Ein Blick sagt mehr als tausend Worte
Er ist so ein Angeber...
Unauffällig hebe ich die Hand zum Kopf, stütze mich so darauf ab, dass ich James nicht mehr dabei zusehen muss, wie er Peter mit seinen Schnatzkunststückchen zum Jubeln bringt. Eigentlich kann ich mich nicht beschweren - es ist ein wunderschöner Junitag, die Prüfungen sind gut gelaufen und ich sitze, ein Buch im Schoß, mit meinen besten Freunden entspannt unter der großen Buche am See.
Davon abgesehen, dass mir meine besten Freunde in diesen Tagen unerträglich erscheinen. Eine ungleiche Truppe sind wir. James und Sirius, die beiden Helden, Peter und ich, die beiden Mitläufer. Ich mustere Peter, wie er James mit unverhohlener Bewunderung anstarrt und Beifall klatscht, wenn dieser den Schnatz mal wieder beinahe entwischen lässt und dann doch wieder einfängt. Natürlich gehört der Schnatz ihm nicht wirklich.
Bin ich wirklich so wie Peter? Mitläufer sein kann man aus zwei Gründen... entweder, man bewundert den anderen für alles, was er tut, oder man hat keine andere Wahl. In letztere Kategorie falle ich dann wohl.
Wie könnte ich James sagen, dass er ein unglaublicher Angeber ist? Wie sollte ich Sirius klar machen, dass mir sein oberflächliches Getue auf die Nerven geht? Wie könnte ich Peter ehrlich ins Gesicht sagen, dass er ein erbärmliches Wesen ohne eigenen Willen ist? Wie sollte ich das tun, ohne die einzigen Menschen auf der Welt zu verlieren, die mich für das akzeptieren, was ich bin? Niemals...
Sie kennen und akzeptieren den Werwolf in mir... doch sie wissen nicht, wie ich wirklich bin. Und ich wüsste nicht, wie sie es jemals erfahren sollten. Bei ihnen dreht sich alles um den Spaß, gerne auch auf Kosten anderer. Ohne Rücksicht auf Verluste... aber sie werden weiterhin damit durchkommen. Solange sie ihre Hausaufgaben von mir abschreiben können, solange sie wahnsinnig gut aussehen, solange sie ihre Popularität stets dadurch steigern, indem sie sich beliebte Opfer suchen.
So wie...
„Schniefelus!" Sobald ich Sirius' bedrohlich sanfte Stimme frohlockend diesen Namen aussprechen höre, schwant mir Übles. Ein flüchtiger Blick nach vorne bestätigt meine Annahme, dass Severus auf der Bildfläche erschienen ist. Schnell wende ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Buch zu. Vielleicht passiert einfach gar nichts, wenn ich nicht hinsehe...
Doch weit gefehlt. Schon sind James und Sirius auf den Beinen und stellen sich dem schmächtigen, blassen Slytherin in den Weg, entwaffnen ihn, beleidigen ihn, verhexen ihn. Ich kann nicht hinsehen, schiele aber dennoch ab und zu durch einige herabhängende Haarsträhnen zu der Szene hinüber.
Ein ganzes Träubel Schüler hat sich mittlerweile um die drei versammelt und johlt vor Schadenfreude, als Severus Seife spuckend und fluchend über den Boden kriecht. Ich möchte im Erdboden versinken, so sehr schäme ich mich dafür, mit James und Sirius befreundet zu sein. Sicherlich ist Severus nicht gerade der nette Junge von nebenan, der sich nie etwas hat zu Schulden kommen lassen. Er ist durch und durch Slytherin, hasserfüllt, boshaft und beleidigend. Dennoch hat auch er es nicht verdient, von einer Übermacht überfallen und gedemütigt zu werden. Dass er nicht eben beliebt ist, lässt sich an der Schadenfreude auf fast allen Gesichtern erkennen, die das Spektakel gespannt verfolgen... und in diesem Moment fühle ich mit ihm.
Ich weiß nur zu gut, wie es ist, von allen geächtet zu werden. Nicht akzeptiert zu werden. Und doch weiß ich - würde ich jetzt aufstehen und meine Freunde auffordern, ihn in Ruhe zu lassen, würde er mir dennoch nichts als kalte Verachtung entgegenbringen. Denn schließlich hasst er mich auch... und ist es ihm zu verübeln?
Nun ist es soweit, James holt zum vernichtenden Schlag aus, der Severus in die Luft schleudert und kopfüber hängen lässt. Genau in diesem Augenblick teilt sich die umstehende Menge ein wenig und ich habe freie Sicht. Und da trifft mich sein Blick. Nur für den Bruchteil einer Sekunde sehen wir uns in die Augen, bevor ihm seine Roben über den Kopf fallen. Ich sitze erstarrt, wie vom Donner gerührt. Noch nie im Leben habe ich einen so intensiven Blick gesehen. Bestehend aus purer Verachtung, natürlich. Und doch scheint dahinter noch viel mehr gelagert zu sein. Hass, Verzweiflung über die eigene Hilflosigkeit... und noch viel mehr, was ich in diesem Moment nicht zu deuten vermag.
Was im Folgenden geschieht, nehme ich nicht mehr richtig wahr. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, bis James sich auf einmal wieder neben mich fallen lässt und mir derbe auf die Schulter klopft.
„Na, dem haben wir's heute mal wieder richtig gezeigt, wie?", tönt er lobheischend und erweckt mich damit aus meiner Trance. Verwirrt stelle ich fest, dass sich die grölende Menge wieder aufgelöst hat, von Severus ist keine Spur mehr zu sehen.
„Ja", erwidere ich und bemühe mich, mein übliches anerkennendes Lächeln aufzusetzen.
Was ist da nur eben geschehen?
