dich auf, Sarah. Bye-bye mein Kindchen."
"Bye Mam."
Zur gleichen Zeit machte sich Jareth im geometrischen Labyrinth auf die Suche nach dem weisen Mann.
Er war schon einige Stunden erfolglos unterwegs und mußte sich mittlerweile sehr konzentrieren, damit er sich in seinem eigenen Labyrinth nicht verirrte. Es waren nur noch sehr wenige Gänge übrig. In einem von diesen mußte sich der alte Mann aufhalten. Jareth fand ihn schließlich im letzen Gang, der in einen kleinen Garten mündete. Dort saß er auf einer marmornen Bank und döste offensichtlich vor sich hin. Nur sein Vogelhut blickte mit durchdringenden Knopfaugen nervös in die Gegend.
Jareth blieb im Eingang des Gartens stehen ohne einzutreten. Er kam sich unsagbar lächerlich vor. Wegen ein paar blühender Bäume wollte er sich von einem alten Mann und seinem verrückten Vogelhut einen Rat geben lassen. Er wollte gerade wieder umdrehen und gehen, da war der Vogel seiner ansichtig geworden.
"Hallo-Hallo-Hallo!" krächzte er vergnügt. "Wen haben wir denn da? He, Meister! Aufwachen! Wir haben Kundschaft."
Jareth blieb nun nichts anderes mehr übrig, als auf die beiden zuzugehen. Der alte Mann hatte sich bisher noch nicht gerührt. Unschlüssig betrachtete Jareth ihn. Sollte er dieses ohrenbetäubenden Gekreisch tatsächlich überhört haben?
"Keine Sorge, den krieg` ich schon wach", flüsterte der Hut vertraulich und holte tief Luft, um seinem Weckruf mehr Nachdruck zu verleihen. Jareth machte instinktiv einen Schritt zurück. Doch bevor der Vogel noch Gelegenheit hatte einen sicherlich markerschütternden Schrei auszustoßen, durchlief den alten Mann ein Zittern und er schlug seine Augen auf, die mit einer erschreckenden Klarheit Jareths Gestalt musterten.
"Ah, der junge König. Seid mir gegrüßt."
"Woher willst du denn wissen, daß das der König ist. Du hast doch nicht mal deine Brille auf", nörgelte sein Hut, der sich um seinen Weckruf gebracht sah und deshalb schlechte Laune hatte.
"Willst du wohl still sein!"
"Alte Schlafmütze!" schimpfte der Hut leise vor sich hin.
"Was führt dich zu mir, junger König?" fragte er Jareth nun freundlich.
"Ich brauche einen Rat", antwortete Jareth und kam sich immer dümmer vor. Warum duldete er eigentlich, daß der Alte ihn so respektlos duzte?
Der alte Mann seufzte. "Zu früh folgtest du dem großen Tandor auf den Thron. Ich habe dein Kommen schon lange erwartet."
"Es - es ist wegen der Bäume", stammelte Jareth, "Sie blühen." Ich klinge wie der letzte Idiot, dachte er bei sich.
Der alte Mann nickte weise.
"Na und!" plapperte sein Hut dazwischen. "Sogar hier wächst dieses bunte Zeug." Mit seinem Schnabel deutete er auf eine Ecke des Gartens in dem sich eine Heckenrose die Mauer emporrankte. Die Rosenblüten waren weiß und unschuldig wie frisch gefallener Schnee. Verblüfft starrte Jareth sie an.
"Er redet zwar pausenlos Blödsinn", meldete sich der alte Mann wieder zu Wort, "Aber diesmal hat er recht. Es sind nicht nur die Bäume, im ganzen Labyrinth sind kleine Veränderungen zu bemerken."
"Die Kobolde stellen sich nicht mehr ganz so dumm an, wie für gewöhnlich", erwiderte Jareth halb geistesabwesend. Dann fühlte er die aufmerksamen Blicke des Alten in seinem Rücken und drehte sich wieder um. "Was geht hier vor? Ich habe nichts davon veranlaßt. Warum geschehen plötzlich Dinge ohne meinen Willen?"
"Merkt Euch eines, junger König: Ein guter Bauer kann auch ein schlechtes Land so lange pflegen, bis er darauf seine Saat ausbringen kann. Hat er gute Arbeit geleistet, so ist das Land gut und die Saat gut und auch die Früchte die das Land und die Saat hervorbringen werden gut sein. Alles liegt in der Hand des Bauers. Es liegt nur an ihm, ob er eine Mißernte einbringt oder nicht." Der alte Mann wirkte nach dieser Rede erschöpft, doch so einfach wollte Jareth sich nicht abspeisen lassen.
"Meint Ihr damit, daß doch alles von mir abhängt? Aber ich verstehe die Zusammenhänge nicht?"
"Der große Tandor scheint euch nicht in alle Geheimnisse des Labyrinths eingeweiht zu haben...." nachdenklich schüttelte der alte Mann den Kopf. "Er wird seine Gründe dafür gehabt haben."
"Ihr kennt Geheimnisse über mein Reich, dich ich nicht kenne!" rief Jareth aufgeregt. "Sagt sie mir!" forderte er.
"Das kann ich nicht, junger König. Ich habe kein Recht dazu. Die Zeit oder das Schicksal wird euch lehren, was ihr über euer Reich wissen müßt."
"Vielleicht ist es dann schon zu spät", flüsterte Jareth resigniert, als er merkte, daß der alte Mann unerbittlich war. Er wollte sich schon zum Gehen wenden, da fiel ihm noch etwas ein. "Ihr nanntet Tandor vorhin den Großen... Welcher Beiname wurde mir verliehen?"
"Ihr habt euch noch keinen verdient, junger König." Kaum hatte der alte Mann Jareths Frage beantwortet schloß er auch schon die Augen und war nicht mehr ansprechbar.
"Meine Güte", krächzte der Hut. "Was für Geheimnisse will diese alte Schlafmütze schon kennen. Glauben Sie das etwa? Auf jeden Fall ist Ihr Termin nun beendet. Darf ich Sie bitten eine kleine Unkostenentschädigung zu entrichten?" Er wies mit seinem Schnabel diskret auf die Sammelbüchse die neben dem alten Mann auf der Bank lag. Jareth zauberte aus den Falten seines Capes eine Münze hervor und warf sie hinein.
"Hui, ein Goldstück", flötete der Hut. "Von mir aus können Sie jeden Tag mit einem neuen Problem kommen. Sie sind uns jederzeit willkommen. Auch ohne Voranmeldung." Die letzten Worte mußte der Hut wieder schreien, denn Jareth hatte sich schon entfernt und war auf dem Weg zurück ins Schloß.
"Was hier so alles frei rumläuft...." krächzte der Hut noch mißbilligend zu sich selbst.
Nach dem Telefonat mit ihrer Mutter hielt es Sarah nicht mehr länger aus. Sie mußte Jareth sehen. Sofort!
Sie trocknete sich die Füße ab und ging in ihr Schlafzimmer. Sie überlegte noch kurz, ob sie ihn wohl auch gleich erreichen würde, doch wenn sie es nicht probierte....
Entschlossen nahm sie vor ihrem Spiegel Platz und rief nach ihm.
Sie hatte Glück. Jareth war vor wenigen Minuten zurückgekehrt. Er hatte noch keine Zeit gehabt über alle Geschehnisse des Tages und der vorangegangenen Nacht nachzudenken, so daß ihn Sarahs Ruf etwas unvorbereitet traf. Er sammelte sich kurz, hoffte, daß sie ihm seine Verwirrung nicht anmerken würde und antwortete ihr.
"Jareth, ich mach mir Sorgen um Toby", platzte Sarah heraus.
" Um Toby?"
"Ja, um Toby. Ich habe vorhin mit Mam telefoniert und sie erzählte mir von Tobys Verkleidung und da dachte ich einen Moment, mein Herz müßte stehen bleiben."
"Du willst mir doch nicht erzählen, er hätte sich als Kobold verkleidet?"
"Nein, hat er nicht. Er ging als Schloßgespenst. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, daß ich befürchtete er könnte sich als Kobold verkleidet haben. Ich beobachte ihn seit damals mit Argusaugen. Immer befürchte ich, er könnte sich daran erinnern, daß ich ihn zu den Kobolden gewünscht habe", jammerte Sarah.
"Sht - ganz ruhig", versuchte Jareth sie zu beruhigen. Sie war kurz davor einen hysterischen Anfall zu bekommen. "Du machst dir unnötig Sorgen um Toby. Er wird sich nicht daran erinnern."
"Wie kannst du dir da so sicher sein?"
"Ich habe noch in derselben Nacht dafür gesorgt, daß er alles vergißt."
"Das hast du getan?" Sarahs Stimme vibrierte vor Dankbarkeit.
Jareth nickte.
"Ist das auch wirklich wahr?"
"Habe ich dich jemals belogen, Sarah?" Jareths Ausdruck war sehr ernst geworden.
Sarah sah ihn an und überlegte tatsächlich, ob er sie jemals belogen hatte. Sie ging alle Begegnungen mit ihm noch einmal durch. Schließlich entspannte sich ihr Gesichtsausdruck. "Nein, noch nie. Du hast mich zwar ein paarmal ganz abscheulich ausgetrickst", fügte sie mit einem schelmischen Lächeln noch hinzu, "aber belogen hast du mich noch nie. Danke, daß du das für Toby getan hast."
"Die Sache hat allerdings einen Haken", gab Jareth zu.
"Oh nein, ich wußte es."
"Du darfst ihm nie etwas darüber erzählen. Wenn du das tust wird er sich an alles wieder erinnern. Sogar an die kleinste Kleinigkeit."
"Das heißt, wenn ich ihm gegenüber nur die kleinste Andeutung mache...."
Jareth nickte wieder.
"Wenn jemand anders über Kobolde spricht...."
"Dann ist das egal", ergänzte Jareth. "Nur du darfst nicht darüber sprechen. Denn du warst ja dabei."
"Ich habe mich die letzten 6 Jahre nicht verplappert, dann wird mir das auch in Zukunft nicht passieren", überlegte Sarah.
"Alles wieder gut?" fragte Jareth vorsichtig.
Sarah nickte und druckste noch ein bißchen herum.
"Hast du noch etwas auf dem Herzen, meine kleine Elfe?"
"Du darfst mich aber nicht falsch verstehen."
"Wie kann ich das, wenn ich nicht weiß worum es geht."
"Weißt du, Jareth, natürlich möchte ich dir tausendmal hintereinander sagen, wie sehr ich dich liebe - aber dafür ist mir unsere gemeinsame Zeit zu kostbar - verstehst du mich?"
"Ja, meine kleine Elfe. Ich verstehe dich durchaus. Es ist nicht so, daß ich es nicht gern hören würden - tausendmal hintereinander ich liebe dich - das hätte schon was für sich. Aber du mußt es mir nicht sagen", seine Stimme hatte einen unbeschreiblich weich Klang angenommen, "ich weiß es."
Sarah erschauerte bei seinen Worten vor Wonne. Nie wieder würde sie einen Mann treffen, der sich mit ihm vergleichen ließe. Einige Sekunden sahen sie sich nur in die Augen. Dann streifte Jareths Blick die Kette, die Sarah immer um ihren Hals trug und er hatte eine Idee.
"Solange du das Medaillon trägst, weiß ich daß du mich noch liebst", er grinste und setzte noch scherzhaft hinzu: "Also sieh zu, daß du nie vergißt, sie umzuhängen."
"Wie könnte ich so etwas vergessen", entrüstete sich Sarah spaßeshalber. "Nur schade, daß ich noch keine Gelegenheit hatte, dir etwas zu schenken. Dein Aufbruch letzte Nacht war etwas überstürzt", bedauerte sie.
"Schon in einem Jahr werden wir uns wieder treffen. Bis dahin hast du Zeit deine Wahl zu treffen. Und in der Zwischenzeit tröste dich mit dem Gedanken, daß es in meinem Reich nichts gibt, was meine Gefühle für dich ändern könnte."
"Ein Jahr", seufzte sie, "ein Jahr kann so entsetzlich lang sein."
"Oder so entsetzlich kurz", erwiderte er. "Es kommt lediglich auf den Standpunkt an."
"Ich vermisse dich schon jetzt", erwiderte Sarah und legte schüchtern die Spitze ihres Zeigefingers auf den unteren Rand des Spiegels. Jareth sah es und berührte nach kurzem Zögern auf seiner Seite ebenfalls die glatte Oberfläche des Spiegelglases mit seiner Fingerspitze. Es war die Illusion einer Berührung. Nicht mehr. Und doch war es für beide tröstlich. Sie verharrten lange so, ohne ein Wort zu wechseln. Es war Sarah, die schließlich das Schweigen brach.
"Jareth, du siehst müde aus. Hast du schlecht geschlafen?" fragte sie besorgt.
"Schlecht geschlafen - nein. Ich war noch gar nicht im Bett."
"Warum das denn? Ich habe wunderbar geschlafen."
"Ich war heute morgen noch zu - na, sagen wir - aufgekratzt. Es hätte gar keinen Sinn gehabt, zu Bett zu gehen. Ich hätte ja doch kein Auge zugetan. Außerdem waren einige dringliche Angelegenheiten zu erledigen." Von den blühenden Bäumen erzählte er ihr lieber nichts, da er sie nicht beunruhigen wollte.
"Mein armer König", bedauerte sie ihn lächelnd. "Es wird wohl besser sein, wenn wir für heute Schluß machen. Ich muß morgen schließlich auch wieder früh raus. Ich wünsche dir schöne Träume, Jareth."
"Danke, meine kleine Elfe. Gute Nacht."
"It hurts like hell"
Kapitel 17
Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug. Äußerlich unterschieden sie sich kaum von den ersten Wochen, die Sarah in Phoenix verbracht hatte, außer daß sie den Rat ihrer Mutter befolgte und jedes Wochenende im nahegelegenen Park joggen ging. Es war verblüffend wie vielen anderen Menschen sie dort begegnete, die ebenfalls joggten. Die meisten waren sogar in ihrem Alter und alle hatten den gleichen einsamen Gesichtsausdruck. Sarah fragte sich wovor sie wohl alle davonliefen, denn für ihr Gefühl war es eher eine Flucht, denn eine sportliche Betätigung. Gleichzeitig war sie froh, ihnen in dieser Hinsicht kein bißchen ähnlich zu sein, denn die Gewißheit um Jareths Liebe hatte ihr neuen Auftrieb und Schwung verliehen. Sogar einem ihrer Abteilungsleiter war ihre Tatkraft und Phantasie bereits positiv aufgefallen und Tess hatte bereits einige abfällige Bemerkungen über Mister Millfords häufige Besuche in der Chefetage fallen lassen. Wobei es nicht einmal so war, daß sie Sarah den beruflichen Erfolg nicht gegönnt hätte. Worauf Tess wirklich eifersüchtig war, war dieses innere Leuchten, das Sarah neuerdings verströmte und das sie nahezu unwiderstehlich charmant machte. Entweder war die Gute schwanger oder es steckte ein Mann dahinter, denn daß diese sprühende Lebensfreude nicht allein dem erwarteten Vertragsabschlusses von Mister Millford und Sarahs sicherer Beförderung entsprang, dessen war sich Tess absolut sicher.
Sarahs Gespräche mit Jareth hatten seit der gemeinsam verbrachten Halloween-Nacht keine wesentlichen Änderungen erfahren. Sie sprachen wohl manchmal von ihrer Liebe, doch hüteten sich beide nach wie vor ihr - seit dieser Nacht offensichtliches - Bedürfnis nach körperlicher Nähe und Zärtlichkeit zu erwähnen.
In diese Zeit fiel auch ein Abend an dem Sarah Jareth damit überraschte, daß auf ihrer Kommode ein Sektkühler mit einer kleinen Flasche Champagner und ein Sektkelch standen.
"Gibt es etwas zu feiern, meine kleine Elfe?"
"Allerdings! Und du mein Schatz mußt unbedingt mit mir anstoßen", jubelte sie übermütig.
"Einen kleinen Augenblick." Mit einem Fingerschnipsen zauberte sich Jareth ebenfalls die gleichen Utensilien auf seinen Tisch wie Sarah. Anmutig hob er ihr sein Glas entgegen. "Und worauf trinken wir?"
"Auf das Ende meiner Probezeit, auf einen unbefristeten Vertrag, eine Gehaltserhöhung, eine versprochene Beförderung und auf drei Wochen Weihnachtsurlaub!" Schwungvoll hob sie ihm ihr Glas entgegen und ließ es leicht gegen den Spiegel klirren. Jareth tat es ihr auf seiner Seite nach. Dann tranken sie.
"Das habe ich alles dir und Mister Millford zu verdanken", schwärmte sie weiter. "Ich weiß nicht, wem ich mehr zu Dank verpflichtet bin." Sie zwinkerte Jareth schelmisch zu.
"Das sind wirklich phantastische Neuigkeiten", freute sich Jareth mit ihr, "doch du tust uns zuviel Ehre an. Das hast du alles ganz alleine geschafft. Ich bin stolz auf dich."
Sarah erglühte unter seinem Lob. "Meinst du wirklich?"
" Nein, natürlich nicht. Ohne meine magischen Kräfte wärst du nicht einmal imstande dir die Haare zu kämmen." Er grinste boshaft und schließlich brachen beide in Gelächter aus. Sie scherzten noch eine ganze Weile miteinander, bis Jareth bemerkte, daß Sarahs Flasche fast leer war und seine irdische Geliebte keinen Alkohol vertrug. Er hatte sie noch nie beschwipst gesehen und so war er nun überrascht aber auch erheitert über ihren alkoholisierten Zustand.
"Weissu, Jareth, ich liebe dich wirklich ganz schrecklich."
"Ja, ich weiß", erwiderte er nachgiebig.
"Dabei - dabei weiß ich gar nichts von dir. Überhaupt nichts."
"Das ist doch gar nicht wahr, Sarah. Du übertreibst", protestierte er sanft.
"Ich übertreibe nie! Du weißt alles von mir - un´ ich - un´ ich weiß gar nichts." Als ihre Ausführungen schließlich noch von einem Schluckauf unterbrochen wurden, mußte er sich sehr zusammenreißen, damit sie nicht sein Lachen hinter der vorgehaltenen Hand entdeckte. "Was möchtest du denn wissen?" fragte er sie, als er seiner Stimme wieder trauen konnte. Sarah hatte sich mittlerweile sehr konzentriert um sich den letzten Rest Champagner ohne zu kleckern in ihr Glas einzugießen und sah ihn nun reichlich orientierungslos wieder an.
"Oh, alles", sagte sie unsicher und trank noch einen Schluck. "Ich weiß ja nich´mal wer deine Eltern sin´." Arglos sah sie ihn an. "Wer weiß ob du wir´lich aus ´nem guten Stall komms´." Trotz ihres Schwipses entging es Sarah nicht, daß Jareth bei ihrer Frage erstarrt war und mehr als einmal die Farbe gewechselt hatte. "Is´ was?" fragte sie schließlich unbeholfen und versuchte krampfhaft ihren Kopf von den Champagner-Nebeln zu befreien, was ihr auch ein ganz klein wenig gelang.
"Was ist mit dir?" Sie wiederholte ihre Frage diesmal mit mehr Nachdruck.
"Ich weiß nicht wer meine Eltern sind", antwortete er schließlich mit einem spöttischen Zug um die Mundwinkel.
"Aber Jareth!" Schlagartig war Sarah wieder nüchtern.
Jareth hatte sich wieder soweit gefaßt, daß er in der Lage war ihr etwas ruhiger zu antworten. " Ich denke du hast ein Recht darauf, es zu erfahren." Er holte tief Luft und fuhr dann fort: "Ich bin nichts anderes als ein geraubtes Baby. Der frühere König der Kobolde fand mich eines Nachts auf einer Kirchentreppe. Meine Eltern hatten mich offensichtlich ausgesetzt. So nahm er mich also mit. Er bemerkte bald, daß in mir Magie steckte und deshalb verwandelte er mich nicht in einen Kobold sondern erzog mich als Prinz und seinen Thronerben. Ich erfuhr die ganze Geschichte erst kurz vor seinem Tod. Ich - ich hatte ihn die ganze Zeit für meinen Vater gehalten, obwohl er mir nie erlaubt hatte ihn auch so anzusprechen."
"Wie schrecklich."
"Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen." Und mit einem schiefen Lächeln setzte er hinzu: "Es tut zu weh - aber ich denke, du hast ein Recht darauf etwas aus diesem Abschnitt meines Lebens zu erfahren. Wenn du noch Fragen hast, dann stelle sie bitte jetzt. Ich möchte nämlich nie wieder darüber sprechen müssen."
Es erschreckte sie, Jareth so verletzlich zu erleben. Aber sonst unterschied er sich in nichts von normalen Männern. Über traurige Gefühle spricht man nicht....
Eigentlich hätte sie ihn in dieser Stimmung nicht weiter mit Fragen gequält, aber sie wußte, daß er zu dem was er gesagt hatte stehen würde. Entweder sie stellte ihre Fragen jetzt, oder sie würde nie eine Antwort darauf erhalten.
"Und du hast gar keinen Anhaltspunkt über deine Eltern? Wer sie waren, oder warum sie dich ausgesetzt haben?"
"Nein, keinen einzigen. Aber du darfst nicht vergessen, daß ich nicht gerade einem aufgeklärten Zeitalter entstamme. Ist dir eigentlich schon aufgefallen, daß meine Augen verschiedenfarbig sind? Wahrscheinlich hielten sich mich für eine Ausgeburt der Hölle - wer weiß."
"So etwas darfst du nicht denken", bat sie ihn, obwohl sie es selbst für eine plausible Erklärung hielt. "Ich finde deine Augen anbetungswürdig."
Er erwiderte darauf nichts, sondern wartete auf ihre nächste Frage.
"Wann wurdest du eigentlich geboren? Ich weiß noch nicht einmal, wie alt du bist."
"Mein - Lehrmeister teilte mir das genaue Datum nicht mit. Aber in eurer Zeitrechnung bin ich sicher einige hundert Jahre alt."
"Einige Hundert?! Mein Gott, alterst du denn gar nicht?"
"Die Zeit hat im Labyrinth nicht die gleiche Bedeutung wie auf der Erde. Man kann das Alter nach seinem eigenen Willen zum Teil beeinflussen. Als Kind alterte ich in einem angemessenen Zeitraum, der meiner geistigen und körperlichen Reife entsprach, doch seit einigen Jahrzehnten werde ich nicht mehr älter. Könntest du mich vielleicht als Dreißigjährigen akzeptieren? Entschuldige, es war ein schlechter Scherz, ich weiß."
"Schon gut. Ist nicht schlimm. Ist es möglich, daß du unsterblich bist? Aber der vorherige König ist doch gestorben...."
"Rein theoretisch könnte ich unsterblich sein. Doch ich habe bei Tandor - so war sein Name - bemerkt, daß niemand unsterblich sein kann. Als ich noch ein kleines Kind war, hatte Tandor schon weißes Haar. Ich habe ihn nie anders gekannt. Er war schon immer ein alter Mann gewesen. Doch in dem Maße, in dem ich heranwuchs und immer fähiger wurde den Thron zu besteigen, spürte ich, daß er von der Last der vielen Jahrhunderte erdrückt wurde. Er wollte einfach nicht mehr leben. Auch ich könnte, genau wie er, beschließen, dieses Leben zu verlassen. Nach einigen Tagen zerfällt man dann ganz einfach zu Staub."
"Du warst dabei als er starb." Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
"Ja. Es mußte sein. Die Zeremonie verlangte es", erwiderte er dumpf.
"War es sehr schlimm für dich?"
"Ich habe ihn geliebt wie einen Vater. Obwohl - obwohl er mich immer für einen Tunichtgut hielt. Vielleicht hatte er sogar recht damit. Ich habe mich auf jeden Fall immer sehr bemüht, ihn nicht zu enttäuschen. Es war nicht immer einfach." Seine Gedanken wanderten an jenen Tag zurück, an dem Tandor für immer von ihm Abschied genommen hatte und plötzlich war ohne jede Vorwarnung dieser tiefe Schmerz wieder da. Durch die Jahrzehnte nicht gemildert, sondern eher verstärkt. Wenn er Sarah gegenüber nicht offen sein konnte, wem gegenüber dann? Also öffnete er die Tür in seiner Seele, die er seit Tandors Tod verschlossen gehalten hatte und ließ Sarah ein. "Ich hätte gerne um ihn geweint. Doch das hätte er nicht geduldet. In seinen Augen waren Tränen ein Zeichen von Schwäche. Ich habe gelitten wie ein Tier, als ich ihn vor meinen Augen verwelken sah. Es war schrecklich. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt schon wußte, daß er gar nicht mein Vater war, meine Trauer hätte nicht größer sein können, wenn er es tatsächlich gewesen wäre. Allerdings glaube ich, daß er mich nie so sehr geliebt hat, wie ich ihn." Eine einzelne Träne schimmerte in seinem Augenwinkel. Er machte keine Anstalten, sie wegzuwischen. Unverwandt starrte er Sarah an. Seine Qual lag offen in seinen Augen.
Sarah wußte, wieviel Überwindung es ihn gekostet hatte, ihr dies alles zu erzählen. Nun hatte er seine Last bei ihr abgeladen und es war ihre Aufgabe, sie ihm zu erleichtern, aber sie ihm auch wieder zurückzugeben.
"Wenn er kein Vertrauen in deine Fähigkeiten gehabt hätte, hätte er dich sicher nicht zu seinem Nachfolger bestimmt. Es ist nun mal die Eigenart von jedem Vater - oder Lehrer - in seinen Zöglingen nach außen hin nur Versager zu sehen. In ihrem Innersten platzen sie alle vor Stolz, wenn der Junior ein kleines Husarenstückchen vollbringt. Zugeben werden sie es allerdings nie. Mach dir keine Sorgen, Jareth. Er hatte dich sicher lieb. Eben auf seine Art. Daß er es dir nie gesagt hat, tut mir leid für dich. Das ist nun einmal dein Kreuz, damit mußt du alleine fertig werden. Unsere Schicksale sind sich ähnlicher, als ich je gedacht hätte."
Seine Gesichtszüge waren wieder entspannter, aber immer noch wehmütig.
"Ich hatte eine wirklich miese Kindheit. Kannst du dir das vorstellen, Sarah? Immer nur Kobolde, und du das einzig vernunftbegabte Wesen? Es war wirklich gräßlich."
"Ich weiß, was du meinst. Du warst bestimmt sehr einsam.... genau wie ich."
"Ja, doch dann kamst du meine liebste Elfe...."
"Ja, dann kam ich...."
"Gute Nacht, liebste Elfe, und auf die Gefahr hin mich zu wiederholen: ich bin sehr, sehr stolz auf dich."
"Gute Nacht, Jareth, du machst mich sehr glücklich."
Die Dezembertage waren alles andere als erholsam gewesen. Wobei die Beschreibung "Streß" eindeutig untertrieben gewesen wäre. Die ganze Welt bereitete sich auf Weihnachten vor, lediglich ein kleines Grüppchen von Werbeleuten hatte im Dezember die Ostergeschäfte zu erledigen. Sarah war sich sicher, wenn sie auch nur noch einmal die Worte Hase oder Ei gehört hätte, sie wäre hysterisch geworden oder hätte den Chef geküßt oder wäre aus dem Fenster gesprungen, oder alles zusammen. Doch nun hatte sie endlich alles erledigt. Es war Sonntag nachmittag, die dringendste Arbeit hatte sie in einer samstäglichen Sonderschicht erledigt und den Rest dem kleinen Grüppchen bedauernswerter Kollegen überlassen, die entweder keinen Urlaub bekommen hatten, oder keinen haben wollten. Ein letzter Rundblick durch die Wohnung: die Fenster waren geschlossen, der Herd und das Wasser waren aus. Die Koffer standen gepackt neben der Tür, die letzte Grünpflanze war bereits zur Pflege an Tess ausgelagert.
Alles war erledigt... alles, bis auf das schwerste, sie mußte Jareth noch auf Wiedersehen sagen. Vor allem mußte sie es gleich tun und sie mußte es schnell tun, denn eigentlich sollte sie schon seit einer Stunde auf dem Highway sein.
Deprimiert setzte sie sich an ihre Frisierkommode. Bevor sie Jareth rief, musterte sie ihr eigenes Spiegelbild flüchtig. Ärgerlich zog sie die Nase kraus. Was sie sah, gefiel ihr durchaus nicht. Trotz Jogging war sie blaß geworden, unter ihren Augen lagen leichte Schatten und ihre Augen waren müde. Sie schickte noch ein Stoßgebet gen Himmel, daß Jareth nichts davon bemerken würde, obwohl sie genau wußte, daß es ihm schon vor Tagen aufgefallen war. Er hatte bislang lediglich keine Bemerkung darüber gemacht. Hoffentlich verkniff er sie sich heute auch. Für ihre bloßgelegten Nerven wäre es einfach zuviel wenn er sich um ihre Gesundheit sorgen würde. Es reichte schon, daß sie in einigen Stunden ihren Eltern gegenüber stehen würde. Ihre Mutter würde bestimmt schrecklich mit ihr schimpfen, daß sie sich kaputt arbeiten würde und so weiter und so fort. Die gleich Litanei wie am Telefon, nur noch viel schlimmer. Am Telefon hatte Sarah wenigstens noch ein bißchen flunkern können, aber in natura.... Am besten würde sein, wenn sie ihr schlechtes Aussehen auf die lange Autofahrt schob. Bei diesem Gedanken hob sich ihre Laune merklich und sie konnte mit einem halbwegs entspannten Gesichtsausdruck nach Jareth rufen.
"Hallo Sarah. Ich dachte gerade, daß du womöglich schon weg bist und mich in der Hektik einfach vergessen hast." Sein Lächeln nahm seinen Worten alle Schärfe.
"Oh, Jareth. Wie könnte ich das!"
"Hast du schon fertig gepackt?"
"Ja, sobald ich mich von dir verabschiedet habe muß ich los. Ich bin tatsächlich ein bißchen spät dran."
"Aber Sarah!" tadelte er sanft. "Du machst ja ein Gesicht als ob du geradewegs in die Hölle fahren müßtest. Dabei gehst du doch nur zu deiner Familie um dort Weihnachtsferien zu machen. Du solltest dich wirklich mehr freuen."
"Ach verflixt! Wie soll ich mich freuen, wenn ich dich ganze zwei Wochen nicht sehen kann! Ich wünschte ich könnte diesen Spiegel mitnehmen." Schimpfte Sarah ungehemmt. "Es wäre ja alles nicht so schlimm, wenn ich mich nicht hätte überreden lassen, auch noch über Sylvester zu bleiben."
"Was, um alles in der Welt ist daran denn so schlimm?" Ihre Impulsivität überraschte Jareth. Er hatte zwar nicht erwartet, daß dieser Abschied einfach verlaufen würde, aber auf solche Komplikationen war er nicht gefaßt gewesen.
"Eigentlich gar nichts. Wenn es nur nicht diesen idiotischen Brauch gäbe, nach dem man um Mitternacht unbedingt jemanden küssen muß."
"Ich finde diesen Brauch gar nicht mal so idiotisch", beschwichtigte er sie.
"Doch, das ist er. Nämlich dann, wenn der einzige Mensch, den man küssen möchte nicht da ist." Sarah warf ihm durch den Spiegel einen sehnsuchtsvollen Blick zu, der Jareth ziemlich zu denken gab.
"Ich werde um Mitternacht an dich denken", versprach er schließlich.
"Ich vermisse dich schon jetzt", seufzte Sarah.
"Ich dich auch."
"Auf Wiedersehen, Jareth." Sie hauchte einen Kuß auf die Innenfläche ihrer Hand und blies ihn ihm mit einem schiefen Lächeln zu.
"Auf Wiedersehen, meine kleine Elfe."
Kapitel 18
Als Sarah endlich am Haus ihrer Eltern angekommen war, hatte sich die Sonne bereits zurückgezogen. Während sie noch die Auffahrt entlang fuhr, bemerkte sie aus den Augenwinkeln heraus, wie sich die Gardinen an einem der Wohnzimmerfenster bewegten. Manche Dinge änderten sich eben nie. Ihre Mutter hatte bestimmt schon seit Stunden am Fenster gestanden und auf die Heimkehr der Tochter gewartet, nur um hinterher um so überraschter über ihr Eintreten zu sein. Sarah parkte ihr Auto vor der Garage, stieg aus und zerrte ihr Gepäck aus dem Kofferraum. Sie hörte die Haustür klappern und ihr Vater kam ihr entgegen.
"Laß mich doch den Koffer tragen. Der ist dir sicher zu schwer."
Ach ja! So war ihr Vater eben. Er hatte schon eine merkwürdige Art seine Liebe zu zeigen. Anstatt seine große Tochter in den Arm zu nehme und sie ganz fest zu drücken, trug er ihr lieber den Koffer ins Haus.
"Danke, Dad. Er wiegt tatsächlich ein bißchen viel."
"Na, dann geh schon mal rein. Deine Mutter möchte dich begrüßen. Ich mach das hier schon."
Impulsiv küßte Sarah ihren Vater auf die Wange und lief in das Haus. Es war sooo gut, wieder Zuhause zu sein!
Im Wohnzimmer saß wie erwartet ihre Mutter, die bei ihrem Eintreten schnell von ihrem Sessel aufstand, um Sarah zu umarmen.
"Himmel, Sarah, ist das schön, daß du wieder da bist! Aber jetzt laß dich erstmal anschauen." Sie hielt ihre Tochter auf Armeslänge von sich entfernt. "Du bist blaß", stellte sie fest. "Und abgenommen hast du wohl auch noch. Also so geht das aber nicht, Kindchen. Du hast mir doch versprochen, du gehst öfter an die frische Luft."
Sarah verdrehte die Augen.
"Ich war doch an der Luft. Ich habe dich nicht beschwindelt. Die Fahrerei hierher hat mich doch ziemlich angestrengt", erinnerte sie sich an ihre vorbereitete Notlüge.
"Setz dich erstmal." Ihre Mutter zog sie neben sich auf die Couch.
"Wo ist Toby?" versuchte Sarah ihre Mutter abzulenken.
"Schläft schon. Du glaubst doch nicht, daß ich dir glaube, daß die paar Stunden Highway alle Farbe aus deinem Gesicht gesaugt haben."
Sarah seufzte ergeben. Nun hatte sie sich endgültig in das Thema Sarah ist zu blaß verbissen. "Ich gebe zu, daß die letzten Wochen nicht gerade ruhig waren. Es war eben ziemlich viel los in der Firma. Kannst du dir vorstellen, daß das Ostergeschäft schon so gut wie gelaufen ist?"
"Ich bring dein Gepäck schon mal nach oben in dein Zimmer", rief ihr Vater aus der Diele.
"Ist o.k. Dad", schrie Sarah zurück.
"Er freut sich so, daß du wieder da bist. Würde sich aber eher die Zunge abbeißen, als es zuzugeben", raunte ihre Mutter ihr im Verschwörerton zu.
"Ja, ich weiß, Mam."
"Du siehst müde aus. Am besten, du gehst gleich zu Bett und wir reden morgen weiter."
"Ich glaube, das ist eine gute Idee. Jetzt, wo ich nicht mehr hinter dem Steuer sitze, merke ich erst, wie träge ich schon bin. Gute Nacht, Mam. Wenn es euch nichts ausmacht, würde ich morgen ganz gern ausschlafen. Geht das?"
"Natürlich, Kindchen. Schlaf schön."
Mittlerweile hatte ihr Vater auch das Wohnzimmer betreten.
"Die Koffer sind oben, Tochter. Hab schon gehört - dann schlaf dich mal tüchtig aus. Gute Nacht, Sarah." Er gab ihr noch einen Klaps auf die Wange. "Was hast du eigentlich in deinem Koffer? Ziegelsteine?" rief er ihr lachend hinterher.
Sarah war schon halb die Treppe hinauf, beugte sich dann aber über das Geländer. "Gut geraten, Dad. Es ist dein Weihnachtsgeschenk." Kichernd rannte sie das letzte Stück hinauf und in ihr Zimmer. Sie hatte erwartet, es verändert vorzufinden. Doch tatsächlich damit gerechnet hatte sie nicht. Ihr Bett und ihr Schrank waren noch da. Die anderen Möbel hatte sie entweder mit nach Phoenix genommen, oder an Toby weitergereicht. Während ihrer Abwesenheit hatte die Schreibmaschine ihrer Mutter hier ein neues Zuhause gefunden und säuberlich in Kartons verpackt und beschriftet, die alten Spielsachen von Toby. Hierher war auch die scheußliche Stehlampe aus der Diele gewandert. Sarah hatte schon gehofft, ihre Eltern hätten sie endlich weggeworfen. Mit einer raschen Bewegung knipste Sarah das Licht aus und blieb eine Weile im Dunkeln stehen, bis sich ihre Augen halbwegs an das fahle Mondlicht gewöhnt hatten. Dies war nicht mehr ihr Zimmer. Und doch.... einmal war es ihre ganze Welt gewesen. Und hatte nicht in diesem Zimmer alles angefangen? Wieviel anders ihr Leben doch nun aussah! Staunend dachte sie an all die heißen Tränen zurück, die sie hier wegen Jareth vergossen hatte. Wie albern und klein sich diese Seelennöte jetzt ausnahmen.
"Ich wünschte - ich wünschte..." abrupt brach sie ab und schüttelte unwillig den Kopf. "Ich wünschte, er wäre hier", beendete sie den Satz schließlich und knipste das Licht wieder an, um ihre Koffer auszupacken.
Als sie endlich im Bett lag und das Licht wieder gelöscht hatte, konnte sie lange keinen Schlaf finden. Immer wieder suchte sie das Bild heim, wie Jareth in der Nacht ihres Geburtstages auf ihrem Bett gesessen und mit diesem unendlich liebevollen Ausdruck in seinen Augen auf sie herabgesehen hatte. Doch erschöpft wie sie war, gewann der Schlaf schließlich doch die Überhand über diese süßen Erinnerungen.
Am nächsten Tag erschien Sarah erst kurz vor Mittag in der Küche um ein sehr verspätetes Frühstück einzunehmen.
"Guten Morgen, Mam! Gib mir Pfannkuchen oder ich sterbe vor Hunger!"
"Guten Morgen?" Ihre Mutter sah betont auf die Küchenuhr, bevor sie ein Blech mit Weihnachtsplätzchen in den Backofen schob.
Sarah grinste und stibitzte sich eines der Plätzchen, die zum abkühlen auf dem Küchentisch lagen.
"Laß das, Sarah", rügte ihre Mutter ohne dabei hinzusehen. "Alles was ich dir anbieten kann, sind deine Lieblingsmuffins und ein paar Scheiben Toast. Und sobald du das verdrückt hast, brauche ich hier noch ein paar helfende Hände."
Fast wäre Sarah an einem der Kekskrümel erstickt. Helfende Hände das fehlte gerade noch.
"Wo stecken den Dad und Toby?"
"Toby ist bei einem seiner Freunde und Dad besorgt gerade einen Weihnachtsbaum." Sie stellte vor ihre Tochter ein Teller mit Muffins hin. "Möchtest du was zu trinken?"
"Laß mal, ich mach mir ein bißchen heiße Milch. Also habt ihr wie jedes Jahr Toby zum spielen geschickt, damit er den Baum nicht sieht. Stimmt's?"
"Stimmt. Obwohl ich manchmal glaube, er ist dafür doch schon zu groß."
"Wer kommt morgen eigentlich alles?" nuschelte Sarah zwischen ihren Muffins hervor.
"Ach, die übliche Verwandtschaft." Ihre Mutter schnitt eine Grimasse. "Meine Schwester und ihre Familie und die Kusine deines Vaters mit ihren Kindern."
"Die wollen doch nicht etwa hier übernachten?"
"Es wird sich nicht vermeiden lassen", seufzte ihre Mutter. "Hast du endlich fertiggefrühstückt? Dann kannst du schon mal von dem Mehl 500 gr. sieben.
Sarah meckerte ein bißchen, allerdings mehr aus Gewohnheit. Mittlerweile tat sie ihrer Mutter bei solchen Anlässen schon gern einen Gefallen oder auch zwei.
Daß allerdings die ganze Verwandtschaft an Weihnachten anrücken würde, behagte ihr nicht besonders. Natürlich war es so verabredet gewesen, aber insgeheim hatte Sarah gehofft, daß eins oder zwei der Kinder mit Grippe im Bett liegen würden, so daß der Weihnachtsbesuch sehr kurz oder sogar ganz ausfallen würde. Augenscheinlich erfreuten sich jedoch alle der besten Gesundheit.
Tante Myra, das war die Kusine ihres Vaters, war noch nicht mal so schlimm. Sie tat Sarah immer ein bißchen leid. Ihr Mann war vor einigen Jahren bei einem Autounfall getötet worden, und ihr Sohn Vincent, der etwas älter als Sarah war, hatte daraufhin das College aufgeben und in einer Bank eine Stelle annehmen müssen. Sein jüngerer Bruder Victor ging noch auf die High-School und war eine entsetzliche Nervensäge. Bei ihrer Tante Gladys und ihrem Mann Fred wußte man allerdings nicht, wenn schwerer zu ertragen war. Die Eltern selbst, oder ihre beiden Töchter Eve und Ginger. Glücklicherweise waren die beiden erst 15 und 13 Jahre alt, so daß Sarah sich kaum mit ihnen abzugeben brauchte. Vielleicht würde es auch gar nicht so katastrophal werden. Seit dem letzten Familientreffen waren immerhin einige Jahre vergangen. Möglicherweise hatte sich der eine oder andere zu seinem Vorteil verändert.
"Hier, nimm mir mal das Blech ab", unterbrach ihre Mutter ihre trüben Gedanken.
"Durch dieses Weihnachtsfestessen müssen wir nun mal durch. Dafür wird die Party an Sylvester das reine Vergnügen. Willst du eigentlich noch jemand dazu einladen? Auf fünf Gäste mehr oder weniger kommt es mittlerweile auch nicht mehr an."
"Eigentlich nicht", überlegte Sarah. " Die Gästeliste hat mir sehr zugesagt, ich denke nicht, daß sie sich noch verbessern läßt."
"Albernes Gör", schimpfte ihre Mutter gutgelaunt.
Als die meisten Plätzchen gebacken waren, kam endlich Sarahs Vater mit dem Baum nach Hause.
"Schnell, Sarah, mach die Wohnzimmertür auf", keuchte er.
Sarah rannte hastig an ihm vorbei, um ihm den Gefallen zu tun. Erschöpft zerrte er den Tannenbaum ins Wohnzimmer und lehnte ihn dort einfach an die Wand.
"Meine Güte, Dad! Der ist ja riesig! Wozu kaufst du nur immer solche Monster?"
"Ein Weihnachtsbaum muß groß sein. Außerdem hat auf einem kleinen Baum...."
"....nicht der ganze Christbaumschmuck von Großmutter Williams Platz", beendete Sarah den Satz. Jedes Weihnachten das gleiche Ritual. Der Baum würde zu groß sein, das Essen zu fett, die Geschenke zu teuer....es war herrlich wieder zu hause zu sein. Doch genauso herrlich würde es sein, wenn sie gleich nach Neujahr wieder nach Phoenix fahren konnte.
Gemeinsam schmückten sie den Baum, bis kein Fitzelchen zusätzliches Lametta mehr Platz hatte, wobei sie sich gegenseitig lobten und versicherten, der Baum wäre noch nie so schön gewesen wie dieses Jahr.
"Und auch noch nie so teuer", brummte ihr Vater.
Zum Schluß legten sie noch die Geschenke unter den Baum, verließen dann das Zimmer und schlossen sorgfältig ab. Keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment stürmte Toby herein und warf sich seiner großen Schwester in die Arme.
"Hast du mir ein großes Geschenk mitgebracht?"
"Hallo Toby."
"Hallo Sarah. Was ist jetzt mit dem Geschenk?"
"Da mußt du schon bis morgen früh warten. Freust du dich trotzdem, daß ich wieder da bin.?"
"Ja, schon." Plötzlich hatte er eine neue Idee. "Gehst du mit mir in den Zoo?"
"Was, jetzt gleich? Draußen wird es schon dunkel und du willst noch mit mir in den Zoo?"
"Wir können ja auch ein anderes Mal hingehen", gestattete er großzügig. "Liest du mir eine Geschichte vor?"
Schweigend drückte ihre Mutter Sarah ein ziemlich mitgenommenes Buch in die Hand.
"Seite 37. Ich mache solange das Abendessen."
An diesem Abend kroch Sarah merkwürdig zerschlagen in ihr Bett. Sie hatte total vergessen, wie anstrengend so ein siebenjähriger Junge sein konnte.
"Vielleicht hätte ich ihn doch bei den Kobolden lassen sollen", murmelte sie noch und war auch schon eingeschlafen.
Der neue Tag brachte auch neue Anstrengungen. Ihre Mutter war von dem Wahn befallen, den gesamten Eingangsbereich noch einmal zu putzen, damit Tante Gladys wenigstens nicht gleich eine Gelegenheit für eine spitze Bemerkung hatte.
Toby quengelte schon seit sieben Uhr in der Frühe, weil er seine Geschenke auspacken wollte und ihr Vater beschwerte sich daß die Füllung für die Weihnachtsgans versalzen wäre. Die ganze Angelegenheit erfuhr durch die Ankunft der Gäste am frühen Nachmittag noch eine geringfügige Steigerung, um schließlich beim gemeinsamen Abendessen zu eskalieren. Nicht, daß es zu einem offenen Streit gekommen wäre. Im Gegenteil. Die kriegführenden Parteien wurden lediglich immer höflicher und Sarah war noch nie so nahe daran gewesen, sich selbst zu den Kobolden zu wünschen. Schon kurz vor dem Abendessen hatte Sarah ihre Ohren auf Durchzug gestellt um wenigstens nur noch die Hälfte aller Unterhaltungen mitzubekommen. Leider hatte Tante Gladys eine Stimme, die es locker mit einer Kreissäge aufnehmen konnte. Nach dem Dessert steckte sich ihr Vater eine Pfeife an und ging auf die Terrasse um sie dort zu rauchen. Normalerweise tat er das nie, aber Sarah sah ihm nur neidisch hinterher. Wenn sie doch nur auch rauchen würde, dann hätte sie jetzt eine gute Entschuldigung um wenigstens für 5 Minuten diesen Vorhof der Hölle zu verlassen. Ihre Mutter bot Cognac und Sherry an. Sarah nahm sich auch ein kleines Gläschen Sherry, wodurch leider ihre Tante Gladys zum ersten Mal an diesem Tag auf sie aufmerksam wurde. Bis dahin hatte sie die ganze Zeit mit ihren ach so begabten Töchtern beschäftigt, doch nun drohten ihr die Themen auszugehen und so faßte sie Sarah scharf ins Auge.
"Die liebe Sarah ist ja den ganzen Abend so still gewesen! Ihr seid sicher heilfroh, daß ihr sie wieder um euch habt. Sie ist ja auch eine richtige Schönheit geworden. Sie gleicht ihrer Mutter aufs Haar. Hoffentlich erstrecken sich die Ähnlichkeiten nur auf das Äußere."
Die Reaktionen auf diese kurze Ansprache waren sehr unterschiedlich. Sarah wurde blaß vor Wut. Ihre Mutter blieb äußerlich ganz gelassen und sagte nur: "Du mußt es ja wissen, Gladys. Noch etwas Sherry? Sarah bringst du bitte deinem Vater auch ein Glas Cognac auf die Terrasse? Danke, Liebes."
Sarah war ihrer Mutter mehr als dankbar. Keine Sekunde länger hätte sie dort sitzen bleiben können. In der einen Hand ihr eigenes Glas, in der anderen den Cognac für ihren Vater ging sie zu ihm hinaus.
"Na, dicke Luft da drin?"
"Das kannst du wohl sagen", schnaubte Sarah wütend. "Ich gehe so schnell nicht wieder da rein."
"Gladys?"
"Wer sonst!"
"Das dachte ich mir. Worum ging es diesmal?"
Sarah wollte schon damit herausplatzen, da fiel ihr plötzlich ein, daß die Äußerung von Tante Gladys nicht nur sie selbst verletzt hatte, sondern auch ihren Vater verletzen würde. Egal wie ihre Mutter sich auch verhalten hatte, er mußte sie auch einmal geliebt haben. Ihre Wut war verraucht. Sie schwieg bedrückt.
"Hat sie etwas über .... Linda gesagt?"
"Ja, Dad."
"Und? Willst du mir nicht sagen, was es war, Prinzessin?"
"Sie meinte, ich sähe ihr sehr ähnlich."
Ihr Vater lachte leise. "Das war bestimmt nicht alles. Sonst wärst du nicht so wütend gewesen."
"Sie sagte dann noch, daß sie hoffe, ich würde ihr nicht auch sonst noch ähnlich werden."
"Aha." Er nippte an seinem Cognac.
"Dad, ich muß es wissen. Bin ich ihr tatsächlich so ähnlich?"
"Du hast ihre Haare, aber nicht ihre Augen. Eigentlich erinnerst du mich eher an meine Mutter. Du siehst Linda nicht besonders ähnlich. Aber so wie du die Frage gestellt hast, meinst du wahrscheinlich etwas anderes."
"Sie hat uns damals sehr weh getan, obwohl wir die Menschen waren, die sie wirklich geliebt haben." Sie schluckte kurz, die nächste Frage fiel ihr sehr schwer. "Hat sie mich eigentlich geliebt?"
"Auf ihre Art hat sie uns beide geliebt." Er machte eine kurze Pause, in der er an seiner Pfeife sog. "Wie soll ich dir das erklären? Sie war sehr stolz auf dich, aber sie konnte es einfach nicht abwarten, bis aus dir etwas geworden war. Sie wartete und wartete und hat dabei nicht erkannt, daß du längst etwas besonderes geworden warst. Ich habe das von der Sekunde an erkannt, als ich dich zum ersten Mal auf meinen Armen gehalten hatte." Er sah Sarah voll väterlicher Zuneigung an.
"Sie hat mich also nie als das akzeptiert, was ich tatsächlich war. Sie wollte erst noch etwas aus mir machen?"
"So kann man es natürlich auch sagen."
"Hast du sie sehr geliebt, Dad?"
"Natürlich. Jeder hat sie geliebt. Ich machte da keine Ausnahme. Warum sie dann letztendlich meinen Antrag angenommen hat, habe ich nie aus ihr herausbekommen.
Vielleicht hat sie damals tatsächlich geglaubt, mich zu lieben. Es war ja nicht so, daß ich der einzige gewesen wäre, der sie heiraten wollte. Sie konnte es sich leisten wählerisch zu sein. Alle jungen Männer waren verrückt nach ihr. Sie war wie ein exotischer Schmetterling, wie eine atemberaubende Orchidee. Ich habe zu spät erkannt, daß in mein Blumenfenster eigentlich gar keine Orchidee gehörte. Sie kümmerte dort bloß vor sich hin. Wirklich entfalten konnte sie sich nicht. Mit einem Stiefmütterchen wäre mir von Anfang an besser gedient gewesen." Er lächelte bedauernd auf Sarah hinab. "Ich war zu verblendet, um zu erkennen, daß für uns beide aus dieser Bindung nie etwas Gutes herauskommen würde - bis auf dich."
"Dad, ich fürchte ich bin dir genauso ähnlich wie ihr."
"Du fürchtest es?"
"Ja, weißt du, es gibt da jemand..."
"Ich dachte mir schon so etwas. Hast du ihn in Phoenix kennengelernt?"
"Ich habe ihn dort getroffen", bog Sarah die Wahrheit etwas zurecht. "Auf dieser Halloween-Party."
"Warum hast du ihn dann nicht mitgebracht? Wir hätten uns gefreut. Und Gladys hätte vielleicht endlich einmal ihr Schandmaul gehalten."
"Das hätte sie wohl kaum getan. Im Gegenteil. Sie hätte endlich mal über etwas wirklich wichtiges aufregen können. Außerdem ist es noch nichts festes."
"Prinzessin, du machst mich neugierig. Heraus mit der Sprache. Was stimmt mit dem Knaben nicht?"
Sarah holte tief Luft. Die Wahrheit zu verdrehen und trotzdem nicht zu lügen, war nicht so einfach, wie sie gedacht hatte. Doch ihr Vater war so offen zu ihr gewesen wie noch nie. Ein bißchen mußte sie ihm schon erzählen. "Er ist anders als alle anderen Männer, die ich je kennengelernt habe." Sie nippte an ihrem Sherry um Zeit zu gewinnen. "Aber ich weiß nicht, ob er in mein Blumenfenster paßt", stellte sie fest. "Dad, ich weiß es einfach nicht. Werde ich es je mit Bestimmtheit wissen?"
Ihr Vater seufzte tief. "Eine Garantie fürs Glücklichsein kann ich dir nicht geben. Genausowenig wie eine Antwort auf deine Frage. Liebst du ihn denn?"
"Wie verrückt!"
"Und er?"
"Er hat gesagt, daß er ohne mich nicht leben kann."
"Zweifelst du daran?"
"Nein."
"Und trotzdem kannst du dich nicht für ihn entscheiden?"
"Ach, Dad. Nicht er ist das Problem. Wenn es nur um ihn ginge, glaube mir, ich wäre schon lange verheiratet. Das Problem ist das Leben das er führt. Ich müßte es mit ihm teilen, wenn ich mich für ihn entscheiden würde. Ich weiß nicht ob ich das könnte. Es ist anders als alles was ich kenne." Traurig kaute sie an ihrer Unterlippe.
Eine solche Seelenqual bei seiner Tochter zu finden überraschte ihren Vater nun doch. Das war tatsächlich was Ernstes. Hier ging es nicht nur um einen unglücklichen Flirt. Hier ging es um etwas wirklich wichtiges: um die große, wahre Liebe. Tröstend legte er den Arm um Sarah.
"Diese Entscheidung kann dir niemand abnehmen. Die Zeit wird dir vielleicht helfen, manche Dinge klarer zu sehen."
Nachdem Vater und Tochter eine Weile miteinander geschwiegen hatten, gingen sie gemeinsam wieder ins Haus zurück.
Die Zeit zwischen den Weihnachtsfeiertagen und der Sylvesterparty verging wie im Flug. Alte Schulfreunde, die ebenfalls bei ihren Eltern zu Besuch waren verabredeten sich mit Sarah, Toby beanspruchte ihre Zeit, um ihm Märchen vorzulesen oder ins Kino oder in den Zoo zu gehen und ihre Mutter unternahm einige Einkaufsbummel mit ihr.
Abends war sie von den ungewohnten Anstrengungen so erschöpft, daß sie froh war, wenn sie endlich im Bett lag. Ihr Vater sprach sie nicht mehr auf ihre Unterhaltung an Weihnachten an und so kam es, daß sie erst wieder an Sylvester an Jareth dachte. Um so überraschender war die Heftigkeit ihrer Gefühle. Sie vermißte ihn schmerzlicher, als sie sich eigentlich erlauben wollte. Eine plötzliche Leere breitete sich in ihr aus. Gleichzeitig reifte in ihr der Entschluß sich auf der Party um Mitternacht zu verstecken oder davonzulaufen. Auf keinen Fall würde sie sich von irgend jemand küssen lassen, wenn doch der einzige, den sie tatsächlich küssen wollte nicht greifbar war. Dieser Plan wurde von ihr auch rigoros durchgeführt. So lustig und amüsant die Party auch war, Sarah zog sich einige Minuten vor Mitternacht zurück und trödelte im Badezimmer im oberen Stockwerk herum. Als unten der Countdown des alten Jahres angezählt wurde, schlich sie sich in ihr Zimmer und sah trübsinnig aus dem Fenster. Von unten drangen gedämpfte Schreie und Glückwünsche herauf. Sie seufzte und suchte mit den Augen den Nachthimmel nach Feuerwerkskörpern ab. Da sah sie es. In dem Baum vor ihrem Fenster saß eine weiße Eule und sah sie direkt an.
Sarahs Augen füllten sich mit Tränen. Sie hätte wissen müssen, daß er Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde um in diesem Moment bei ihr zu sein. Sie war so unglaublich froh, Jareth zu sehen und gleichzeitig war ihr so jämmerlich zumute wie noch nie in ihrem Leben. Obwohl er nie darüber sprach, war sie sich fast sicher, daß er mit seinen gelegentlichen Besuchen auf der Erde einiges riskierte. Und alles nur, weil sie ihm von ihrem Unbehagen vor der Mitternachtsküsserei erzählt hatte. Er liebte sie tatsächlich mehr als sein Leben. Krampfhaft würgte sie die aufsteigenden Tränen hinunter. Wenn er so tapfer war, dann konnte sie sich nicht einfach so gehenlassen. Sie schluckte noch ein paarmal und schenkte ihm dann ein strahlendes Lächeln, begleitet von einer Kußhand. Die Eule schien ihr zuzunicken und flog dann weg. Der Spuk war vorbei. "Was ist das nur für ein beschissenes Leben", dachte Sarah noch, bevor ihre Fassade für Jareth zusammenbrach und sie haltlos in die Vorhänge schluchzte.
Eine halbe Stunde später putzte sie sich entschlossen die Nase und legte noch etwas Make-up nach. Sie mußte sich zusammenreißen und wieder auf die Party gehen. Sie hoffte nur, es würde ihr gelingen, sich unbemerkt unter die Gäste mischen. Gleichzeitig dankte sie ihrem günstigen Schicksal, das sie vor Entdeckung bewahrt hatte. Sarah gelang dieses Kunststückchen auch tatsächlich und ein flüchtiger Beobachter konnte ihr nicht anmerken, daß nach ihrer Ansicht ihr Leben in Trümmern lag.
Sarah erfuhr nicht, daß ihre Mutter ihr Verschwinden bemerkt hatte und auch kurz davor gewesen war, ihre Tochter wieder auf die Party zurückzuholen. Einzig das Gespräch mit ihrem Mann ein paar Tage zuvor, hielt sie davon ab. Sie wünschte nur, Sarahs Liebesleben würde eine glückliche Wendung nehmen, obwohl es momentan nicht danach aussah.
Als die Party glücklich beendet und der letzte Gast gegangen war konnte sich Sarah endlich zum zweiten Mal an diesem Abend in ihr Zimmer zurückziehen. Obwohl sie völlig erschöpft war, wälzte sie sich noch lange in ihrem Bett hin und her. Sie wünschte sich Jareth so sehnsüchtig herbei, daß bald ihr ganzer Körper schmerzhaft nach ihm verlangte. Sie wollte nicht glauben, daß sie seine Berührungen erst wieder am nächsten Halloween spüren würde. Dieser Gedanke machte sie rasend und sie fühlte mit ihren Händen nach ihrem Herz, das vor Empörung heftig schlug. Ihre eigenen Berührungen ließen ihre Gedanken an das letzte Halloween zurückwandern, als seine Hände ihren Körper berührt hatten. Unwillkürlich stöhnte sie leise auf und wie damals lief ihr wieder ein Schauer der Erregung über ihren Rücken. Sie versuchte erst gar nicht, dagegen anzukämpfen. Ihre Hände liebkosten ihren Körper und ihre Träume zeigten ihr Jareth, bis sie mit einem langgestreckten Seufzer in ihr völlig zerwühltes Kissen zurücksank. Eine kurze Zeit gab sie sich dem tiefen Gefühl der Befriedigung hin. Doch viel zu früh drängten sich die Probleme der Gegenwart wieder in den Vordergrund. So konnte es doch nicht weitergehen! Sie war nicht mehr damit zufrieden, sich ihre Streicheleinheiten selbst zu geben. Sie wollte, daß Jareth sie ihr gab. In einer Beziehung ohne Berührungen konnte sie kein weiteres Herzblut mehr investieren. Alles lief auf einen toten Punkt hinaus. Aber vielleicht... vielleicht gab es ja doch eine Möglichkeit! Jareth hatte ihr zuliebe schon so oft getrickst oder gezaubert - warum sollte es hier keine Ausweg finden. Sie mußte unbedingt mit ihm darüber sprechen. Diese Angelegenheit duldete keinen Aufschub. Es gab bestimmt einen Ausweg.... und wenn es keinen gab.... doch daran wollte sie jetzt lieber nicht denken....
Auch Jareth fand in dieser Nacht lange keinen Schlaf. Es war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob dieser mitternächtliche Besuch eine so gute Idee gewesen war, wie er anfangs gedacht hatte. Sie hatte ihm zwar zugelächelt, doch die Farbe ihrer Aura hatte ihm das krasse Gegenteil erzählt. Ihr Schmerz hatte sich ihm ungefiltert mitgeteilt. Damit hatte er nicht gerechnet. Er wäre auch gar nicht auf diese Idee verfallen, wenn er nicht so schrecklich einsam gewesen wäre. Er hatte sie in den letzten Tagen immer schmerzlicher vermißt und wußte vor lauter Langeweile bald nichts mehr mit sich anzufangen. Die Kobolde waren nach einem kurzen Intermezzo wieder in ihre übliche Trägheit zurückgefallen und Jareth hatte nichts anderes zu tun, als den lieben langen Tag mit ihnen herumzuschimpfen. Am Sylvestertag fühlte er sich schließlich so miserabel, daß er kurzerhand beschloß, eine Ballillusion für sich selbst zu kreieren, um sich von Sarah abzulenken, denn wenn seine Gedanken noch länger um sie kreisten, war er sich sicher, darüber verrückt zu werden. Also befaßte er sich den halben Tag mit dem Entwurf des Saales, der Dekoration und den Gästen. Er wählte bewußt keine dunkelhaarigen Tänzerinnen aus, um nicht ständig an Sarah erinnert zu werden. Unbewußt zauberte er sogar einen Frauentypus, der in nichts Sarahs herber Schönheit glich. Als sich der Abend über das Labyrinth herabsenkte, war alles bereit. Jareth begab sich in seine Illusion und sah sich zufrieden um. Ja, er hatte sich wieder einmal selbst übertroffen! Die Lichter waren gedämpft und schimmerten blau. Die Musik war einschmeichelnd und melodisch. Die Kleidung der Männer und Frauen war freizügiger als er jemals bei anderen Gelegenheiten ausgewählt hatte. Die Kleider der Tänzerinnen waren lang, mit weit schwingenden Röcken, wurden aber ohne Reifrock getragen. Die kleine Schleppe wurde zum Tanzen mit einer Schlaufe am Handgelenk befestigt. Keine einzige Schulter war bedeckt, kein einziges Dekolleté verborgen, keine Frisur war hochgesteckt und glänzende Locken fielen bis auf die enggeschnürten Taillen hinab. Als Schmuck waren lediglich Perlen verwendet worden. Die Stoffe schimmerten in allen Perlmuttschattierungen. Die Tänzer taten es ihren Damen gleich und waren in enge dunkle Hosen und weiten, in allen Regenbogenfarben schimmernden Hemden gekleidet. Die Haare trugen sie ebenfalls offen, und nahezu schulterlang. Es war ein Bild aus einer fremden Welt und wirkte wegen seiner meisterhaften Komposition wie ein Tanz unter dem Meeresspiegel mit frivolen Nixen und leidenschaftlichen Prinzen. Jareth selbst hatte eine schwarze Frackhose gewählt und wie die anderen Tänzer ein weites Hemd mit offenem Kragen, das je nach Lichteinfall hellblau oder zartgrün schimmerte. Im Gegensatz zu ihnen trug er allerdings wieder schwarze Handschuhe, die er aus einem plötzlichen Impuls heraus angelegt hatte. Er ließ kurz die Atmosphäre auf sich wirken und wählte dann ohne nachzudenken eine der Schönheiten für den ersten Tanz aus. Einige Stunden lang tanzte er und amüsierte sich großartig. Er sollte wirklich öfter eine Illusion ganz für sich allein erschaffen! Die Damen waren wunderschön und kokett. Ihr Benehmen und ihre Kleidung waren gleichermaßen offenherzig wie erregend. Die Luft war geladen mit purer Sinnlichkeit und Jareth war nahezu berauscht davon. Er überlegte gerade, ob er seiner Tänzerin etwas mehr als nur einen Tanz schenken sollte, als sein Blick unwiderstehlich von einer der Standuhren angezogen wurden. Sie zeigte kurz vor Mitternacht an. Mitten in der Bewegung blieb er wie erstarrt stehen. Mitternacht! Und Sarah hatte niemanden, um küssend das neue Jahr zu beginnen. Tiefe Melancholie erfaßte ihn und sein Blick schweifte desillusioniert über sein Ballarrangement. Die Damen erschienen ihm mit einem Mal nicht mehr begehrenswert, sondern vulgär. Die Atmosphäre war nicht mehr erregend sondern nur noch abstoßend. Er selbst fühlte sich nicht mehr berauscht, sein Verhalten erschien ihm plötzlich unglaublich obszön.
Entsetzt sah er sich alles noch einmal ganz genau an. Ein ungeahntes Ekelgefühl ergriff Besitz von ihm und er floh. Durch seine Flucht zerstörte sich die Illusion von selbst und ließ bei Jareth, der deprimiert auf seinem Bett saß lediglich ein schlechtes Gewissen und einen bitteren Geschmack im Mund. Aus dieser Stimmung heraus verwandelte er sich in eine Eule um Sarah aufzusuchen und sie wenigstens um Mitternacht zu sehen, wenn er sie schon nicht küssen konnte. Sie sollte wissen, daß er immer für sie da war!
Nachdem er von seinem mißglückten Besuch bei Sarah wieder in seinem Schlafzimmer angelangt war, fühlte er sich keinen Deut besser als vorher, eher noch deprimierter -wenn das überhaupt möglich sein konnte.... Und dennoch... etwas hatte ihn merkwürdig aufgewühlt. Nachdenklich löschte er alle Kerzen bis auf eine und fing an, sich zu entkleiden. Seine Handschuhe und seine Stiefel warf er unachtsam auf einen Stuhl. Er war nun froh, daß er die Handschuhe angezogen hatte, um nichts in der Welt hätte er etwas auf dem Ball mit bloßen Händen berühren wollen. Er fühlte sich auch so schon ziemlich schmutzig. Um die enge Hose besser abstreifen zu können setzte er sich auf sein Bett. Merkwürdigerweise lief ihm ein Schauer über den Rücken, als seine Finger dabei die Haut an seinen Beinen berührte. Er warf auch die Hose auf den Stuhl und machte sich daran sein Hemd aufzuknöpfen. Verwirrt stellte er fest, daß seine Hände zitterten. Er ließ sie in seinen Schoß fallen und atmete tief durch um sich wieder zu beruhigen. Doch das Gegenteil war der Fall. Unwillkürlich dachte er an seinen fatalen Ball zurück und spürte, daß ihn die sinnliche Atmosphäre noch nicht losgelassen hatte. Seine Handflächen kribbelten, sein Atem ging unmerklich rascher und ihm war warm geworden. Jareth hatte sich in seinem Leben noch nie wirklich mit körperlicher Liebe und Erotik auseinandersetzen müssen, daher wußte er nicht, wie er die Empfindungen, die so plötzlich auf ihn einströmten, einzuschätzen hatte. Sinnliche Erfahrungen hatte er - allerdings in sehr milder Form - nur auf seinen Bällen gemacht, doch dies hatte bei ihm lediglich ein sanftes Kribbeln oder einen leichten Schauer ausgelöst, doch keineswegs die Wünsche, die jetzt gerade vor seinem geistigen Auge entstanden. Sarah - wie sie in der Nacht ihres Geburtstages vor ihm gestanden hatte, in diesem Nachthemd, das mehr enthüllte, als verbarg und sie dennoch nicht verdorben wirken ließ, sondern immer noch süß und rein... Jareths Verlangen nach ihr wurde übermächtig. Unter seinem Hemd fühlte er nach seiner Brust um seinen Herzschlag zu kontrollieren. Doch diese Berührung beruhigte ihn nicht, sondern stachelte sein Verlangen noch mehr an. Zwischen seinen Beinen spürte er ein Ziehen, das schmerzhaft und köstlich zugleich war. Wie betäubt ließ er sich auf sein Bett fallen. Diesmal konnte er der Versuchung nicht widerstehen... Mit bebenden Fingern knöpfte er sein Hemd auf und legte beide Hände auf seinen Oberkörper. Langsam führte er sie über seinen Körper. Seine Erregung nahm stetig zu und jede kleinste Berührung ließ ihn vor Wonne seufzen, bis er es schließlich nicht mehr aushielt und seine Finger automatisch tiefer wanderten, an das Zentrum seiner Lust, wo sich augenblicklich alle Empfindungen zu konzentrieren schienen. Er wußte kaum, was er da eigentlich tat, doch das störte ihn nicht ihm geringsten. Alles ihn ihm drängte sich nach einer Entladung und als sein Verlangen den Höhepunkt erreicht hatte - kurz bevor er glaubte vor Erregung den Verstand zu verlieren - stöhnte er auf und etwas in ihm explodierte. Dunkle Mattigkeit senkte sich über ihn und immer noch heftig atmend sank er in die Kissen zurück. Eine tiefe Befriedigung erfüllte ihn bis in die Zehenspitzen. Und doch... etwas fehlte...eine kleine Leere nistete sich in seinem Inneren ein. Nachdenklich fiel sein Blick auf Sarahs Portrait und plötzlich kam ihm die Erkenntnis. Er hätte es nicht allein tun sollen. Er hätte es mit Sarah tun sollen, mit der Frau die er liebte! Auf einmal schämte er sich seiner Tat, die ihn doch mit soviel Lust erfüllt hatte. Andererseits war ein solch erregendes Spiel gemeinsam mit Sarah reines Wunschdenken. Es würde wahrscheinlich nie dazu kommen. Hin- und hergerissen zwischen Befriedigung und Verzweiflung schlief er schließlich erschöpft ein.
Am Neujahrstag blieb Sarah noch bei ihren Eltern, konnte es aber nicht mehr erwarten wieder nach Phoenix zu kommen. Nachmittags packte sie ihre Koffer und wirkte dabei so ruhelos, daß ihre Eltern es nicht übers Herz brachten, sie aufzuhalten. Und so fuhr Sarah schon drei Tage früher als geplant nach Phoenix zurück. Ihre Eltern winkten ihr noch nach, als sie die Auffahrt hinausfuhr und auf die Straße einbog.
"Wir müssen uns damit abfinden. Sie ist kein kleines Mädchen mehr", sagte ihre Mutter.
"Nein, das ist sie wirklich nicht mehr", bestätigte ihr Vater.
Kapitel 19
In ihrer Wohnung angekommen hatte Sarah nichts eiligeres zu tun, als sofort mit Jareth zu sprechen.
"Jareth! Jareth, wo steckst du?!"
"Du bist schon zurück?"
"Ja." Sagte sie schlicht und schwieg dann. Unter dem Druck ihrer Augen sah sich Jareth gezwungen ihr etwas zu erklären.
"Was ich getan habe, ist unverzeihlich."
"Warum hast du es dann getan?" Sie wurde allmählich wütend.
"Ich habe dich schrecklich vermißt. Aber ich wollte dir wirklich nicht weh tun."
"Du weißt, daß ich geweint habe?" fragte sie schnell.
"Die Farbe deiner Aura hat es mir verraten."
"Das kannst du?" Sie war mehr als nur erstaunt. Das war ja fast schlimmer als Gedankenlesen.
"Ich sehe deine Aura nur, wenn sie sich sehr rasch verändert, oder bei starken Erregungszuständen." Er wußte nicht so recht, worauf dieses Gespräch noch hinauslaufen würde.
Sarah stand auf und lief vor dem Spiegel auf und ab. Jareth beobachtete sie schweigend und mit wachsender Unruhe. Abrupt blieb sie stehen und fixierte ihn.
"Jareth, sag mir eines: gibt es eine Möglichkeit, daß wir uns öfter treffen können?"
Er wußte genau, was sie damit meinte. Die Versuchung war groß, doch etwas hielt ihn davor zurück, ihr die ganze Wahrheit zu sagen.
"Es gibt keine Möglichkeit." Er log ohne rot zu werden.
Einige Sekunden lang hatte Sarah nach dieser Mitteilung geschwiegen. Ihr Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Ohne jede Vorwarnung brach dann der Sturm über Jareth herein.
"Das glaube ich nicht! Ich weigere mich das zu glauben! Du glaubst doch nicht im Ernst ich könnte bis zum nächsten Halloween auf dich warten! Verdammt!! Ich kann das nicht, und ich will das auch nicht! Ich bin eine Frau aus Fleisch und Blut!" Sie hatte sich so in Rage geschrien, daß sie kaum noch wußte was sie tat. Während ihres letzten Ausbruches hatte sie ihr Jeanshemd, das nur mit Druckknöpfen geschlossen wurde wütend aufgerissen und hatte so den Blick auf ihren Büstenhalter aus dunkelgrüner Spitze freigegeben.
Jareth konnte nicht anders: er mußte einfach hinsehen. Sein Blick hing wie gebannt an ihrem makellosen Körper. Mit einiger Verwirrung bemerkte Sarah seinen starren Blick und folgte ihm schließlich. Als sie sah, woran seine Augen so gespannt hingen, zog sie rasch ihr Jeanshemd wieder vor ihrem Oberkörper zusammen und setzte sich ernüchtert vor den Spiegel. Sie spürte, wie sie rot wurde und schämte sich, daß sie so die Beherrschung verloren hatte.
"Glaubst du denn ich wüßte das nicht?" sagte Jareth, nachdem er sich wieder von dem unerwarteten Anblick erholt hatte. "Glaubst du denn, ich begehre dich nicht auch? Hast du eine Vorstellung davon, wie oft ich an deine Geburtstagsnacht zurückdenke?" seine Stimme war sanft aber eindringlich. Er wünschte, sie würde ihn endlich wieder ansehen. Doch Sarah hielt den Kopf hartnäckig gesenkt.
"Es tut mir leid, Jareth. Aber ich kann nicht mehr so weiterleben."
Er biß sich auf die Lippen. Was er jetzt sagen mußte, waren die schwersten Worte seines Lebens. "Du weißt, daß ein Wort von dir genügt, und ich verschwinde aus deinem Leben."
Da hob Sarah ihm ihr sehr bleiches Gesicht wieder entgegen. "Du hast von Anfang an gewußt, daß es so enden würde, nicht wahr?"
Er nickte.
"Ich glaube, ich auch... aber ich wollte es nicht wahrhaben... Jareth, das kann es doch nicht schon gewesen sein! Doch nicht schon so bald!" Sie war völlig verzweifelt.
"Wenn du dich nicht dafür entscheiden kannst, bei mir zu leben, dann...." Es war sehr schwer für ihn, sich so stark zu geben. In Wirklichkeit hätte er sich viel lieber genauso benommen wie Sarah, doch das ging nicht. Wenigstens einer von ihnen mußte die Nerven behalten.
"Ich will nicht, daß es schon vorbei ist", jammerte sie kläglich. "Aber ich kann einfach nicht mit dir kommen. Ich kann nicht." sie zog ein Taschentuch heraus und weinte nun völlig hemmungslos.
"Scht, Sarah. Mein Elfchen. Nicht weinen. Es muß ja nicht vorbei sein. Wir können immer noch so weitermachen wie bisher." Tröstete er sie mit sanfter Stimme. Er war mehr als nur erleichtert, daß sie ihn nicht verlassen hatte.... noch nicht....
"Und es gibt wirklich keine andere Möglichkeit?" Ihre tränennassen Augen hingen an seinen Lippen.
Er würde sie nicht mehr belügen können. "Es gibt da schon etwas, aber es ist mit großen Schwierigkeiten verbunden. Es wäre nicht gut für uns beide." Über kurz oder lang würde sie ihn doch verlassen müssen. Er wollte daher nicht noch mehr in ihr Leben treten. Was sie mit ihren täglichen Gesprächen taten war sowieso schon zuviel des Guten.
Sarah hatte sich wieder halbwegs beruhigt und konnte ihm ruhig zuhören. Es war nicht sosehr das, was er ihr sagte - es war eher das, was seine Augen ihr mitteilten. Sie begriff, was er meinte. Und sie wußte, daß er recht hatte.
"Laß uns diese häßliche Szene vergessen, Jareth. Es tut mir sehr leid."
"Einige Aspekte dieser Szene werde ich wohl schwerlich vergessen können." Er grinste sie herausfordernd an.
"Schuft." schimpfte sie. Doch sie lächelte dabei.
Dieser Vorfall wurde von beiden tatsächlich nie wieder erwähnt, doch sie wußten, daß sich ihre Beziehung drastisch ändern würde. Die Frage war nur: wie lange konnte dieses zerbrechliche Gebilde in seiner derzeitigen Form noch durchhalten?
"You'll find someone true"
Kapitel 20
Etwas verspätet dachte sich Sarah noch einen Vorsatz fürs neue Jahr aus. Sie würde ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Genauso wie sie es gewohnt war, bevor Jareth so unvermittelt in ihr Leben getreten war. Sie war damit gar nicht schlecht gefahren. Auch wenn sie wahrscheinlich nie einen anderen Mann als Jareth lieben würde, so mußte sie sich doch einen anderen Mann suchen, mit dem sie leben konnte. Darauf und auf ihre versprochene Abteilungsleiterstelle würde sie nun all ihre Energie aufwenden.
Einer dieser Vorsätze verwirklichte sich schon wenige Tage später ohne ihr Zutun.
Ihr Vorgesetzer hatte sein Versprechen ihr gegenüber nicht vergessen und es im neuen Jahr ohne zu zögern in die Tat umgesetzt. Sarah bekam eine eigene, vorerst noch kleine, Abteilung, ein neues Büro und Tess als Assistentin. Ihr größter Triumph war allerdings die Yucca-Palme, die sie gleichzeitig mit ihrem neuen Büroschlüssel überreicht bekam. Nur besonders verdiente Mitarbeiter wurden mit einer Grünpflanze bedacht! Ihr Stern bei Amazing Advertising stieg unaufhaltsam immer höher!
Sie arbeitete weiter fleißig und vernachlässigte auch Jareth nicht, doch er spürte, daß er nicht mehr ihr einziger Lebensinhalt war. Er wußte nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Es war immerhin besser, ihr Freund zu sein, als ihr Ex-Liebhaber, aber es deprimierte ihn trotzdem. Er hatte auch kein Verlangen mehr, sich mit Hoggle oder Sir Dydimus abzugeben. Meistens trieb er sich ruhelos im ganze Schloß herum und schlug die Zeit tot. Wenn ihn die Kobolde mit ihrer fortgesetzten Unfähigkeit an den Rand des Wahnsinns brachten grübelte er manchmal auch über den Spruch des weisen Mannes nach, doch seine Überlegungen führten zu nichts, und so gab er auch bald diese halbherzigen Versuche auf.
In dieser Zeit verschwanden die blühenden Bäume wieder aus dem Labyrinth - unbemerkt und unbeweint.
Auch Sarahs zweiter Vorsatz erfüllte sich, ohne daß sie auch nur den kleinen Finger dafür gerührt hätte. Einige Wochen, nachdem sie ihr neues Büro bezogen hatte, meldete Tess einen Besucher über die Gegensprechanlage an.
"Mister Patrick O´Keefe ist jetzt da."
"Mister O´Keefe?"
"Du weißt doch, der Spitzel aus der Zentrale."
"Tess!"
"Na, stimmt es vielleicht nicht? Kann ich ihn reinbringen?"
"Ja, klar."
Tess öffnete die Tür und stellte den Besucher vor.
"Mister O´Keefe - Miss Williams."
Sarah sah von ihrer Arbeit auf.
"Meine Güte, Sie sehen ja wie ein Firey aus!" platzte es aus hier heraus.
Tess bog sich vor unterdrücktem Lachen und selbst O´Keefe schmunzelte. Sarah hingegen war es entsetzlich peinlich. Doch die feuerroten Haare ihres Besuchers hatten sie völlig aus dem Konzept gebracht. Sie ging um ihren Schreibtisch herum, um ihn zu begrüßen.
"Mister O´Keefe, es tut mir entsetzlich leid, bitte entschuldigen Sie meinen Ausbruch."
"Oh, es braucht Ihnen nicht leid zu tun. Mir werden überall die unglaublichsten Spitznamen angehängt. Firey ist davon noch der netteste. Ich denke, ich werde mich daran gewöhnen."
"Also Mister O´Keefe, ich denke..."
"Sagen Sie doch einfach Firey zu mir, Miss Williams", unterbrach er sie lächelnd.
"Gut, aber nur wenn Sie Sarah zu mir sagen", antwortete Sarah ohne nachzudenken.
"Sie legen ein ganz schönes Tempo vor, Sarah."
"Ich versuche nur mit Ihnen Schritt zu halten, Firey." Er war ihr entschieden sympathisch. Er war groß und muskulös, mit breiten Schultern und eleganten schmalen Hüften. Kurz: er war ein Mann wie von einem Playgirl-Kalender. Glücklicherweise bildete er sich nichts darauf ein. Sein Verhalten war keinesfalls schmierig oder aufdringlich. Er war perfekt. Bis auf seinen roten Haare. Doch die störten Sarah nicht im geringsten. Man würde abwarten müssen. Auf jeden Fall war dieser Firey einen Versuch wert!
Einige Stunden später kämpfte Sarah immer noch gegen den Kopierer, der den ganzen Nachmittag hartnäckig darauf bestanden hatte, die Unterlagen für die morgige Sitzung in Papierflieger zu verwandeln. Mittler weile brannte im Flur, wo sie inzwischen todmüde auf die fertigen Kopien wartete, nur noch die Notbeleuchtung und sie war auf diesem Stockwerk die einzige, die noch an der Arbeit war. Das monotone Surren des Kopierers machte sie schläfrig. Plötzlich tippte ihr jemand auf die Schulter. Mit einem Schlag hellwach, und einem Herzinfarkt gefährlich nahe, wirbelte sie herum und erkannte in der nächtlichen Gestalt Firey.
"Meine Güte, Firey! Was tun sie denn noch hier? Ich hätte mich fast zu Tode erschrocken!"
"Ich wollte Sie doch nur etwas fragen", verteidigte er sich. "Wenn ich allerdings geahnt hätte, daß Sie so schreckhaft sind..."
Mit einer Handbewegung schnitt Sie ihm das Wort ab. "Schon gut. Was wollten Sie mich fragen?"
"Haben Sie Lust auf Pizza?"
"Pizza?"
"Ja. Ich habe gegen das neue PC-Programm gekämpft, und dabei Hunger bekommen. Also habe ich eine Pizza bestellt. Gerade eben wurde sie nun geliefert, und da habe ich gesehen, daß Sie auch noch kämpfen - äh - arbeiten. Da wollte ich Sie nur fragen, ob ich Sie zu einer halben Pizza einladen darf."
"Pizza." Sehnsüchtig schloß Sarah die Augen. "Schon überredet." Sie hakte sich bei ihm ein. "Bei Ihnen oder bei mir?"
"Bei Ihnen. Ihr Büro hat immerhin zwei Stühle. Hoffentlich schmeckt Ihnen auch, was ich bestellt habe: extra Käse und Salami."
"Mit Zwiebeln?"
Er nickte bestätigend.
"Genauso, wie ich sie mag", hauchte sie glücklich.
Er lächelte hintergründig. "Ist das nicht merkwürdig...."
Als von der Pizza nur noch der fettige Pappkarton übrig war, lehnte sich Sarah zufrieden in Ihrem Stuhl zurück und musterte Firey aufmerksam, der diesen Check wortlos über sich ergehen ließ.
"O.K., Firey, was wollen Sie von mir? Ich habe die Bestechungspizza angenommen, jetzt sind Sie an der Reihe", forderte sie ihn auf.
"Ihre Offenheit gefällt mir", er lächelte und fuhr nach einer kurzen Pause fort: "Ich will wissen, was in dieser Firma über mich geredet wird."
Sarah hob eine Augenbraue.
"Die offizielle Version oder den Kaffemaschinen-Tratsch?"
"Den Tratsch bitte. Und lassen Sie nichts aus."
"Also schön, aber sagen Sie hinterher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt."
Sie legte die Fingerspitzen aneinander und überlegte kurz. "Also, wollen mal sehen... Zunächst hält man Sie allgemein für einen Spitzel der Zentrale."
"Das weiß ich bereits."
"Darüber hinaus hält man sie für den kommenden Mann im Vorstand."
"Auch das war mir bekannt."
"Und? Stimmt es?"
Er nickte.
"Es wird auch über eine Affäre mit Ihnen und der Tochter des Firmengründers geredet."
"Der Firmengründer hat gar keine Tochter." Er grinste. Auch Sarah begann nun, an dieser Unterhaltung Ihren Spaß zu haben.
"Aber daß der Tipp-Ex-Verbrauch in der Chefetage sprunghaft ansteigt, jedesmal wenn Sie dort einen Termin haben, das wußten Sie bestimmt noch nicht." Der Schalk blitzte aus ihren Augen.
"Wieso das denn?" fragte er ehrlich verwirrt.
"Ist Ihnen denn noch nie aufgefallen, daß sogar die Chefsekretärin den obersten Knopf ihrer Bluse offen hat, wenn Sie da sind?"
"Nein! Aber was soll das denn alles?"
"Oh, Firey. Sie enttäuschen mich. Bei Ihrem Knack... äh... bei Ihrer Figur bekommen alle Frauen in diesem Gebäude Herzflattern, wenn sie nur Ihr Aftershave auf dem Flur riechen."
"Tatsächlich?" Er war völlig perplex.
"Ja, klar!"
"Sie auch, Sarah?"
"Nein, ich nicht", antwortete sie ohne zu zögern.
Er sah sie nachdenklich an. " Sie sind eine bemerkenswerte Frau."
Dabei hätte man es bewenden lassen könne. Sarah hätte ihm nochmals artig für die Einladung gedankt, und ihn dann seine Wege geschickt. Doch ein kleiner Teufel, irgendwo hinter ihren Ohrringen hörte nicht auf, sie zu piesacken, so nahm sie statt dessen das äußerst ungehörige Gespräch wieder auf.
"Vertrauen gegen Vertrauen. Ich habe Ihnen erzählt, war über Sie getratscht wird, jetzt will ich von Ihnen wissen, was man sich so über mich erzählt."
Er war ihr einen schnellen Blick zu und antwortete dann prompt.
"Man hält Sie allgemein für eine Sternschnuppe, die wie aus heiterem Himmel in den Schoß dieser Firma gefallen ist und die seither unaufhaltsam ihre Bahn am Karrierehimmel zieht. Außerdem hat man mir gesagt, Sie wären außerordentlich schön, hinreißend charmant und geradezu unverschämt intelligent. Man würde Ihnen nur zu gern eine Affäre mit der Chefetage anhängen, aber man kann sich leider auf keinen Namen einigen. Und das erstaunlichste: Sie haben keine Neider!"
Unwillkürlich mußte sie lachen. "Firey, ich weiß zwar nicht, warum... aber ich mag Sie."
"Sie werden es noch einmal weit bringen, Sarah."
Sie versteifte sich in ihrem Stuhl und sagte kalt: "Ich habe das nicht aus Berechnung gesagt. Wenn Sie es aber so auffassen, nehme ich meine Äußerung wieder zurück."
"Das weiß ich doch. Aber es ist nun mal so, daß ich Sie auch mag. Ich habe noch nie eine Frau getroffen, die sich für Zwiebeln auf ihrer Pizza begeistern konnte. Darf ich Sie wiedersehen?"
"Oh, aber natürlich! Morgen früh um neun Uhr zur Abteilungssitzung."
Sarah gab weder Ihre Gespräche mit Jareth auf, noch entmutigte sie Firey in seinen Annäherungsversuchen. Unbelastet von einem schlechten Gewissen strebte sie einem Sommer in Arizona entgegen, der heißer zu werden versprach als die Hölle.
Kapitel 21
Jareth hatte die Veränderung an Sarah fast sofort bemerkt. Natürlich hatte sie ihm nicht gesagt, daß es einen anderen Mann in ihrem Leben gab. Er hatte im Gegenteil sogar das Gefühl, daß sie peinlich genau darauf achtete, sich nicht zu verraten. Der einzige Lichtblick der Jareth vor dem totalen Absturz rettete, war die Tatsache, daß Sarah nicht wirklich glücklich zu sein schien. Sie wirkte auf ihn zwar entspannt, gelassen, manchmal sogar fröhlich, aber nie gab sie sich so, wie eine Frau, die den Mann ihres Lebens getroffen hatte. Er hätte sie liebend gern danach gefragt, doch er war schlichtweg zu feige dazu. Er fürchtete sich vor ihrer möglichen Antwort. Damit sie nicht bemerken sollte, wie er jeden Tag mehr um Gleichmut und Fassung zu ringen hatte, wenn er sie sah, hatte er sich angewöhnt, jeden Abend ein oder zwei Glas Wein zu trinken. Es beruhigte seine Nerven. Mit der Zeit wurde aus dem einen Glas eine ganze Flasche Wein und ohne es wirklich zu bemerken, stieg er schließlich auf Brandy um. Da er an Alkohol ziemliche Mengen vertrug, ohne wirklich betrunken zu werden, fiel Sarah, die ohnehin mit ihren eigenen Angelegenheiten genug zu tun hatte, nie etwas auf.
Sarah mußte zum Beispiel peinlich genau darauf achten, mit Firey keine Verabredung für den Abend zu treffen, die zwangsläufig mit ihrem täglichen Termin mit Jareth kollidiert wäre. So überredete sie ihn stattdessen zu jeder Menge Tagesaktivitäten. Sie ging mit ihm joggen oder schwimmen, radfahren oder Eis essen und die Gerüchteküche bei Amazing Advertising kochte fast über. Sarah war sich ziemlich sicher, daß Firey bis über beide Ohren in sie verliebt war. Für sich selbst mußte sie diese Frage leider mit Nein beantworten. Sie mochte ihn zwar schrecklich gern, aber lieben würde sie immer nur Jareth. Trotzdem wollte sie es mit Firey unbedingt versuchen. Sie war sich sicher, daß eine Ehe mit ihm denkbar angenehm werden würde. Was ihr dazu an Liebe fehlte füllte sie mit Entschlossenheit auf.
Das Frühjahr war mittlerweile heftig und unvermittelt über Phoenix hereingebrochen und Sarah joggte mit Firey an einem sonnigen Samstagmorgen durch einen Park, der mit seinem frischen Grün geradezu protzte. Bei ihren anschließenden Dehnungsübungen an ihrer bevorzugten Parkbank griff Firey, immer noch leicht keuchend, ein Thema auf, das ihn schon eine ganze Weile beschäftigte.
"Ich wünschte, Sie würden mir mehr von sich erzählen - bevor Sie zu Amazing kamen."
"Solche Fragen kommen bei Amazing gar nicht gut an", konterte Sarah gelassen.
"Es werden doch nicht alle Angestellten etwas zu verbergen haben?"
"Ich würde eher sagen, das Gegenteil ist der Fall. Tess hat es mir am Anfang erklärt. Unsere Lebensläufe zeichnen sich allesamt durch einen gähnende Langeweile aus. Sonst wären wir alle nicht hier. Und über langweilige Dinge spricht man nicht. Erzählen Sie mir lieber etwas über sich! Warum um alles in der Welt liegen Sie eigentlich noch nicht an der Kette?"
"An der Kette?" Ab und zu kam er mit ihrer flapsigen Ausdrucksweise einfach nicht klar.
"Warum Sie noch nicht verheiratet sind?" übersetzte Sarah geduldig.
"Meine Verlobte starb an Leukämie. Das ist jetzt über fünf Jahre her." Er schwieg und sah Sarah abwartend an.
Sie setzte sich neben ihn auf die Bank und sagte leise: "Einen geliebten Menschen zu verlieren..."
"Danke."
"Wofür?"
"Dafür, daß Sie nicht so etwas albernes gesagt haben wie: das tut mir aber leid, oder: Wenn ich das gewußt hätte..."
Sie lächelte. "Was haben Sie dann getan?"
"Du liebe Güte, Sie sind aber hartnäckig! Wonach sieht es denn aus? Ich habe mich natürlich voll auf meine Karriere gestürzt."
"Und wohin hat es Sie gebracht?"
Seine Stimme wurde dunkel und seine Augen leuchteten mit einem sanften Feuer als er sagte: "Es hat mich zu dir gebracht."
Diese Eröffnung traf Sarah wie ein Schlag. Sie hätte zwar darauf gefaßt sein müssen, eigentlich hatte sie stündlich seine Liebeserklärung erwartet, aber die Realität hatte sie trotz allem überrascht. Es war ihm zweifellos verdammt ernst mit ihr. Einen Wimpernschlag lang hatte sie eindeutig ein schlechtes Gewissen, doch in der nächsten Sekunde hatte sie es bereits überwunden. Es ging hier schließlich um ihre Zukunft. Da konnte sie es sich nicht leisten zimperlich zu sein. Bevor sie noch Gelegenheit zu einer Erwiderung hatte, sprach er weiter.
"Ich habe damals geglaubt, ich würde nie wieder eine Frau finden, für die ich etwas anderes als Freundschaft empfinden könnte. Mein Leben war erfüllt mit freundlicher Gleichförmigkeit. Mehr hatte ich mir nicht mehr erwartet. Doch dann habe ich dich getroffen und seither hat mein Leben wieder Farbe bekommen." Er legte den Arm um sie und küßte sie leicht auf die Schläfe.
"Ich habe dich auch sehr gern, Firey. Aber es wäre besser, wenn wir es langsam angehen würden."
Er war einverstanden und sie war sehr froh darüber. Bei seinem Kuß waren ihre Zweifel um ein vielfaches verstärkt wieder zurückgekommen - sie hatte nicht das geringste dabei empfunden!
Bei Amazing Advertising blieb es natürlich nicht unbemerkt, daß Sarah und Firey zum vertrauteren "Du" übergegangen waren und die Spekulationen nahmen entsprechend zu. Sarah konnte Firey nun auch wohl oder übel nicht länger auf Distanz halten, nachdem sie ihm ihre Zuneigung eingestanden hatte. Im Büro mußten sich beide entsprechend zurückhalten, doch Sarah war trotzdem dankbar, daß Firey keiner von der stürmischen Sorte war. Tatsächlich war an seinem Benehmen nichts auszusetzen. Er war immer höflich und zuvorkommend. Nie drängte er sie zu etwas und nur in seinen Augen stand seine große Liebe zu ihr überdeutlich. Sarah war sich immer noch unsicher, was sie mit Firey eigentlich anfangen sollte. Sorgfältig vermied sie das Thema Verlobung und Hochzeit, denn bei dem kleinsten Wink von ihr - da war sie sich sicher - stünde er mit ihr garantiert schon vor einem Friedensrichter in Las Vegas. Sie gingen nun auch ab und zu abends miteinander aus und Sarah hatte das Schlimmste und Schwerste in ihrem Leben tun müssen: sie hatte Jareth angelogen.
Die Erinnerung an ihre erste Lüge brannte in ihr noch so frisch wie am ersten Tag. Die Zeit verwischte nicht die kleinste Einzelheit davon. Sie hatte ihm etwas von Überstunden und einem neuen Projekt erzählt, und daß sie voraussichtlich in den nächsten Monaten nicht rechtzeitig zu Hause sein würde. Er hatte ihr so völlig ohne Gefühlsregung zugehört, daß sie schon befürchtete, er habe sie durchschaut, und dies war nur die Ruhe vor dem Sturm. Doch bei Jareth hatte eine Flasche Brandy das ihrige dazugetan, daß er ruhig blieb, obwohl er vom ersten Moment an gemerkt hatte, daß sie log. So gab er ihr lediglich zu verstehen, daß sie sich nicht bei ihm entschuldigen müsse, ihre Arbeit wäre schließlich wichtig und sie solle sich deshalb nicht beunruhigen. Doch das war leichter gesagt als getan. Weit davon entfernt, nicht beunruhigt zu sein nahm ihre Beziehung zu Firey ihren Fortgang. Obwohl sie sich im Laufe der Wochen stetig näher gekommen waren und auch schon die ersten Küsse gewechselt hatten, empfand Sarah immer noch nicht mehr für ihn, als Freundschaft und echte Zuneigung, aber eben keine Liebe. Sie hatte gehofft, das Prickeln, das sie bereits bei Jareths bloßer Gegenwart gespürt hatte, würde sich mit steigender Vertrautheit und Intimität auch bei Firey einstellen, aber nichts davon geschah. Seine Küsse und Liebkosung ließen sie zwar nicht kalt, aber gleichgültig. Er entfachte in ihr nicht die Flamme der Leidenschaft, die bereits ein Blick aus Jareths Augen hoch in ihr auflodern ließ. Nichtsdestoweniger hatte sie sich dazu entschlossen einen Antrag von Firey anzunehmen, sobald er ihr einen machen würde. Sie würde Jareth und ihre Liebe zu ihm nie vergessen können, doch sie mußte realistisch sein und an ihre Zukunft denken. Sie würde nicht ewig die Kraft haben, ohne Gefährten durch diese Welt zu gehen. Dafür war sie nicht geschaffen.
Als im Sommer die Hitze in der Stadt kochte und sogar in vollklimatisierten Räumen nahezu unerträglich wurde, lud Firey sie ein, das Wochenende mit ihm in den Bergen zu verbringen.
"Du wirst sehen, es ist wunderschön dort."
"Firey, du sollst mir doch keine unsittlichen Anträge machen, wenn ich gerade wichtige Unterlagen kopiere", rügte ihn Sarah.
"Das ist jetzt nicht der Punkt."
"Nein, der Punkt ist vielmehr, woher du überhaupt weißt, daß es dort wunderschön ist, du warst doch noch niemals dort."
"Wenn ich dich erstmal da oben habe, weitab von allen anderen Menschen, dann Sarah, glaube mir, werde ich alles daran setzen um es für dich wunderschön zu machen." Sein Mund war sehr nahe an ihrem Ohr, als er dies zuflüsterte und sein anschließender, flüchtiger Kuß auf ihren Nacken jagte zum ersten Mal den Schatten eines Schauers über ihren Rücken. Diese ungewohnte Empfindung verunsicherte sie fast mehr, als sein geflüstertes Versprechen. So leidenschaftlich war er in ihrer Gegenwart noch nie gewesen. Sie ahnte nicht, daß dies Fireys letzter Versuch war, ihre Festung im Sturm zu erobern, bevor er sich geschworen hatte, die Flinte endgültig ins Korn zu werfen. Er hatte sich mit jeder Faser seiner Seele in Sarah verliebt. Hatte er anfangs Verständnis für ihr Zögern gehabt, zerriß es ihm nun fast das Herz. Sein einsamer Körper sehnte sich nach ihr. Dieses Wochenende in den Bergen war der letzte Köder, den er nach ihr auswerfen wollte. Wenn sie nicht mit ihm mitkommen würde, würde er die Stadt verlassen und versuchen, Sarah zu vergessen. Doch er wußte jetzt schon, daß das für ihn unmöglich sein würde. Sie hatte ihm nach seinem schweren Schicksalsschlag wieder neuen Lebensmut gegeben und seinen abgestumpften Körper wiedererweckt. Jetzt hieß es nur noch sie oder keine.
Sarah dachte fieberhaft nach. Zum ersten Mal wurde ihr seine körperliche Nähe tatsächlich bewußt. Instinktiv spürte sie, wenn sie diesmal ablehnte, würde es kein nächstes Mal mehr geben. Verflixt, was war nur mit ihr los! Hatte sie sich nicht geschworen, es wenigstens mit ihm zu versuchen? Hier war sie nun, die einmalige Gelegenheit. Immerhin hatte er ihr keinen Heiratsantrag gemacht. Was war schon dabei? Sie würden das Wochenende zusammen verbringen und danach konnte sie immer noch einen Rückzieher machen, wenn er sich als totaler Reinfall erwies. Doch aus irgendeinem Grund glaubte sie nicht daran, daß er ein totaler Reinfall sein könnte... vielleicht weil sie immer noch den sanften Druck seiner Lippen auf ihrem Nacken spürte, obwohl er schon lange nicht mehr hinter ihr stand. Sie sah von ihren Kopien auf und suchte seinen Blick.
"Ich würde gerne das Wochenende mit dir verbringen. Wann möchtest du mich abholen?"
"A crystal moon"
Kapitel 22
Die Fahrt zu dem kleinen Wochenendhäuschen hatte nur knapp vier Stunden gedauert. Sie waren Samstags zeitig aufgebrochen und so war es erst kurz nach Mittag, als sie an ihrem Ziel angelangt waren. Sarah mußte zugeben, daß es wirklich sehr schön war und so romantisch, daß es nahezu strafbar war. Das Häuschen lag auf einer großen Waldlichtung und von einem kleinen See strömte ihnen angenehm kühle Luft entgegen. Was war dagegen schon eine Klimaanlage! Erleichtert stieg Sarah aus dem Auto aus. Fast die ganze Fahrt über war ihr schlecht gewesen. Jedesmal wenn sie an ihr gestriges Gespräch mit Jareth dachte, wurde ihr übel. Und sie dachte verflixt oft daran, denn sie hatte ihm das unglaublichste Lügenmärchen aller Zeiten vorgetischt und er hatte es anstandslos hingenommen.
"Ich muß am Wochenende dringend nach Hause fahren, Jareth."
"Ist etwas passiert?"
"Ja, nein, ich weiß nicht. Meinem Dad geht es nicht gut." Ihre Blässe, hervorgerufen durch die ungewohnte Lügerei, verhalf ihrer Lüge kurioserweise zur nötigen Glaubwürdigkeit. Einen kurzen Moment lang glaubte Jareth ihr sogar. Doch dann bemerkte er eine Veränderung in der Farbe ihrer Aura und er wußte, daß er sie an diesem Wochenende an einen anderen Mann verlieren würde. Diese Erkenntnis traf ihn wie ein leichter Schock. Unfähig in irgendeiner Form darauf zu reagieren und von einer Flasche Brandy bereits leicht benebelt, sagte er schließlich nur das, was sie offensichtlich von ihm hören wollte.
"Das tut mir leid, Sarah. Du wirst morgen sicher früh los fahren wollen, dann gehst du am besten gleich zu Bett. Gute Nacht, Sarah." Er hatte sich schon halb abgewandt, da richtete er noch einmal seinen Blick auf sie. Sie trug noch immer seine Halskette.
Er schluckte trocken. "Du erzählst mir dann am Sonntag Abend, wie es war. Das tust du doch?"
Sarah war so damit beschäftigt, ihn glaubwürdig zu belügen, daß sie seine Verzweiflung nicht bemerkte. "Natürlich, Jareth. Gute Nacht."
Sogar jetzt wurde ihr noch ein kleines bißchen übel, wenn sie wieder daran zurück dachte. Doch Firey ließ ihr von diesem Moment an keine Zeit mehr, um in grüblerischen Gedanken zu versinken.
"Komm´ Sarah, trag deine Tasche ins Haus und dann gehen wir im See schwimmen."
"Oh ja, das ist eine wunderbare Idee, Firey."
Das Schwimmen artete sehr bald in eine zärtliche Planscherei aus, die nicht nur Firey sehr viel Vergnügen bereitete. Sarah dachte kaum noch an Jareth, wie könnte sie auch! War sie doch mit ihm nie in einer vergleichbaren Situation gewesen. Sie war zwar schon öfter mit Firey schwimmen gegangen, doch dort hatte sie nie ihre Hände so besitzergreifend über seinen breiten Rücken wandern lassen und er hatte auch nie so bewundernd seinen Arm um ihre Taille gelegt. Sie genoß das Zusammensein mit ihm wirklich. Er sah aber auch zu gut aus. Auf seiner muskulösen Brust sproß kein einziges Haar, sein Bauch war glatt und fest und sein Po schien wie gemacht für eine Slip-Reklame. Doch auch Firey hatte allen Grund mit seiner Begleiterin zufrieden zu sein. Ihr Nacken war anmutig geschwungen, ihre Taille war fast schon zierlich zu nennen, ihre Beine waren einfach atemberaubend und ihre Brüste waren fest und rund. Nach dem Schwimmen gingen sie noch im Wald spazieren, um sich vor dem Abendessen noch etwas Appetit zu holen, es wurde jedoch eher ein gemütliches Schlendern mit vielen verliebten Pausen, als ein ordentlicher Spaziergang. So kam es, daß Sarah die Hütte mit rosig überhauchten Wangen betrat, die sie noch um ein vielfaches reizvoller wirken liessen. Firey schwebte im siebten Himmel. Auf diese Idee hätte er schon viel früher kommen können. Er würde sich ernsthaft überlegen müssen, ob er seine Geliebte jemals wieder in die Stadt zurückbringen sollte, nicht daß sie sich wieder in jenes zurückhaltende Geschöpf verwandelte! Das Abendessen fiel in Form von Fertiggerichten aus der Mikrowelle etwas phantasielos aus, doch die flackernden Kerzen und Sarahs leuchtende Augen glichen diesen Mißton völlig aus. Sie waren sich beide völlig im klaren darüber, wozu sie hierhergefahren waren. Falsche Scham kam so gar nicht erst auf. Das Dessert blieb daher unbeachtet in der Küche stehen. Bei leiser Musik tanzten Sarah und Firey engumschlungen durch die kleine Hütte in Richtung Schlafzimmer. Sarah war mehr als bereit dazu, sich von ihm lieben zu lassen, doch bevor es richtig ernst wurde, mußte sie ihm unbedingt noch etwas sagen, auch auf die Gefahr hin, den Zauber der Stille zu brechen. Sie drehte ihren Kopf, der hingebungsvoll an seiner Schulter ruhte, in die andere Richtung und knabberte an seinem Ohrläppchen.
"Ich muß dir noch etwas sagen, Firey", flüsterte sie.
"Was denn, mein kleiner Liebling."
"Du wirst nachher auf unberührtes Gebiet treffen."
Er hörte für einen Augenblick auf zu tanzen und legte einen Finger unter ihr Kinn.
"Willst du damit sagen, daß du noch Jungfrau bist?"
"Ja... stört es dich sehr?"
"Nein, das ist es nicht. Es verblüfft mich nur." Er betrachtete sie. In seinen Augen stand ein sinnliches Glühen. "Mangel an Gelegenheit kann es nicht gewesen sein - bei so einer hinreißenden Frau."
"Nein, das war sicher nicht der Grund", erwiderte sie spöttisch, ihr Blick verschleierte sich, als sie fortfuhr: "Es war bis jetzt einfach noch nicht der Richtige dabei..."
Ein sanfter Kuß verschloß ihre Lippen. Sie spürte, wie eine angenehme Schwäche sie überkam und erwiderte den Kuß mit geöffneten Lippen und spielerischen Zungenschlägen. Seine Küsse wurden durch ihre Bereitwilligkeit immer fordernder, seine Zunge drängender und Sarah genoß jede einzelne Sekunde. Während sein Mund ihren Hals hinabwanderte, eine schmale Spur von kleinen, feuchten Liebesbissen hinterlassend, knöpften ihre zitternden Finger sein Hemd auf. Sie standen immer noch im Flur vor dem Schlafzimmer, doch das Feuer, das in ihnen brannte, ließ das bequeme Bett plötzlich nebensächlich erscheinen. Sein Atem ging stoßweise, während er sie beobachtete, wie sie ihre Bluse auszog. Sie warf ihm unter den Wimpern eine lasziven Blick zu und öffnete auch noch die Haken ihres BH´s. Nach einigen weiteren hastigen Handgriffen lagen alle restlichen Kleidungsstücke verstreut auf dem Fußboden und Sarah und Firey hatten schließlich doch noch den Weg ins Schlafzimmer hinein gefunden. Sie lagen auf dem Bett, wo plötzlich alle Hast von ihnen abgefallen war. Seine Hände und Lippen wanderten über ihren ganzen Körper und seine Zärtlichkeiten weckten in ihr ein nahezu tierisches Verlangen nach ihm. Sie sehnte sich nach seinem Körper und bog sich ihm entgegen. Fireys Begierde nach ihr wuchs ebenfalls mit jeder Berührung, doch er nahm sich Zeit. Er wollte, daß sie völlig bereit war für ihn und ihr erstes Mal. Seine Finger suchten sich einen Weg zwischen ihren Schenkeln und sie stöhnte wollüstig auf. Für den Hauch eines Augenblicks dachte sie dabei an Jareth um ihn sofort wieder zu vergessen - zu übermächtig war Fireys Gegenwart. Doch dieser Augenblick hatte genügt, um für den Bruchteil einer Sekunde einen überirdischen Glanz auf ihr Gesicht zu zaubern. Das Leuchten der wahren Liebe. Diese Veränderung war von Firey nicht unbemerkt geblieben. Er wußte, was es war und er wußte im selben schrecklichen Moment, daß es nicht ihm galt. Innerhalb eines Wimpernschlags lag sein Leben zum zweitenmal in Trümmern. Er seufzte tief und zog seine Hand zurück.
"Was - was ist los? Warum hörst du auf?" Ihre Augen starrten ihn fragend an.
"Wer immer der Kerl ist - er hat das große Los gezogen." Die Bitterkeit in seiner Stimme war unüberhörbar. Mit einem Schlag fiel alle Erregung von Sarah ab. Firey hatte erraten, daß sie einen anderen liebte. Ihr Geist arbeitete fieberhaft. Sie war ihm eine Erklärung schuldig. Nur Gott allein konnte wissen, wie sehr sie ihn damit verletzt hatte. Um Zeit zu gewinnen wickelte sie sich in ein Bettuch. Er lächelte resigniert und tat es ihr gleich.
"Du hast recht, Firey. Ich liebe einen anderen."
"Warum bist du dann nicht mit ihm zusammen? Liebt er dich etwa nicht?"
"Nein. Er liebt mich auch. Es sind unsere Lebensumstände. Sie sind viel zu verschieden. Ich müßte alles aufgeben, um bei ihm zu sein. Dazu fehlt mir leider Gottes der Mut." überwältigt von ihrer eigenen Misere versagte ihr die Stimme und sie schwieg. Doch Firey hatte sie bereits verstanden. Mit der Intuition eines Liebenden begriff er ihre Tragik.
"Ich weiß, was in dir vorgeht, Sarah. Doch ich kann in deinem Leben nicht die zweite Geige spielen. Aber wenn du eines Tages endlich von ihm losgekommen bist, dann werde ich für dich da sein."
"Du darfst nicht auf mich warten! Das verbiete ich dir!" rief sie wütend. Eine Träne glitzerte auf ihrer Wange.
"Keine Sorge. Ich werde nicht auf dich warten. Ich glaube nur nicht, daß mir jemals wieder eine Frau wie du über den Weg läuft. Ich liebe dich, Sarah."
"Oh, Firey", sie wischte sich die Tränen weg und bemühte sich um Fassung. "Ich habe dich wirklich sehr gern, aber..." sie stockte und sprach erst nach einer kurzen Pause weiter: "Kann ich heute nacht noch hierbleiben? Ich werde auf dem Sofa schlafen." Ihre Stimme klang wieder so nüchtern wie sonst. Bewundernd sah er sie an.
"Natürlich kannst du bleiben. Hast du gedacht, ich werfe dich mitten in der Nacht raus? Und auf dem Sofa schlafe ich. Du bleibst hier." Sie widersprach ihm nicht und er suchte sich noch ein Kissen und eine Decke zusammen. Bevor er den Raum verließ drehte er sich noch einmal zu ihr um.
"Danke."
"Wofür?" Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wofür er ihr dankbar sein konnte.
"Dafür, daß du nicht gesagt hast: wir können doch trotzdem Freunde sein...Es hätte nicht funktioniert."
"Ich weiß. Deshalb habe ich es ja auch nicht gesagt."
Sie hörte ihn leise lachen.
Kapitel 23
Am nächsten Morgen waren sie schweigend wieder in die Stadt zurückgefahren. Es war kein feindseliges Schweigen gewesen, sondern eine freundliche, heilsame Stille.
Er hatte sie nach Hause gefahren und ihr beim Abschiednehmen mitgeteilt, daß er sich gleich am Montag in eine andere Abteilung und dann in eine andere Stadt versetzen lassen würde. Er versprach ihr, nicht auffällig vorzugehen und sie war einverstanden. Innerlich leer betrat sie ihre Wohnung. Sie mußte Jareth alles erzählen. Sie war es ihm schuldig.
Mit verkrampften Händen und angstvoll klopfendem Herzen nahm sie vor ihrem Spiegel Platz und rief nach dem Mann, den sie wirklich liebte. Wie er allerdings auf ihre Eröffnung reagieren würde, war nicht abzusehen. Während sein Bild in ihrem Spiegel immer klarer wurde, erinnerte sie sich flüchtig an die Furcht, die er ihr bei ihrem allerersten Treffen eingeflößt hatte. Doch diese Erinnerung trug nicht dazu bei, sie zu beruhigen - im Gegenteil. In diesem Augenblick wirkte er jedoch eher überrascht, als wütend.
"Sarah, du bist schon zurück? Ich hatte dich nicht so früh erwartet."
Sie nahm ihr letztes bißchen Mut zusammen und fing an, ihm die Wahrheit zu beichten. "Ich muß dir etwas sagen, Jareth. Ich war dieses Wochenende nicht bei meinen Eltern, meinem Vater geht es auch nicht schlecht. Ich bin dieses Wochenende mit einem anderen Mann fortgewesen." Jetzt war es heraus. Sie hatte nicht gewagt, ihn anzusehen, doch als jetzt immer noch alles still war, blinzelte sie unter den Wimper hervor. Sein Gesichtsausdruck war noch genauso unbewegt wie zuvor. Lediglich seine Wangen erschienen ihr ein klein wenig blasser, doch das konnte genausogut an dem fahlen Licht liegen, das sein Zimmer unwirklich erhellte. Sie atmete tief durch. "Aber es ist nichts passiert." Forschend betrachtete sie ihn. Seine Ruhe war ihr unheimlicher, als ein wütender Schrei. Lediglich seine Wangen hatten wieder eine zartere Färbung angenommen. Sarah ahnte noch nicht, was sich hinter dieser äußeren Maske der Gelassenheit verbarg. Jareth bot seinen ganzen Willen auf, um den in ihm tobenden Sturm unter Kontrolle zu halten. Ihre ersten Worte hatten wie mit eisigen Klauen nach seinem Herzen gegriffen. Die darauffolgende Erleichterung hatte ihm nahezu Flügel verliehen, ihre schuldbewußte Haltung hingegen brachte ihn nach und nach auf den Boden der Tatsachen zurück. Er seufzte. Es war wieder einmal an ihm, die Vernunft sprechen zu lassen. Bevor er noch etwas sagen konnte, hielt Sarah das Schweigen nicht länger aus.
"Wie kannst du nur so ruhig dasitzen! Ich erzähle dir gerade, daß ich drauf und dran war, dich mit einem anderen Mann zu betrügen und alles was du tust, ist einfach dazusitzen und mich anzustarren, als wäre ich ein - ein...." verärgert suchte sie nach Worten, die stark genug waren, um ihre seelische Verwirrung auszudrücken.
"...ein besonders interessantes Insekt?" half Jareth ihr heimlich amüsiert aus.
Sarah blieb vor lauter Überraschung der Mund offen stehen. Jareth ergriff diese Chance und fuhr mit sanfter Stimme fort. "Auch ich habe dir einiges zu sagen. Ich hätte dir deine Beichte erleichtern können. Ich habe es nämlich gewußt. Es ist nur so, ich wollte es unbedingt von dir selbst hören."
"Du hast es gewußt?"
"Ja, die ganze Zeit über."
"Aber - aber woher? War es meine Aura? War es das?"
"Nicht unbedingt. Ich hätte es auch aus der Farbe deiner Aura lesen können, doch ich wußte es aus einem anderen Grund. Es war viel zu offensichtlich, als daß ich es hätte übersehen könne. Du lügst so verdammt schlecht, Sarah."
"Du wußtest es von Anfang an?" Sarah war fassungslos. "Ich hätte nie gedacht... du warst die ganze Zeit über so ruhig..."
"Schreibe das lieber nicht meinem edlen Charakter zu", seine Stimme troff vor Ironie. "Für die Gelassenheit war mein Freund, Mr. Brandy, zuständig." Mit einer lässigen Handbewegung rückte er die halbleere Flasche in ihr Blickfeld.
"Du hast getrunken?" fragte sie ungläubig. "Meinetwegen?"
"Ja, auch deinetwegen", gab er unwillig zu. "Ich wollte uns das Schauspiel ersparen, das ich ohne Alkohol sicherlich geboten hätte."
"Bist du auch jetzt..." lächerlicherweise wich sie vor ihm zurück.
"Betrunken?" vollendete er ihre Frage. "Nein, noch nicht. Ich vertrage eine ganze Menge. Erinnere dich, daß ich vorhin gesagt habe, ich hätte dich noch nicht so früh zurück erwartet. Ich habe gerade erst angefangen zu trinken."
"Oh, Jareth! Warum hast du mich nicht zurückgehalten! Ein Wort von dir hätte genügt." Ihre eigene Dummheit und Kurzsichtigkeit quälten sie.
Er sah sie lange an. So lange, bis sie den Blick unter seinen brennenden Augen senkte. "Ich weiß, daß ein Wort, ein Blick von mir genügt hätten, um dich zurückzuhalten. Aber welches Recht hätte ich dazu gehabt? Ich bin nicht dein Vater, Bruder, Onkel oder sonst ein Verwandter. Ich bin nicht dein Mann, dein Verlobter oder dein Liebhaber. Ich bin nur so ein Kerl, mit dem du dich ab und zu triffst. Welches gottverdammte Recht hätte ich also gehabt?" Seine Worte prasselten wie Hagelschauer auf sie hernieder, doch sie nahm es hin. Er hatte ja so recht. Sein Puls hatte sich während seiner Rede beschleunigt und er atmete ein paarmal tief durch, um sich wieder zu beruhigen. Er hatte nicht so hart gegen sie sein wollen. "Sieh mal, Sarah", sie sah zu ihm auf, denn seine Stimme hatte wieder den seidenweichen Klang, den sie so an ihm liebte. "Sieh mal. Ich wußte, daß es früher oder später passieren würde. Ich mußte dich diese Erfahrung machen lassen. Und ich denke, es wird irgendwann wieder passieren."
"Aber es ist doch gar nichts passiert", flüsterte sie ihm zu.
"Warum eigentlich nicht?" Die Frage war schneller heraus, als er nachdenken konnte. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie ihm statt einer Antwort eine Flut wüster Beschimpfungen zuteil werden ließ. Stattdessen zögerte Sarah nur kurz und beantwortete dann seine Frage.
"Es hat keinen Sinn, irgend etwas davon zu verschweigen. Ich hätte es getan. Ich war wirklich dazu bereit... nur, im entscheidenden Augenblick dachte ich an dich - und er hat es gemerkt. Von da an hat er sich wie ein Gentleman verhalten."
"Er hat es gemerkt? Dann muß er dich sehr lieben..."
"Ja, das tut er. Leider Gottes. Aber ich liebe ihn nun mal nicht."
"Warum nicht? Ist er nicht attraktiv oder nicht charmant genug?"
Sarah lächelte leicht, aber sie schüttelte den Kopf. "Doch, das ist er alles und noch viel mehr - aber ich liebe ihn trotzdem nicht. Ich liebe dich."
Bei dieser schlichten Erklärung wurde Jareths Herz so leicht, daß er ihr noch eine Frage stellen wollte, die ihn schon lange bedrückte.
"Findest du mich eigentlich - attraktiv?"
Zuerst dachte Sarah, sie hätte ihn nicht richtig verstanden, doch dann merkte sie, daß es ihm mit dieser Frage bitter ernst war. Ihr wurde bewußt, daß sie es ihm nie gesagt hatte, wie sehr er ihr gefiel. Ihr Herz flog ihm zu, wie er dasaß und ängstlich auf ihre Antwort wartete und dabei seiner selbst so unsicher, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Ihr Blick und ihr Gesichtsausdruck wurden vor Zärtlichkeit sehr weich und weiblich. "Oh ja. Ich finde sogar, du bist attraktiver, als eigentlich erlaubt sein sollte."
Er lauschte vergebens auf einen spöttischen Unterton in ihrer Stimme und ein prüfender Blick auf ihre halb gesenkten Wimpern und ihre leicht geöffneten Lippen überzeugten ihn restlos von ihrer Ehrlichkeit. Er hielt ihren Blick fest, während er sich langsam sein Hemd aufknöpfte.
"Was tust du da?" fragte sie, ohne ihre Haltung zu verändern.
"Ich will wissen, ob dir alles an mir gefällt", flüsterte er mit heiserer Stimme. "Kleidung kann so viel verbergen." Es entging ihm nicht, daß sich Sarahs Brust rasch hob und senkte. Mit einer anmutigen Bewegung streifte er seine offenes Hemd von seiner linken Schulter. Die Wirkung seines teilweise entblößten Oberkörpers auf Sarah war verblüffend. Er hätte nie geahnt, welche Macht ihm dies über sie gab! Die Lippen immer noch leicht geöffnet, die Wangen gerötet, hingen ihre Blicke wie gebannt an seinem Körper. Nur mit größter Willensanstrengung gelang es ihr, zu sprechen. "Du solltest das lieber nicht tun, Jareth." Ihre Stimme klang leicht atemlos.
"Warum nicht?" hauchte er zurück. "Gefällt dir nicht, was du siehst?"
"Im Gegenteil... es macht mich sogar verdammt heiß..." Ihre Stimme vibrierte vor unterdrückter Erregung. Jareths Verlangen bekam durch ihre Worte neue Nahrung und er streifte sein Hemd mit quälender Langsamkeit von seinem schlanken, muskulösen Oberkörper. In Sarahs Schoß breitete sich nun eine ihr allzu bekannte Hitze aus. Ihre Hände gehorchten ihr nicht mehr und wie im Rausch folgte sie Jareths Bitte, sie möge doch auch ihre Bluse ausziehen. Ihr BH aus schwarzer Spitze unterstrich die Makellosigkeit ihrer hellen Haut, ihr Medaillon glitzerte geheimnisvoll auf ihrem Dekolleté, während ihre Hände spielerisch über ihren Körper glitten. Auch Jareth war bei ihrem Anblick nicht mehr Herr seiner Sinne. Wie sie vor ihm saß, erregt seinen Namen flüsternd, bot ihm ein sinnliches Schauspiel, das er nie vergessen würde. Sarah war durch seine Gegenwart nicht minder aufgepeitscht. Seufzend ließ sie ihre Hände an ihren Schenkeln entlang streicheln, bis sie die Spannung nicht mehr ertrug. "Oh, Jareth! Warum bist du nicht hier bei mir!" Ihr ekstatischer Ausruf brachte beide mit einem Ruck in die Realität zurück, die ihnen nahezu gleichzeitig die Absurdität ihres Handelns vor Augen führte. Sarahs Augen füllten sich mit Tränen und sie brach schluchzend auf ihrer Frisierkommode zusammen. Ernüchtert und unfähig sie zu trösten, sah Jareth ihr zu.
"Ich kann einfach nicht bis Halloween auf dich warten", stieß sie zwischen zwei Schluchzern hervor. "Ich kann nicht und ich will auch nicht. Ich brauche dich hier bei mir. Sag´ mir um Himmels Willen, wie ich dich hierher holen kann! Es ist mir egal, ob es dabei Probleme geben kann!"
Jareth seufzte. Nun würde er sich nicht mehr herauswinden können. Jetzt war es an ihm, ihr reinen Wein einzuschenken. Er wartete geduldig, bis sie nur noch gelegentlich schnüffelte und ergriff dann das Wort. "Wenn du mir ruhig zuhörst, ohne mich zu unterbrechen, werde ich es dir erklären." Sie nickte deprimiert und er fuhr fort: "Es gibt eine Zauberformel, die es mir möglich macht, dein Reich zu betreten. Diese Formel müßte von dir ausgesprochen werden, wobei dein Reich in diesem Fall deine jeweiliger Aufenthaltsort wäre - also deine Wohnung... Sarah, unterbrich mich bitte nicht. Die Sache hat nämlich einen Haken. Wendest du diese Formel auch nur ein einziges Mal an, so gilt sie für alle Zeiten! Du gewährst mir damit unbeschränkten Zutritt. Ich könnte also kommen und gehen, wie ich wollte. Ich müßte dann nicht mehr warten, bis du mich rufst. Selbst durch einen Wohnungswechsel könntest du mir nicht mehr entkommen." Er sprach eindringlich, denn er wollte, daß sie nichts von alledem auf die leichte Schulter nahm. "Das mag dir im Moment nicht besonders schlimm vorkommen - ich brauche dir nicht erst zu versichern, daß ich diese Möglichkeit nicht ausnützen würde - doch wie sieht die Situation in fünf Jahren aus... oder in zehn? Vielleicht findest du doch noch einen Mann den du liebst. Wie willst du ihm erklären, daß in eurem Haushalt der Koboldkönig ungehindert ein- und ausgehen kann?" Er lehnte sich zurück, sein Blick glitt über ihren halbnackten Körper und er verspürte wieder ein leichtes Prickeln während er auf eine Reaktion von ihr wartete.
Sie dachte gründlich über das nach, was er ihr soeben gesagt hatte.
"Ich verstehe." Erwiderte sie schließlich.
"Gut. Die Zeit der Heimlichkeiten ist endgültig vorbei. Daher werde ich dir jetzt die Formel sagen. Aber überlege es dir gut, bevor du sie anwendest. Bedenke, daß sie ewig währt. Bedenke auch, daß es schließlich nur noch knappe drei Monate bis Halloween sind." Er machte eine kurze Pause, bevor er die Zauberformel zitierte: "Ich wünsche, daß dem König der Kobolde Einlaß in mein Reich gewährt wird. Ab diesem Augenblick."
"Das ist es?"
"Das ist es."
Zum wiederholten Male legte Jareth die Zukunft ihrer Beziehung in Sarahs Hände. Im vollen Bewußtsein über den Ernst der Situation hoffte sie inbrünstig, sie möge diesmal das Richtige tun und ihn nicht enttäuschen.
"Ich danke dir, Jareth - für alles."
"Ich habe zu danken. Du hast mir einen unvergeßlichen Abend bereitet, meine kleine Elfe." Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke und die Lust kam für einen Augenblick zurück, dann war der Bann wieder gebrochen. Sarah warf ihm noch ein Kußhändchen zu, das er geschickt auffing, dann verabschiedeten sie sich voneinander, um eine erregende Erfahrung reicher.
Kapitel 24
Firey hatte Wort gehalten. Er war so lautlos und unauffällig verschwunden, wie es einem Menschen aus Fleisch und Blut möglich war. Wäre er allerdings ein Geist gewesen, hätte sein Verschwinden nicht unauffälliger sein können. Auf der letzten Sitzung, bei der er anwesend war, wurden einige lapidare Erklärungen abgegeben, warum er schon so bald fortging, um eine andere Filiale unter die Lupe zu nehmen, wobei die vollzählig versammelte Chefetage dazu ein Gesicht machte, als ob sie es genauer wüßten und den kleinen Angestellten nur nicht verraten würden, dabei waren sie genauso unwissend wie alle anderen auch.
Erst eine Woche nach Fireys Verschwinden traute sich Sarahs direkter Vorgesetzter, bei ihr einen Schuß ins Blaue abzugeben. Sie lief ihm auf der Suche nach Druckerpapier über den Weg und er nutzte diese Chance um sie in ein - wie er hoffte - klärendes Gespräch zu verwickeln. Es war nicht auszudenken, wenn in Mr. O´Keefes Bericht über ihre Filiale etwas Negatives stehen würde...
"Ah, Miss Williams! Ich wollte schon lange mal bei Ihnen vorbeischauen."
"Guten Tag, Mister Shaw. Wir können gerne in mein Büro gehen."
"Nein, nein. Lieber nicht", winkte Mr. Shaw hastig ab. "Es ist eine etwas heikle Angelegenheit. Ich möchte lieber keinen offiziellen Termin daraus machen."
In Sarah stieg ein dunkler Verdacht auf. Trotzdem blieb sie nach außen hin ruhig und kühl.
"Ich wollte sie schon seit einiger Zeit fragen, wann sie uns verlassen wollen, Miss Williams", fuhr Mr. Shaw fort, als er sich vergewissert hatte, daß sich außer ihnen niemand auf diesem Korridor aufhielt.
"Sie verlassen? Ich hatte nicht einmal im Traum daran gedacht, die Firma zu wechseln." Sarah war sichtlich geschockt. "Wenn sie aber glauben, es wäre besser, dann..."
"Nein, Miss Williams, um Gottes Willen!" Mr. Shaw war nicht weniger schockiert als Sarah. So ein dummes Mißverständnis! "Hier will sie niemand loswerden. Was ich eigentlich meinte war nur, daß... nun ja, da doch Mr. O`Keefe nun fort ist, da dachten einige wohl, sie hätten auch vor..."
Sarah mußte sehr an sich halten, um ihren Chef nicht auszulachen. Seine Unbeholfenheit hatte etwas rührend Komisches an sich. Doch gleich darauf wurde sie wieder ernst, als sie begriff, welche Meinung über sie und ihre Beziehung zu Firey in der Firma kursierte.
"Mr. O`Keefe hat mich nicht abgeworben, wenn sie das meinen." Sie senkte den Blick. "Ich fürchte, wir waren nicht sehr diskret."
"Und ich fürchte, daß selbst die größte Diskretion nichts genutzt hätte. Mr. O`Keefe stand denn doch zu sehr unter allgemeiner Beobachtung." Es war lediglich ein milder Scherz, den Mr. Shaw gemacht hatte, um seinen väterlichen Beschützerinstinkt zu kaschieren, der ihn gelegentlich gegenüber seinen jüngeren Untergebenen überkam. Besonders wenn sie so unverkennbar traurig Löcher in den Teppichboden starrten. Doch der leichte Scherz, mochte er auch noch so dumm gewesen sein, bewirkte, daß Sarah den Kopf wieder hob, ihren Chef geradeheraus anblickte und mit entschlossener Stimme sagte: "Es wird nicht wieder vorkommen, Mr. Shaw."
Er konnte sich gerade noch rechtzeitig davor zurückhalten, ihr liebevoll die Wange zu tätscheln. Stattdessen lachte er. "Und wenn schon. Solange uns die Kunden, die durch sie betreut werden, die Tür mit Folgeaufträgen einrennen, können sie von mir aus tun und lassen, was sie wollen, Miss Williams. Machen Sie weiter so. Wir sind sehr mit Ihnen zufrieden." Mit Genugtuung bemerkte er, daß Miss Williams noch nicht zu abgebrüht war, um nicht durch ein Lob sehr kleidsam zu erröten. Auf seinem Rückweg in sein Büro warf er im Vorbeigehen seiner Sekretärin einen flüchtigen Blick zu und seufzte leise. Ihre Bluse war hochgeschlossen und zugeknöpft. Es gab keinen Zweifel - Mr. O`Keefe war tatsächlich fort.
Als Sarah endlich mit ihrem aus fünf verschiedenen Büros erbettelten Druckerpapier in ihr eigenes Büro zurückeilte, fand sie in ihrem "Vorzimmer" ein reizendes Bild vor.
Mr. Millford war schon wieder da! Und schon wieder plauderte er angeregt mit Tess! Insgeheim amüsierte sich Sarah über die ganze Angelegenheit. Hatte es doch zuerst ganz so ausgesehen, als ob Mr. Millford hinter Sarah hergewesen wäre. Ihr selbst war seine ständigen Anrufe, Besuch, Folgeaufträge und Besprechungen bald so auf die Nerven gegangen, daß sie sich schließlich immer öfter von Tess hatte verleugnen lassen. Je öfter Mr. Millford nun mit Tess sprach, desto mehr wandte er seine Aufmerksamkeit von Sarah ab. In der Zwischenzeit lernte Sarah die Worte "Henry sagt..." oder "Henry hat..." begleitet mit einem schmachtenden Augenaufschlag von Tess fürchten gelernt. Sie konnte nur hoffen, "Henry" würde ihre Assistentin endlich einmal zum Essen einladen, damit die Angelegenheit endlich zum Abschluß kam. Die beiden würden hervorragend zu einander passen!
Durch Sarahs Eintreten offensichtlich gestört, sah Mr. Millford demonstrativ auf seine Uhr, sagte zu Sarah etwas wie: "...habe nur schnell die Korrekturbögen vorbeigebracht, habe eigentlich gar keine Zeit mehr, muß gleich wieder los..." und raunte Tess noch ein schnelles "bis heute abend" zu und war auch schon wieder draußen. Tess blickte ihm noch schmachtend nach und seufzte romantisch.
Sarah verdrehte daraufhin die Augen. "Hat er dich nun doch noch zum Abendessen eingeladen?" Grinste sie. "Ich hatte schon befürchtet, er wäre zu schüchtern dazu."
"Henry ist eben ein Gentleman", protestierte Tess leicht beleidigt. "Hier sind übrigens noch zwei Faxe gekommen. Was soll ich nur anziehen?"
Sarah konnte nicht anders. Sie brach in schallendes Gelächter aus.
"Das ist gemein, Sarah. Mich so auszulachen!" schmollte Tess.
"Entschuldige, Tess." keuchte Sarah zwischen zwei Lachkrämpfen. "Ich lache nicht über dich. Wirklich nicht." Sarah kicherte lediglich deshalb haltlos vor sich hin, weil Tess´ Ausspruch erstens typisch weiblich war und zweitens von Sarah selbst immer öfter gebraucht wurde. Es war einfach das Echo ihrer eigenen Gedanken, das sie so sehr aus der Fassung gebracht hatte. In letzter Zeit war es nicht immer einfach gewesen, die passende Kleidung auszuwählen. Dabei ging es nicht mal um die Dinge, die sie tagsüber trug. Vielmehr bereitete ihr die Anzahl an Nachthemden, die ihr zur Verfügung stand Sorgen.
Seit jenem "eindrucksvollen" Gespräch mit Jareth legten beide - ohne daß sie darüber gesprochen hätten - keinen gesteigerten Wert mehr auf korrekte Kleidung. Sarah trug seither keinen Morgenmantel mehr über ihren Nachthemden und wenn sie es doch einmal tat, ließ sie ihn offen. Auch Jareth wählte seine Kleidung nun unter anderen Gesichtspunkten aus. Er hatte bemerkt, daß sie weite Hemden mit Spitzen oder Rüschen an Kragen und Manschetten an ihm besonders liebte. Er trug auch deshalb keine Westen, Capes oder ähnliches mehr. Nie wieder hatte er seither seine Hemden ganz zugeknöpft. Oft knöpfte er sie auch gar nicht mehr zu, sondern ließ sie offen über seine Hosen hängen. Sarah und Jareth trieben in diesen Wochen ein frivoles Spiel miteinander. Während zumindest Sarah alle Spielarten dieses distanzierten Flirtens schon seit ihrer Schulzeit beherrschte, war für Jareth alles köstlich neu und erregend - und er lernte schnell. Sarah reizte ihn mit allen Variationen der übereinandergeschlagenen Beine, der vor der Brust gekreuzten Arme, des Vorbeugens des Oberkörpers und der halb geöffneten Lippen. Der Inhalt ihrer Gespräche in dieser Zeit war nicht anders als banal zu nennen und diente lediglich als Deckmäntelchen, damit der eigentliche Zweck, dem diese Treffen dienten, nicht gar zu offensichtlich wurde. In diesen Nächten schürten beide das Verlangen nacheinander mit lustvoller Hingabe, die äußere Form mühsam wahrend, während beide vor unterdrückter Erregung bebten. Oft zögerten Sie den Zeitpunkt des nächtlichen Abschiedes hinaus - törichterweise auf ein Wunder hoffend, das ihnen den unausweichlichen Abschluß einer solchen Begegnung ersparen würde. Doch das Wunder ereignete sich nie und letzten Endes verschafften ihnen wieder nur die eigenen Hände einen einsamen Trost und die nötige Befriedigung ihrer aufgestauten Lust.
