Von Brüdern und Schwestern – Geschwister unter sich
1.
Elisabeth Plenske. E-li-sa-beth Plens-ke. E-lisa-beth Plens-ke. So war sie also zu ihrem Spitznamen gekommen, dachte Trina bei sich. Was sie wohl für ein Mensch ist? Ein ganz normaler, hatte ihr Rokko an diesem Morgen noch gesagt. Ja, er musste einfach Recht haben. Solange sie sich erinnern konnte, hatte Rokko immer Recht gehabt. Berlin bringt uns Glück, das hatte er ihr vor einem Jahr auch gesagt. Aber hatte es ihr wirklich Glück gebracht? Nein, nur einen Umzug mitten in der Oberstufe und eine neue Schule, an der sie nicht akzeptiert wurde. In Hamburg hatte sie auch nicht viele Freunde, aber immerhin hatte sie dort welche. In Berlin war sie meistens alleine und um diese Stelle bei Kerima hatte sie wahrlich kämpfen müssen. Heute war ihr erster Arbeitstag und die Arbeit machte ihr Spaß. Max Petersen, der Personalchef, hatte sie damit beauftragt, Unterlagen zu Lisa Plenske zu bringen. Lisa Plenske, die Mehrheitseignerin, ihre Chefin und wenn man der Presse glauben durfte, ein Mädchen wie sie und sie hatte es nach ganz oben geschafft. Trinas Nervosität wuchs mit jeder Sekunde, die sie vor Lisas Bürotür stand. „Wollen Sie denn nicht reingehen, Frau Kowalski?", riss eine freundliche Frauenstimme sie aus ihren Gedanken. „Oh ja, natürlich, Frau Seidel-Brahmberg." – „Von Brahmberg-Seidel." Rokko würde jetzt sagen: Wer sich zwischen Schwarz und Weiß nicht entscheiden kann, muss mit dem Mist, den Grau verzapft, leben. Trina hingegen war es nur peinlich, dass sie Mariellas Familiennamen in der falschen Reihenfolge gesagt hatte. „Frau Plenske beißt auch nicht… nicht mehr, seit der Impfung." – „Seit der Impfung?" – „Ja, Tollwut, Staupe, Zwingerhusten." Mariellas Scherz half Trina dabei, ihre Angespanntheit zu überwinden. „Okay." Sie klopfte, straffte ihren Rücken und strich noch einmal über ihre Haare. Ihre dunkelbraunen Haare waren eigentlich schulterlang, aber sie lockten sich so stark, dass sie ihr nur bis unter die Ohren reichten. Trina war extra früh aufgestanden, um sie zu bändigen und war mit dem Ergebnis recht zufrieden: Mit Klemmen hatte sie sie fixiert und so sah Trina im Profil aus, als hätte sie einen großen dunkelbraunen Busch am Hinterkopf. Schnell zog sie ihren Rock glatt. Rokko hatte ihr angeboten, mit ihr shoppen zugehen, aber sie hatte abgelehnt – diesmal wollte sie ausnahmsweise auf seine beschützende Hilfe verzichten. Nachdem Abitur hatte sie die Wochen bis zu ihrem Ausbildungsbeginn bei Kerima mit Gelegenheitsjobs überbrückt. Für ihr heutiges Outfit hatte sie ziemlich viele Kaffees verkauft und Zeitungen ausgetragen. Und was hatte es ihr gebracht? Einen Rüffel von Hugo Haas: „Das ist aber von der Konkurrenz." Richtig, es war nicht aus dem Hause Kerima – deren Stil war ihr einfach zu auffällig. Rokko machte das ja nichts aus, aber sie war halt nicht Rokko. Sie mochten vielleicht die gleichen Gene haben, aber in diesem Punkt hätten sie unterschiedlicher nicht sein können: Rokko war so extrovertiert, ging so offensiv auf seine Mitmenschen zu und war so selbstbewusst. Trina hingegen war eher zurückhalten, still, schon fast verstockt. „Herein!", erklang eine Stimme. Trina atmete noch einmal tief durch und trat dann in den Raum. Das ist sie also? Das ist Lisa Plenske? Trina war…ja, was war sie eigentlich? Enttäuscht? Überrascht? Sie hatte das Gefühl sie würde in einen Spiegel sehen, der die Farben verzerrt. Sie hatte den Eindruck sie würde in ihr eigenes Gesicht sehen – nur blond und blauäugig. „Bitte?" wurde Trina von der freundlichen jungen Frau gefragt. Trug sie eine Zahnspange? Die Chefin eines Modeunternehmens trägt Zahnspange? Trina fühlte sich erleichtert. Den ganzen Tag versuchte sie schon, ihre eigene Zahnspange zu verstecken. Sie hatte ihren Kieferorthopäden bekniet, sie herauszunehmen, bevor ihre Ausbildung begann, aber sie war vertröstet worden – höchstens noch bis Jahresende. Das war noch über ein viertel Jahr! „Die hier… Herr Petersen will, dass ich Ihnen diese Akten bringe." – „Danke." Lisa nahm ihr die Papiere ab und setzte sich an ihren Schreibtisch. Trina wusste nicht, was sie jetzt tun sollte. Sollte sie gehen? Oder bleiben? Herr Petersen hatte doch gesagt… „Ist noch irgendetwas?" – „Ähm ja, Herr Petersen wünscht, dass Sie mich behalten." Lisa zog amüsiert die Augenbrauen hoch. „…äh mich hier behalten. Also, ich soll Ihnen hier zur Hand gehen." – „Aha. Ich behalte aber nichts, was freihändig zur Tür reinkommt und autonome Entscheidungen trifft." – „Ich…ich treffe keine autonomen Entscheidungen." Lisa machte große Augen. „Außer, es wird verlangt." – „Am besten, Sie setzten sich mal einen Moment." Lisa deutete auf einen Stuhl vor ihrem Schreibtisch. „Sie sind die neue Auszubildende?" – „Ja, ich bin Trina Kowalski. Äh, Katarina Kowalski." – „Trina? Ist das Ihr Spitzname?" Trina fühlte sich ertappt und wurde feuerrot. „Ja, ich konnte als Kind Katarina nicht richtig sagen und darum…" Sie brach mitten im Satz ab. Das passierte ihr öfter, besonders, wenn sie nervös war. „Darf ich auch Trina zu Ihnen sagen?" – „Sehr gerne." Trina spürte, wie sie langsam entspannte. „Es ist wohl etwas verfrüht, zu fragen, ob Sie sich schon bei uns eingelebt haben, oder?" – „Ähm, ja, das ist mein erster Tag heute." – „Ich weiß. Wenn Sie bei irgendetwas Hilfe brauchen oder Fragen haben, Sie können gerne zu mir kommen." Kerimas Mehrheitseignerin würde sich persönlich um sie, die poplige Azubine, kümmern, wenn Bedarf bestand? Wow, wenn sie das Rokko erzählte, dann kippt der bestimmt nach hinten um – das übertraf selbst ihn und seine Lockerheit. „Vielen Dank." – „Sagen Sie, wann haben Sie Berufsschule? Haben Sie Blockunterricht?" – „Nein, ich habe donnerstags Berufsschule und jede zweite Woche auch mittwochs." – „Das trifft sich hervorragend. Dann können wir Sie viel besser einplanen. Wie stellt Herr Petersen sich das eigentlich vor? Das Mir-zur-Hand-gehen, meine ich."
Ihr erster Arbeitstag war wie im Flug vergangen und Trina stand im Foyer von Kerima Moda und wartete auf Rokko. Er hatte ihr versprochen, sie abzuholen, sie wollten dann gemeinsam essen gehen und hinterher ins Kino. Darauf hatte Trina sich in jeder freien Minute gefreut. Diese Bruder-Schwester-Abende waren selten geworden seit Rokko so gefragt war in der Werbewelt. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass er schon 15 Minuten zu spät war. Hoffentlich ist nichts passiert, war ihr erster Gedanke. „Trina, Sie sind ja noch hier! Sie sollten wirklich nach Hause gehen, die Zeiten, in denen Sie Ihre Nächte bei Kerima verbringen werden, kommen früh genug." Lisa hatte sich lächelnd zu ihr begeben. Sie war gut bepackt mit ihrer Handtasche, ihrer Laptoptasche und ein paar Akten, die sie offensichtlich mit nach Hause nehmen wollte. „Trine wartet auf ihr Bruderherz", bemerkte Kim spitz, als sie auf den Fahrstuhl zuhielt. „Stell dir vor Lisa, ihr Bruder ist Rokko Kowalski, dieser Werbekomet. Wir warten schon gespannt auf sein Auftauchen, aber Schmuddeltrulla hier hat das bestimmt nur erfunden, um sich interessant zu machen." Trina war betreten. Gut, sie hatte vielleicht nicht die topangesagten Klamotten, aber sie war bestimmt nicht schmuddelig. Insgeheim hatte sie gehofft, die Zeiten, in denen sie keine Freunde hatte, würden bei Kerima aufhören, dass sie hier die Chance auf einen Neuanfang kriegen würde, dass sie Berlin vielleicht doch noch lieb gewinnen würde. Glücklicherweise hielt Kim sich nicht weiter damit auf, sie zu piesacken. „Ja, mein Bruder wollte mich abholen, wir wollen…äh…" – „…Ihren ersten Arbeitstag feiern? Das ist großartig. Das haben Sie sich verdient, aber übertreiben Sie es nicht, morgen ist auch wieder ein Arbeitstag", mahnte Lisa sie augenzwinkernd. „Nein, natürlich nicht." Trina war enttäuscht, dass Rokko immer noch nicht da war. „Machen Sie sich keine Gedanken, den Berliner Verkehr unterschätzt man schnell, er ist bestimmt jede Minute hier. Vielleicht wartet er auch unten auf Sie. Und wegen Kim… Die markiert nur ihr Revier, sobald sie sich an den Gedanken gewöhnt hat, dass Sie jetzt auch hier sind, wird Sie bestimmt nicht mehr so zickig sein." Trina nickte. „Dann wünsche ich Ihnen und Ihrem Bruder – unbekannterweise – einen schönen Abend." – „Ja, gu…guten Abend, Frau Plenske."
