A/N: Dies ist eine Fortsetzung meiner Geschichte 'Ein Kuss für die Nimmerfeen'. Es ist weniger ein Kammerspiel als die vorherige Story und hat ein klein wenig mehr 'action', aber auch hier liegt der Fokus auf der Entwicklung der Beziehung zwischen Severus und Hermine – mit sehr vielen Gesprächen über zurückliegende Ereignisse und persönliche Befindlichkeiten. Ihr erfahrt, was mit Hermines Eltern geschehen ist, wie Dracos Beziehung zu Hermine und Harry nun aussieht, wie sich Harrys Verhältnis zu Severus entwickelt und welche Sorgen Luna um die Hogwarts-Bewohner hegt, die unter Trübkleblern leiden. Hermine lernt etwas über die feine und subtile Kunst der Okklumentik und Legilimentik; erfährt, was wirklich hinter der Reinblüter-Ideologie steckt und welche Rolle die Hogwarts-Bibliothekarin spielt, sowie die Wahrheit über Lemon-Sherbets.
Das Rating setzte ich etwas hoch, wegen erwachsener und später auch sexueller Themen.
Der Vorfall im Korridor
Freitagabende waren in Hogwarts normalerweise ruhig, zumindest für das Kollegium. Die meisten Lehrer vermieden es, am letzten Tag der Woche noch jemanden nachsitzen zu lassen – nicht so sehr aus Rücksicht auf die Schüler, sondern eher aus Eigeninteresse. Mit dem bevorstehenden Wochenende konnte man einen Teil der Arbeit ein wenig zurückstellen, etwa zugunsten eines entspannenden Abends mit Kollegen im Hogshead, wo man bei einem Glas Feuerwhiskey ein paar Runden Gobstein spielte oder den neusten Klatsch austauschte.
Der Zaubertränkeprofessor war weder für das eine, noch das andere zu haben, aber auch er freute sich an Freitagen auf ein ruhiges, einsames Essen in seinen Gemächern, das er dem Abendessen am Kollegiumstisch in der Großen Halle bei weitem vorzog. Er hatte gerade seine rituelle abendliche Dusche beendet und war dabei, sich wieder anzukleiden, als der Hütehund-Patronus der Schulkrankenschwester plötzlich vor ihm erschien.
"Severus – ich brauche dich dringend im Krankenflügel," informierte ihn Poppys abgerissene Stimme. "Es hat ein unglückliches Gryffindor-Slytherin Aufeinandertreffen gegeben, und ein Schüler aus deinem Haus wurde verletzt. Minerva ist auf einem Schulvorstandstreffen und nicht verfügbar. Jemand muß sich der Sache annehmen und herausfinden, was es mit diesem Angriff auf sich hat."
Kaum dass der Hund die Nachricht überbracht hatte, löste er sich in Luft auf, und Severus schlüpfte schnell in Weste und Mantelrock und zauberte die Knöpfe zu.
Zwar hatte er nach seiner langen Rekonvaleszenz strikt geweigert, wieder Schulleiter zu werden, doch hatte er sich breitschlagen lassen, die Position des Schulleiterstellvertreters zu übernehmen. Minerva hatte einfach nicht aufgehört, ihm damit in den Ohren zu liegen, letztendlich sogar beinahe auf Knien. Keiner der anderen Lehrer hatte sich für das Amt interessiert, und um ehrlich zu sein war auch keiner von ihnen einschüchternd und respekteinflößend genug, um die Ministeriumsbürokraten in Schach und ihre Nasen aus Hogwartsangelegenheiten heraus zu halten. Beim Schulvorstandstreffen heute abend ging es nur um gewöhnliche, organisatorische Angelegenheiten – nichts, womit Minerva nicht fertigwerden konnte, sonst wäre er an ihrer Stelle gegangen.
Er war voller Adrenalin als er stattdessen mit flatternden Roben in den Krankenflügel eilte. Poppys Nachricht über eine Gryffindor-Slytherin Konfrontation hatte unliebsame Erinnerungen an einen ähnlichen Vorfall vor zwei Jahren wieder heraufbeschworen, als der eine seiner Patensöhne vom anderen mit einem fiesen Fluch getroffen worden war, der ihn an den Rand des Todes brachte – einem Fluch, den Severus auch noch selbst erfunden hatte.
Er erwartete fast, Draco in einer Lache von Blut liegend vorzufinden; seinen dunkelhaarigen Angreifer mit ausdruckslosem Gesicht auf ihn herabstarrend. Er fühlte alle damaligen Emotionen wieder hochsteigen: das nackte Entsetzen und die Furcht, die ihn angesichts von Dracos Beinahe-Tod gepackt hatte, und die kalte Wut auf Harry Potter, der ihm schamlos und ohne Anflug von Gewissensbissen ins Gesicht gelogen hatte.
Er war sehr überrascht, stattdessen einen bewußtlosen Slytherin-Erstklässler und eine völlig aufgelöste Hermine Granger vorzufinden, und sein Herz tat ein paar extra Schläge.
"Der Junge wurde von einem Schockzauber getroffen und gegen die Wand im Korridor vor der Bibliothek geworfen," erklärte die Schulkrankenschwester knapp, während sie sich um den Jungen bemühte. Sie sprach einen weiteren Diagnose-Zauber und zog die Augenbrauen zusammen. "Ich glaube, er hat eine Gehirnerschütterung, aber ich muß ihn wecken, um es mit Sicherheit sagen zu können. Bitte kümmere dich um Miss Granger, während ich den jungen Mr. McGregor hier versorge, Severus."
Der Zaubertränkeprofessor unterzog das Mädchen, das auf dem Ende eines Krankenhausbettes kauerte, einer raschen Musterung. "Ist sie auch verletzt?" fragte er, dankbar für seine Fähigkeit, Gefühle verbergen und äußerlich ruhig bleiben zu können, egal, wie sehr sein Herz raste. Die junge Gryffindor sah nicht aus, als ob sie verletzt wäre, jedenfalls nicht auf eine Art, die er auf ersten Blick hätte erkennen können. War sie dabei gewesen, als der Junge attackiert worden war, und hatte versucht, zu helfen?
"Nein," antwortete Poppy. "Es sieht so aus, als wäre sie diejenige gewesen, die den Schockzauber geworfen hat."
Ungläubig flog sein Blick von der Krankenschwester zurück zu der Schülerin, die in den letzten Wochen häufig seine Gedanken beherrscht hatte. Egal, wie sehr er sich auch bemühte, eine gewisse Begegnung mit ihr aus seinen Erinnerungen zu verdrängen: Er scheiterte auf ganzer Linie. Sie, wie sie vor ihm stand und hitzig mit ihm argumentierte, Tränen über seinen Beinahe-Tod vergoss und ihn mit Zuneigung in den Augen anlächelte – diese Bilder hatten sich tief in seine Retina gebrannt.
Es gab noch andere Erinnerungen, die noch insistenter waren und sich nachts in seine Träume stahlen... Erinnerungen an ihren anschmiegsamen Körper in seinen Armen und an weiche Lippen, die sich auf seine pressten. Aber zumindest in seinen wachen Momenten schaffte er es, all das unter Zuhilfenahme seiner okklumentischen Fähigkeiten in die Tiefen seines Bewußtseins zu verbannen.
Im Moment jedoch erinnerte nichts an die entschlossene, junge Frau, die ihn in solche Verwirrungen gestürzt hatte. Sie war vielmehr ein Häufchen Elend, wie sie auf dem Bett saß, mit angezogenen Knien, den Kopf in den darum geschlungenen Armen vergraben.
"Sie haben einen Schockzauber auf einen Mitschüler geworfen?" fragte er mit einer Mischung aus Verwirrung und Unglauben. "Warum, in Merlins Namen?"
Sie hielt den Blick gesenkt, und er war sich nicht sicher, ob sie ihn nicht gehört hatte oder ob sie es einfach nicht fertigbrachte, ihm in die Augen zu sehen.
"Miss Granger!" schnappte er, seine Stimme ein wenig schärfer als er es beabsichtigt hatte. Sein autoritärer Ton drang jedenfalls zu ihr durch. Ihr Kopf hob sich, und er konnte Tränen in ihren Augen schwimmen sehen, die jeden Moment drohten, überzufließen. Sie war leichenblass.
"Es tut mir leid!" schluchzte sie, und ihre Beine entglitten ihrem Halt. Sie schlang die Arme stattdessen um ihren Oberkörper und begann, sich vor- und zurückzuwiegen. "Ich wollte das nicht! Er hat mich erschreckt, und ich habe meinen Zauberstab gezogen... Ich wollte mich nur verteidigen!"
"Gegen einen Erstklässler?" Er verstand gar nichts. "Was hat er getan, dass Sie ihn dafür mit dem Kopf voran gegen eine Wand warfen?"
"Nichts! Er hat gar nichts getan!" Sie brach in Tränen aus. "Er kam plötzlich hinter einem Wandteppich hervorgesprungen. Er hat mich erschreckt. Ich dachte, er wäre..."
"Ein Greifer," beendete er ihren Satz für sie, als er begriff.
Sie nickte, und ihr schmaler Körper bebte. "Ich habe überhaupt nicht nachgedacht... es passierte so schnell. Ich habe nur reagiert."
Er sah auf das schluchzende Mädchen herab und hätte sich selbst ohrfeigen können, dass er es nicht sofort erkannt hatte. Sie stand unter Schock. "Bitte, hören Sie auf zu weinen," sagte er nun sanfter. Er streckte die Hand aus und legte sie ihr in dem schwachen Versuch, sie zu beruhigen, auf die Schulter. Einen Moment lang empfand er den seltsamen Drang, sie in die Arme zu schließen – etwas, was er in seinem ganzen Leben noch nie mit jemandem getan hatte, noch nicht mal mit weinenden, heimwehkranken Slytherin-Erstklässlern. Seine übliche Methode, Trost zu spenden, beschränkte sich auf die Herausgabe von Taschentüchern und einer ähnlichen Aufforderung, wie der, die er ihr soeben hatte zukommen lassen. Und es hatte für gewöhnlich genau den gleichen Effekt, nämlich gar keinen.
"Ich kann nicht!" jammerte sie elendig. "Ich habe ihn beinahe umgebracht!"
"Unfug!" widersprach er im Ton der Vernunft. Er fühlte sich völlig überfordert. "Sie haben ihn lediglich k.o. geschlagen. Ihre Schockzauber sind nicht stark genug, um ernsthaften Schaden anzurichten." Zumindest war das etwas, wofür er sie immer kritisiert hatte, als er noch ihr Lehrer in Verteidigung gegen die Dunklen Künste gewesen war. Und wenngleich es stimmte, dass die Kraft hinter ihren Angriffszaubern zu wünschen übrig ließ, wenn sie gegen einen Erwachsenen wirken sollten, so war es vermutlich eine andere Sache, wenn sie sich gegen einen so schmächtigen Jungen wie McGregor richtete. Und vermutlich wußte sie das auch, denn sein Versuch, der Sache mit Logik beizukommen, konnte sie auch nicht beruhigen.
"Es ist meine Schuld, dass er nun hier im Krankenflügel liegt, ganz verschrammt und blutig!"
Er zog eine Decke von einem der Betten und legte sie ihr um die Schultern. Es würde genügen müssen. "Er blutet nicht", sagte er. Zumindest das entsprach ganz der Wahrheit. "Und er wird im Nu wieder auf den Beinen sein. Poppy kümmert sich gerade um ihn. Nun beruhigen Sie sich und erzählen Sie mir, was genau passiert ist."
Sie zog die Decke fest um sich, anscheinend dankbar für die Wärme und dafür, etwas zum Festhalten zu haben. "Ich glaube, es sollte ein Scherz sein", sagte sie und wischte sich die Augen. "Er kam hinter dem Teppich hervorgesprungen, als ich auf dem Weg zur Bibliothek war. Ich verhexte ihn, ehe ich überhaupt wußte, wer da auf mich zukam."
"Wie haben Sie es geschafft, so schnell ihren Zauberstab zu ziehen?" hakte er nach, fast beeindruckt über ihre Reflexe.
"Hab' ich nicht. Ich hatte ihn schon in der Hand."
"Sie waren auf dem Weg zur Bibliothek...", wiederholte er mit zusammengezogenen Brauen, als ein Verdacht in ihm aufkeimte. "Warum hielten Sie Ihren Zauberstab zum Angriff bereit?"
"Ich habe nicht darüber nachgedacht..." sagte sie, kaum hörbar. "Es ist reine Gewohnheit. Ich gehe nirgendwo hin, ohne jederzeit meinen Zauberstab bereit zu halten. Ich nehme ihn sogar mit ins Bett."
"Ich verstehe." Es war nicht wirklich überraschend, nach allem, was sie durchgemacht hatte. Vermutlich hatte es mehr als einmal ihr Leben gerettet. Wie auch immer – die Tatsache, dass ihre Nerven noch immer so blank lagen, dass sie nicht mal im Schlaf entspannen konnte und ihren Zauberstab bereit hielt, wenn sie nur durch die Flure ging, ließ auf ein tieferes Trauma schließen, als ihm bewusst gewesen war. "Der junge McGregor scheint ein Scherzbold zu sein. Er wußte vermutlich nicht, wie unklug es ist, diese Art von Schabernack mit jemandem zu treiben, der vor wenigen Monaten noch um sein Leben kämpfen musste. Ich werde dafür sorgen, dass die Sache angesprochen wird. Ihre schnelle Reaktion war lobenswert. Auf der Flucht hätte sie Ihnen vermutlich das Leben gerettet. Jetzt aber gefährdet sie ihre Mitschüler. Sie dürfen nicht mehr so übernervös sein."
"Denken Sie, ich wüßte das nicht?" fragte sie und wischte sich verärgert die Augen. "Was schlagen Sie vor, das ich tun soll?"
"Für den Moment schlage ich vor, dass Sie einen Beruhigungstrank nehmen und erst einmal schlafen. Es ist vermutlich am besten, wenn auch Sie die Nacht über hier bleiben."
"Mir geht es gut."
"Nein, es geht Ihnen definitiv nicht gut, Miss Granger. Ich kann sehen, wie Sie zittern. Ich werde Miss Weasley zu Ihnen schicken – sie kann Ihnen bringen, was auch immer Sie aus Ihren Räumen brauchen, oder Sie können einen Hauself darum bitten. Poppy?"
Die Schulkrankenschwester, die seinen Slytherin versorgt hatte, kam herüber. "Wie geht es dem Jungen?"
"Eine leichte Hirnerschütterung und ein paar Kratzer und Beulen. Er wird es überleben. Es wäre aber gut, wenn du mit ihm sprechen könntest, Severus. Er ist ein bißchen durch den Wind. Er weiß buchstäblich nicht, was ihn getroffen hat."
"Ich rede mit ihm, und ich werde auch Minerva informieren. Du solltest Miss Granger einen Trunk des Friedens geben und sie die Nacht über hierbehalten. Sie ist auch ein bißchen durch den Wind."
"Professor Snape?" Hermine hielt ihn am Ärmel fest als er sich zum Gehen wandte. "Bitte sagen Sie Malcolm, dass es mir wirklich sehr, sehr leid tut."
"Das werde ich. Aber machen Sie sich jetzt darum keinen Kopf. Schlafen Sie, Miss Granger."
*'*'*'*'*
Die Schulleiterin, die über den Vorfall informiert worden war, entschloss sich, den Vorfall als unglücklichen Unfall und nicht als Angriff auf einen Mitschüler zu werten. Sie verzichtete auf Strafmaßnahmen, die normalerweise auf das Zaubern in den Gängen standen, und ausnahmsweise war Severus mit dieser Nachsicht einverstanden.
Beide Professoren stellten sicher, dass insbesondere die jüngeren Schüler darauf hingewiesen wurden, wie Menschen, die während des ganzen vergangenen Jahres um ihre Sicherheit hatten bangen müssen, wohlmöglich darauf reagieren, wenn man sie aus einem Hinterhalt heraus ansprang oder erschreckte.
Sein Slytherin Schützling war, nachdem Severus ihn klargemacht hatte, was Schüler aus den anderen Häusern während des Schreckensregiments des letzten Jahres hatten fürchten müssen, über seinen schief gelaufenen Streich ebenso beschämt wie sein zum Angreifer gewordenes Opfer, und er hatte sich bei Hermine dafür entschuldigt.
Severus selbst hatte mit dem Mädchen außerhalb seiner Unterrichtsstunden seither nicht mehr gesprochen. Er war sehr bemüht, von ihr nur als 'das Mädchen' oder 'Miss Granger' zu denken, als wäre sie lediglich eine unter vielen Schülerinnen. Aber diese Selbsttäuschung aufrecht zu erhalten wurde schwerer, je öfter er über sie nachdachte, und nach dem Vorfall im Korridor beherrschte sie seine Gedanken mehr denn je.
Obwohl er es der Schulleiterin gegenüber nicht ausgesprochen hatte, bereitete ihm der Vorfall doch Sorgen. Ständige Wachsamkeit war gut und schön, solange sie nicht in Paranoia ausartete. Mad-Eye-Moody war der lebende Beweis dafür gewesen. Er fragte sich, ob Miss Grangers offenbar hohes Stresslevel ein Eingreifen verlangte.
Er beobachtete sie noch aufmerksamer, kam aber erleichtert zu dem Schluß, dass es sich um einen einmaligen Vorfall gehandelt haben mußte. Sie schien völlig entspannt, wenn er sie in seiner Klasse sah. Er hielt nach Anzeichen von ungewöhnlicher Unruhe oder innerer Aufruhr Ausschau, aber sie wirkte ganz gelassen. Wenn überhaupt, dann war sie ein klein wenig zu entspannt für seinen Geschmack. Ihre Tränke waren immer noch einwandfrei, wenngleich der Umstand eher ihrer Routine zu verdanken war als ihrem Talent. Sie antwortete, wenn man ihr eine Frage stellte, aber hob selten von alleine die Hand. Manchmal hatte er den Eindruck, als sei sie mit den Gedanken nicht wirklich bei der Sache.
Zuerst hatte er befürchtet, dass ihre neue Gelassenheit – oder sogar Lässigkeit – im Zaubertrankunterricht eine beunruhigende Konsequenz ihrer zweifelsohne veränderten Situation war... dass sie nun glaubte, sein Moment der Schwäche erlaube ihr gewisse Freiheiten. Es war nicht zu leugnen, dass er sie nicht mehr einschüchtern konnte. Wenn er finster dreinschaute, schimpfte und scharfzüngige Kommentare auf seine Klasse herabregnen ließ, senkte sie den Kopf wie alle anderen Schüler auch, aber er hatte manchmal den starken Verdacht, dass sie es nur tat, um in Wahrheit ein amüsiertes Lächeln zu verbergen.
Niemand konnte an ihrem Betragen Anstoß nehmen, da es weiterhin respektvoll und unaufdringlich war, aber sie schien sich an keiner seiner harschen Bemerkungen mehr zu stören. Ihre neu entdeckte Abgeklärtheit war unvertraut, zumal sie diejenige war, die sich seine Kommentare immer am meisten zu Herzen genommen hatte.
Eine diskrete Nachfrage unter Kollegen ergab, dass ihr Antriebsverlust eine generelle Entwicklung war, die sich schon zu Beginn des Schuljahres offenbart hatte. Sie erfüllte alle Aufgaben pflichtschuldig, aber ohne den Übereifer und den Ehrgeiz, den sie sonst immer an den Tag gelegt hatte. Ihre Essays überschritten nun selten die gefragte Pergamentlänge, und obwohl er die neue Kürze bei seinen Korrekturen begrüßte, war sie doch sehr untypisch für das Mädchen, das immer weit über das Geforderte hinausgegangen war.
Sicher, sie waren alle verändert zurückgekehrt, aber in ihr waren die Veränderungen unterschwelliger und doch gleichzeitig auffälliger als bei anderen. Sie war reifer geworden und hatte einige der Eigenschaften verloren, die er immer als unangenehm empfunden hatte: Ihr permanentes Bedürfnis, sich selbst zu beweisen, das als angeberisch rübergekommen war, oder ihre Überkorrektheit, die ihn manchmal unangenehm an Percy Weasley erinnert hatte. Allem, was sie tat, hatte stets ein Hauch von 'zu viel' angehangen. Wenn das nun abgemildert war und einem nicht länger ins Gesicht sprang, war das eine positive Entwicklung.
So ließ er sie für den Moment erstmal in Ruhe – nicht, dass er eine Wahl gehabt hätte. Es wäre sehr heuchlerisch, sie nun dafür zu kritisieren, dass sie ihre Hand nicht mehr bei jeder Frage hob, wo er sie jahrelang genau dafür scharf zurecht gewiesen und lächerlich gemacht hatte.
Dennoch behielt Severus sie weiter im Auge, sowohl in seiner Klasse als auch außerhalb davon. Er redete sich ein, dass es ihm lediglich darum ging, besorgniserregende Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen, aber im Grunde seines Herzens wußte er, dass er sich selbst belog. Es war ihm einfach unmöglich, sie nicht zu beobachten. Sie war ständig in seinen Gedanken, ob er sie nun sah oder nicht. Ihr eines, nächtliches Treffen hatte ihn mehr aufgewühlt, als er bereit war, sich selbst einzugestehen.
Er verstand immer noch nicht genau, wie es passiert war. Mit ihrem beharrlichen, rationalen und mutigen Auftreten war sie ihm unter die Haut gegangen. Er hatte ein paar Tage gebraucht um ihr langes Gespräch zu verarbeiten. Er hatte sogar seine Erinnerung daran in einem Denkarium betrachtet, um sich zu vergewissern, dass er das alles nicht bloß geträumt hatte, und um sich über seine eigenen Gefühle klar zu werden.
Es war nicht zu leugnen: Sie hatte einen großen Teil seiner Welt auf den Kopf gestellt und seine Selbstwahrnehmung auf links gekrempelt. Zu behaupten, die Situation sei verwirrend, wäre milde formuliert. Auf jeden Fall warf sie eine ganze Reihe von Problemen auf.
Er wußte nicht, was er nun für sie empfand – seine Gefühle ihr gegenüber waren genauso ein wirres Durcheinander wie jene, die er für den Jungen-der-überlebt-hatte hegte.
Er war beeindruckt von ihr. Sehr sogar. Ihr Mut, ihre Aufgeschlossenheit und ihre unerschütterliche Loyalität erfüllten ihn mit Ehrfurcht. Ihr Intellekt, ihre Intuition und ihre Empathie waren erstaunlich für ein so junges Mädchen. Die Stärke, die sie angesichts all dessen, was sie durchmachen mußte, bewiesen hatte, war bewundernswert. Nichtsdestotrotz hatte sie seinen Beschützerinstinkt geweckt.
Vielleicht war dies die erstaunlichste Tatsache, da er eigentlich nie das Bedürfnis empfunden hatte, irgendjemanden beschützen zu wollen, nicht mal Potter. Ihn am Leben zu halten war eine Verpflichtung gewesen, eine Verantwortung, der er nachgekommen war, aber sicher nicht etwas, das einem inneren Wunsch entsprungen war.
Er fragte sich, warum sie so starke Gefühle in ihm auslöste. Vielleicht weil sie – ungeachtet ihrer Stärke – so zart und zerbrechlich wirkte seit sie nach Hogwarts zurückgekehrt war? Sie war schon immer ein kleines Ding gewesen, aber jetzt war sie zu dünn, zu blaß. Ihm war aufgefallen, dass sie bei den Mahlzeiten kaum etwas aß. Oft lud sie sich zwar den Teller voll, begnügte sich aber damit, das Essen darauf herumzuschieben, kaum dass sie ein paar Bissen gegessen hatte.
Als Lehrer fühlte er sich für das Wohlergehen seiner Schüler verantwortlich, und dieses Pflichtgefühl schloss auch Gryffindors mit ein. Aber er konnte den Verdacht nicht abschütteln, dass das, was er fühlte, mehr war als die Verantwortung eines Lehrers für seine Schüler. Etwas in ihr sprach ihn an, berührte ihn – etwas, das er nur auf einer unbewußten Ebene wahrnahm.
Und so beobachtete er sie weiterhin, auf der Suche nach Hinweisen darauf was es sein konnte, das ihn so seltsam – verstrickt hatte.
A/N: Dies ist eine Übersetzung meiner zuerst auf Englisch geschriebenen Geschichte. Ich habe durchaus die Absicht, weiter an der deutschen Fassung zu arbeiten, aber nur, wenn ich das Gefühl habe, dass sie auch auf Interesse stößt. Bei den 'Nimmerfeen' war das hier auf fanfiction net leider recht verhalten.
Ich will nicht um Reviews betteln, aber es ist Arbeit, eine Story zu schreiben, zu übersetzen und zu posten. Wir Hobby-Autoren machen das nicht für Geld, aber für die Freude über den Austausch mit den Lesern und wegen des Feedbacks. Wenn ihr also Interesse habt, die deutsche Fortsetzung zu lesen, lasst es mich wissen! :)
