„Harry?", fragte Hermine schluchzend. „Was ist das für ein Gefühl, wenn du Dean mit Ginny siehst? Ja, ich weiß es. Ich sehe doch, wie du sie ansiehst. Du bist mein bester Freund." Tränen liefen ihr übers Gesicht. Er nahm sie sanft in den Arm, und sie drückte ihr Gesicht an seine Schulter, wo sie ihren Tränen freien Lauf ließ.
Plötzlich hörten wir ein immer näher kommendes Kichern und Geplapper. Oh nein, fröhliche Menschen kann ich nun wirklich nicht ertragen!, dachte Hermine verzweifelt. Und dann rannte Lavender um die Ecke, gefolgt von Ron. Die beiden erstarrten, als sie Harry und Hermine auf der Treppe sitzen sahen. „Uuuups", sagte Lavender und tat peinlich berührt. Natürlich konnte Hermine sich nicht wirklich vorstellen, dass Lavender irgendetwas peinlich war. „Hier scheint schon besetzt zu sein", fügte sie an Ron gewandt hinzu und grinste. Hermine fand dieses Grinsen überaus dämlich und spürte, wie Wut und Trauer in ihr hochkochten.
Lavender ging ein paar Schritte in die Richtung, aus der sie gekommen war und wollte Ron mitziehen, der aber zögerte. „Was macht ihr hier?", wollte er wissen.
Hermine stand auf, ihr Blick verschleiert von Tränen. Sie hatte zaubern anhand von Zaubervögeln geübt. „Oppugno", sagte Hermine leise und richtete ihren Zauberstab auf Ron. Sofort stürzten sich die Vögel auf ihn. Er wich ihnen aus und sie knallten an die Wand hinter ihm. Geschockt und ungläubig starrte er sie an, dann wandte er sich ab und eilte Lavender hinterher.
Hermine hingegen sackte in sich zusammen. Harry nahm sie fest in die Arme und sagte: „Es fühlt sich genauso an." Hermine fühlte sich, als könnte sie nie wieder aufhören zu weinen. Die Tränen sprudelten förmlich aus ihren Augen und sie schluchzte laut. In diesem Moment war sie Harry dankbar dafür, dass er ihr bester Freund war und einfach nur da war, sie ihm Arm hielt und nichts sagte. Nichts von wegen „alles wird wieder gut", denn es fühlte sich absolut nicht so an.
Hermine zitterte am ganzen Leib. Warum Lavender?, fragte sie sich. Oder würde er auch jede andere nehmen? War es, weil sie sich getraut hatte? Weil sie sich getraut hatte, ihn zu küssen? War Ron denn wirklich so blind? Konnte er nicht sehen, was Hermine für ihn empfand?
Ein erneuter Schluchzer stieg in ihrer Kehle auf, aber sie schluckte ihn runter. „Harry?", flüsterte sie heiser. „Kann ich deinen Tarnumhang haben?"
Er schaute sie überrascht an. „Wofür denn?"
„Ich … ich will ein wenig allein sein", gab sie zu und er warf ihr einen verständnisvollen Blick zu. Dann stand er auf und sagte: „Warte hier, ich hole ihn." Er verschwand und Hermine war kurz allein. Was sollte sie nur tun? Wie sollte sie jeden Tag den Anblick von Ron mit Lavender ertragen?
Wenige Minuten später kam Harry mit dem Tarnumhang zurück und reichte ihn ihr. „Hier", sagte er und lächelte traurig. „Danke", murmelte sie und warf den Umhang über ihren Körper. Langsam tappte sie durch die Gänge und bemerkte gerade noch, dass Harry sich auf den Rückweg zum Gemeinschaftsraum machte.
Sie irrte ziellos durchs Schloss. Dunkle Gänge und Stille. Und plötzlich bemerkte sie, dass sie sich am Fuß des Astronomieturms befand. Sie zögerte kurz, dann erklomm sie die Wendeltreppe Stufe für Stufe. Oben war es frisch und es wehte eine leichte Brise. Sie fröstelte, aber sie wollte nicht wieder zurück ins Schloss. Sie hockte sich an einen der Pfeiler, direkt ans Geländer, wo sie ihren Blick über die mondbeschienenen Ländereien von Hogwarts schweifen ließ. Aus Hagrids Hütte stieg Rauch auf, die dunklen Baumwipfel des Verbotenen Waldes bewegten sich sanft im Wind, der Mond spiegelte sich auf dem Schwarzen See. Und dazu diese Stille. Sie hörte kein einziges Geräusch bis auf ihren eigenen Atem. Einerseits war es gruselig und irgendwie unheimlich, andererseits aber auch wunderschön. Sie lächelte traurig, als sie plötzlich Schritte hörte.
Sie drehte ihren Kopf zur Treppe und entdeckte Draco Malfoy. Seine hellen, weißblonden Haare und seine bleicher Teint leuchteten im Mondlicht und bildeten einen scharfen Kontrast zu seiner vollkommen schwarzen Kleidung. Er lief geradewegs in ihre Richtung und Hermine hielt die Luft an. Aber er stellte sich nur neben sie ans Geländer ohne sie zu bemerken. Sie beobachtete ihn. Er war blasser als sonst und seine sonst schlaksige, dünne Gestalt kam ihr nun ausgezehrt vor. Sein Haar saß ausnahmsweise mal nicht perfekt, sondern war verstrubbelt. Er holte tief Luft und Hermine entdeckte eine Träne, die sich langsam ihren Weg über seine Wange bahnte und schließlich auf sein schwarzes Hemd tropfte.
Hermine verspürte den plötzlichen Drang aufzustehen und ihn zu umarmen, aber sie hielt sich zurück, bewegungslos und flach atmend. Sie hoffte, er würde sie nicht bemerken, denn es würde ihr sicher nur schaden, wenn er wüsste, dass sie ihn in einem seiner schwachen Augenblicke gesehen hatte.
Eine zweite Träne stahl sich aus seinem Augenwinkel und er wischte sie weg. Er fuhr sich durch sein Haar und seufzte, doch das Seufzen wandelte sich in einen Schluchzer um. Hermine schnappte nach Luft und Draco horchte auf. „Ist da irgendwer?", fragte er leise und Hermine hielt aufs Neue die Luft an, ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Sie spürte ihre Fingernägel, die sich in die zarte Haut ihrer Hände gruben.
Draco schaute sich verwirrt um, dann schüttelte er verwundert den Kopf und lief zurück zur Treppe, um sich an den Abstieg zu machen. Sobald er verschwunden war, atmete Hermine erleichtert und verwirrt auf. Was war denn das eben gewesen? Draco Malfoy konnte sogar weinen? Sie kannte nur seinen ekelhaft arroganten Charakterzug, mit einer schwachen Seite hatte sie an ihm nicht gerechnet. Sie seufzte und dachte, dass es wohl auch für sie Zeit war, in den Gryffndorturm zurückzukehren. Harry wollte sie nichts von diesem Zwischenfall erzählen. Noch nicht. Harry würde Draco gleich wieder zur Rede stellen oder Schlimmeres und das wollte Hermine nicht. Irgendwie kam es ihr so vor, als würden Draco und sie sich etwas teilen – ein Gefühl der Trauer und Einsamkeit -, auch wenn Draco keine Ahnung davon hatte, dass sie nur wenige Zentimeter von ihm entfernt gewesen war.
Leise schlich sie zurück zum Gemeinschaftsraum. Die Siegesfeier war mittlerweile vorbei und nur noch wenige Gryffindors lümmelten auf den roten Sofas und Sesseln. Sie zog sich den Tarnumhang vom Körper und klopfte am Schlafsaal der Jungs. Seamus öffnete die Tür. Sein Haar war zerzaust und er trug seinen Schlafanzug. „Hermine!", rief er erschrocken. Oder vielmehr kreischte er es. Er trat hinter die Tür und streckte nur den Kopf hervor. „Was willst du?"
„Ist Harry hier?", fragte sie und er nickte.
Harry erschien in der Tür, auch er in einer Pyjamahose und einem grauen T-Shirt. Fragend schaute er sie an. „Danke", sagte Hermine und drückte ihm den Tarnumhang in die Hand.
„Geht's wieder? So einigermaßen wenigstens?" Besorgt blickte er ihr in die Augen.
Sie schüttelte den Kopf und wandte sich wortlos ab, um in ihren Schlafsaal zu gehen. Parvati hatte sie unten im Gemeinschaftsraum gesehen und Lavender war wohl noch mit Ron unterwegs. Wie nur sollte Hermine sich einen Schlafsaal mit Lavender teilen, ohne ihr vor Eifersucht und Traurigkeit an die Kehle zu springen?
Hermine seufzte verzweifelt, zog sich um und legte sich ins Bett. Sie dachte noch eine Weile nach. Über Ron, den sie liebte, wohl schon immer geliebt hatte und der nun was mit Lavender hatte. Er wusste nicht einmal, dass Hermine so für ihn empfand… und selbst wenn er es wüsste … wie würde er empfinden? Würde sie durch eine Offenbarung nur seine Freundschaft verlieren? Und Hemrine dachte auch an Draco, der auf den Astronomieturm kam, um seine schwache, verletzliche Seite zu zeigen, wenn auch nur vor sich selbst.
Sie drehte sich auf die Seite und weinte sich in einen unruhigen Schlaf.
