Kapitel 1: "Your love is gonna drown"
Rokko liebte Lisa. Und Lisa? Lisa liebte David. Nur dass David, der sie ja eigentlich auch liebte, das vergessen hatte. Auf einem Empfang hatte sie ihn eben mal wieder mit einem Model knutschend in einer Ecke gefunden. Fassungslos hatte sie mit ansehen müssen, wie er sie betrog...
Und so kam es, dass Lisa tränenüberströmt durch die Oranienburger Straße lief. Rokko lief neben ihr und hielt ihre Hand. Ihre wunderbare, weiche Hand.
"Lisa, soll ich dich nach Hause bringen?"
"Nein."
"Nein?"
"Nein. Mama und Papa sind nicht da. Und ich will heute nicht allein sein. Kann ich.. kann ich vielleicht mit zu dir kommen?"
Sie weinte noch immer bitterlich. In diesem Zustand konnte Rokko ihr nichts abschlagen, auch wenn er ihre Nähe nur schwer ertragen konnte, seitdem sie sich für David von ihm getrennt hatte.
"Okay", flüsterte er und drückte ihre Hand.
Wenige Minuten später waren sie an seiner Wohnung angekommen. Rokko suchte mit seiner freien Hand nach dem Schlüssel und schloss auf. Nachdem er die Tür aufgestoßen hatte, zog er Lisa mit sich hinein. Er half ihr dabei, ihren Mantel auszuziehen und geleitete sie zum Sofa, auf dem sie nun Platz nahm. Rokko holte ihr ein Glas Wasser aus der Küche und reichte es Lisa.
Dann setzte er sich neben sie und nahm sie in den Arm. Sanft strich er über ihre Haare. Es brauchte eine Weile, bis Lisa sich wieder beruhigt hatte. Sie löste sich wieder von ihm und setzte sich aufrecht. Lange sah sie nur stumm nach vorn und Rokko wusste, dass sie die vergangenen Monate vor ihrem inneren Auge ablaufen sah.
Am Anfang waren Lisa und David sehr glücklich gewesen und Rokko hatte es in dieser Zeit vorgezogen, so weit es ging zu Hause zu arbeiten. Doch dann hatte er schon bald bemerkt, dass Lisa ruhiger wurde, weniger fröhlich, weniger verliebt wirkte. Er besann sich und kehrte in sein Büro zurück. Als sie sich von ihm getrennt hatte, hatte er ihr schließlich versprochen, ihr immer beizustehen. Heute Abend hatte er sie nur zu dem Empfang bringen wollen, weil David bereits voraus gegangen war. Rokko hatte erst ein Glas Sekt mit Lisa getrunken und war im Begriff zu gehen, als Lisa, die so eben auf die Suche nach David gegangen war, weinend in seine Arme gestürzt war.
Und nun saßen sie hier, ohne etwas zu sagen. Was sollte Rokko auch sagen? 'Hey, das hättest du auch vorher wissen können? David Seidel wird sich nie ändern!' Nein, das konnte er nicht, obwohl das der Wahrheit entsprach.
"Ich verstehe es nicht."
"Hm?" Lisa hatte ihn aus seinen Gedanken gerissen.
"Ich verstehe es nicht. Er sagt, er liebt mich. Gerade heute morgen erst wieder. Und dann... dann betrügt er mich immer und immer wieder. Ich kann nicht mehr. Ich kann so nicht weiter machen."
"Lisa..." Er nahm sie wieder in den Arm. Wieder liefen ihr dicke Tränen die Wangen hinunter. Rokko suchte nach einem Taschentuch und tupfte damit sanft ihr Tränen weg.
"Wenn ich ihm doch auch nur so weh tun könnte, wie er mir."
Woher die Idee kam, die er daraufhin geäußert hatte, wusste Rokko später nicht mehr zu sagen. Er hatte sie auch einfach so vorgeschlagen, ohne über jegliche Konsequenzen nachzudenken.
"Heirate mich."
"Genau."
"Was?"
Lisa war schon davon überzeugt. "Genau. Ich heirate dich."
Sie sahen sich direkt in die Augen und Lisa nickte langsam.
"Ich war immer dann interessant für ihn, wenn er mich nicht haben konnte. Sollte er dann noch mal was von mir wollen, wird er kämpfen müssen. Heirate mich."
"Bist du dir sicher, dass du das machen willst?"
Lisa nahm Rokkos Hände in ihre. "Rokko, wenn du zustimmst, können wir gleich heiraten."
"Aber wir müssten dann ja auch... also, zusammenziehen."
"Oh, daran hatte ich nicht gedacht. Wenn dir das natürlich nicht passt, dann tun wir es nicht."
Rokko sah in Lisas Augen, die eben noch hoffnungsvoll gestrahlt hatten. Er verfluchte sich selbst dafür, dass er sie so sehr liebte, dass er ihr nichts abschlagen konnte.
"Einverstanden. Aber dann machen wir das auch richtig."
Rokko rutschte vom Sofa und kniete sich vor Lisa.
"Lisa Plenske, möchtest du meine Frau werden?"
"Ja... ja ich will."
Sie strahlte ihn wieder an und fiel ihm um den Hals. Als sie sich wieder von einander lösten, grinste er sie an.
"Ich habe einen Ring für dich. Den hol ich nur schnell und dann können wir los."
"Nein. Noch nicht. Lass mich kurz noch ins Bad. Ich will doch schön sein für unsere Hochzeit."
Lisa wusch sich das Gesicht, trocknete es ab und suchte dann in ihrer Tasche nach ihrem Lipgloss. Behutsam trug sie ein wenig davon auf. Ihre Haare bürstete sie durch und band sie zu einem Pferdeschwanz. Ihre Brille, die von den Tränen ganz schmutzig geworden war, musste sie auch putzen. Sie strich ihr Kleid glatt, dass sie sich extra von Hugo für den Empfang hatte geben lassen - dunkelblau, elegant, mit weitem Rock. Als sie sich selbst für ganz passable fand, trat sie wieder aus dem Badezimmer und wäre beinahe mit Rokko zusammen gestoßen, der aus dem Schlafzimmer kam.
"Oh, entschuldige bitte!", rief Lisa. Sie besah ihn von oben bis unten. Er hatte sich umgezogen und trug nun einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd dazu und eine Krawatte wie gewohnt unter dem Hemd. Lisa streckte ihre Hände nach der Krawatte aus und richtete sie ein wenig. Sie lächelte ihn an und ergriff seine Hand, nachdem sie sich die Mäntel angezogen hatten.
Wieder liefen sie neben einander. Zur kleinen Kapelle, die am Ende der Oranienburger Straße war, konnten sie auch laufen. Sie hatte gerade erst vor wenigen Monaten geöffnet - ganz im Stile der in Las Vegas typischen Kapellen für besonders eilige Heiratswillige.
"Wo hast du eigentlich den Ring her?", wollte Lisa wissen, um so ihre Nervosität zu überspielen.
"Von meiner Großmutter."
Lisa sah ihn groß an.
"Ja, weißt du, sie hat ihn mir gegeben mit den Worten: Mein Junge, gib den der Frau, die du heiraten wirst. Und das bist du ja nun mal."
Er versuchte ein fröhliches Lächeln. Aber Lisa war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass sie Rokko quasi einen Ring wegnahm, der für seine zukünftige Frau gedacht war. Rokko spürte, dass sie unsicher war.
"Lisa, es ist okay. Es ist ja auch ein ziemlich altes Ding."
Beruhigend drückte er ihre Hand. So betraten sie die Kapelle.
Als Rokko ihr wenig später den Ring ansteckte, sah Lisa, dass es sich zwar tatsächlich um einen alten, aber auch wunderschönen Ring handelte: Gold mit einem kleinen Diamanten.
Der Kuss war kurz, aber süß und sanft. Nach der Trauung machte eine Frau mit roten Haaren noch ein paar Bilder von ihnen. Dann verließen sie die Kapelle wieder und standen auf der regennassen Straße.
"Und morgen kaufe ich dir einen Ring", war das erste, was Lisa sagte. Rokko nickte nur. Er blickte auf die Urkunde, die man ihm in die Hand gedrückt hatte: Lisa und Rokko Kowalski. Er konnte es immer noch nicht fassen. Lisa war seine Frau - aber zu welchem Preis?
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aus: "Marching Bands of Manhattan" (Death Cab For Cutie)
