Kapitel 1 „Wie klein die Welt doch ist"
An diesem frühen und sehr kühlen Wintermorgen betrat Lily Evans die einzige Gaststube weit und breit in einem kleinen abgelegenen Ort von Transsylvanien. Erleichtert angekommen zu sein, stellte sie ihr schweres Gepäck neben sich auf den Holzfußboden ab und sah sich in dem kleinen gemütlichen Raum um.
Eine etwas heruntergekommene Bar stand in einer dunklen Ecke und vereinzelte Holztische mit dazugehörigen Stühlen waren im Zimmer aufgeteilt. Die Vorhänge hingen leicht schlaff herab und schienen ausgebleicht und ziemlich alt zu sein. Zusätzlich lag ein eigenartiger Geruch, den sie jedoch nicht genau identifizieren konnte, in der Luft und ihr fiel auch auf, dass sonst kein Gast weit und breit zu sehen war. Der Raum war wie ausgestorben. Jedoch war ihr das gerade Recht, denn zum Ausspannen benötigte man ja schließlich Ruhe.
Lily war sehr froh, dass sie ihre freien Tage in dieser schönen Schneelandschaft, weit weg von dem stressigen Alltag und von den trüben und hoffnungslosen Gesichtern im Ministerium, verbringen konnte und genau deswegen hatte sie sich auch Transsylvanien ausgesucht.
Obwohl ihr Job ihr wirklich Spaß machte, war er doch extrem anstrengend und Energie aufwendig. Eine Aurorin hatte es nun mal in den dunklen Zeiten von Lord Voldemorts Herrschaft nicht leicht. Immer wieder hatte sie es mit Todesfällen, Kämpfen und ähnlichem zu tun, was verhängnisvoll und ohne Ende zu sein schien. Trotzdem war sie immer darauf bedacht ausgeschlafen und voller Tatendrang zur Arbeit zu kommen. Da sie aber in letzter Zeit ziemlich ausgelaugt war, hatte sie ihren Chef schließlich und endlich doch um Urlaub gebeten. Dieser ließ sie ungern gehen, da sie ihren Beruf nach ihm zu urteilen wirklich gut meisterte und Auroren in letzter Zeit sehr oft gebraucht wurden, aber er musste dennoch einsehen, dass auch sie einmal Urlaub verdient hatte und so gab er ihr für ganze drei Wochen frei.
Zudem war sie auch froh für einige Zeit James Potter, einen ehemaligen Mitschüler, nicht mehr sehen zu müssen, der leider das gleiche Berufsziel gewählt hatte, was sie aber nicht daran hinderte, es trotzdem auszuführen. Potter lief ihr schon seit der vierten Klasse auf Hogwarts, der Schule für Hexerei und Zauberei, hinterher und alles, was sie auch getan hatte, hatte ihn nicht daran gehindert, jede Chance, die sich ihm bot, auszunutzen, um sie anzugraben. Nach ihrer Meinung konnte er Kopfstand vor ihr machen und dabei ein Liedchen trällern, sie hatte auf keinen Fall vor mit ihm auszugehen, geschweige denn, etwas mit ihm anfangen zu wollen.
Lange brauchte sie nicht zu warten, da tauchte auch schon ein Mann aus einer Hintertüre auf und kam um die Theke herum auf sie zu. Lily schätzte ihn auf etwa um die fünfzig Jahre. Eigentlich machte er mit seinem Schnauzer und dem lustigen Hut auf dem Kopf einen recht sympathischen Eindruck.
Als er vor Lily stand, begrüße er sie und seine Augen leuchteten sie freundlich an:
„Guten Morgen, Miss. Kann ich Ihnen behilflich sein?" Er schien froh zu sein, endlich mal einen Gast sehen zu können, was man ihm auch nicht verdenken konnte, denn das Gasthaus sah nun wirklich nicht nach einem Luxushotel aus.
„Hallo. Sie sind der Besitzer Mr. Chagal, wenn ich mich nicht täusche? Ja, können Sie. Ich habe hier ein Zimmer unter dem Namen Lily Evans reserviert", erwiderte sie ebenso freundlich und lächelte ihm zu.
„Ach ja, Sie sind das also. Willkommen, Miss Evans. Meine Tochter müsste Ihr Zimmer bereits hergerichtet haben. Wenn Sie mir doch bitten folgen würden." Er deutete mit einer Geste in Richtung einer schmalen Holztreppe, die in das Obergeschoß führte.
Kaum hatte Lily hingesehen, schon tauchte dort eine Person auf, die sie nur allzu gut kannte und der sie in diesem Urlaub neben Voldemort wohl am aller wenigstens begegnen hatte wollen.
„Potter! Was machst du denn hier?", fragte sie schnippisch. Jetzt würde wohl ihr Urlaub nicht mehr so Ruhig werden, wie sie es sich vorgestellt hatte.
„Oh, hi Lily", gab er freundlich Grinsend zurück und lehnte sich dabei seitlich gegen die Wand zum Treppenansatz, „was für ein Zufall, dass wir uns gerade hier treffen. Ich will hier Urlaub machen, und du?"
Lily verdrehte innerlich die Augen. Das war sicherlich kein Zufall! Potter hatte hundertprozentig den Urlaubsplatz hier wegen ihr gewählt. Wie er raus gefunden hatte, wohin sie reisen wollte, war ihr allerdings schleierhaft. Hatte sie denn auch nie Ruhe von diesem Kerl?
„Ja, welch ein Zufall. Ich wollte hier auch Urlaub machen...", setzte sie knapp hinzu. In dem Augenblick wollte sie nur noch auf ihr Zimmer. Nicht nur, weil Potter sie wieder unheimlich nervte, sondern auch, weil die Anreise ziemlich anstrengend gewesen war und sie ein bisschen Schlaf nachholen wollte.
„Wie klein die Welt doch ist", lächelte James und fuhr sich wie üblich mit der Hand durch sein sowieso schon zerzaustes schwarzes Haar, so dass er es noch mehr durcheinander brachte. Wie sehr Lily es doch hasste, wenn er das tat.
„Viel zu klein", grummelte sie leise.
„Ich möchte Ihre Unterhaltung ja nur ungern stören, aber ich muss noch etwas erledigen. Ihr Zimmer ist die erste Türe links neben dem Treppenaufgang. Falls Sie noch etwas benötigen, dann rufen Sie einfach nach mir oder meiner Tochter Sarah. Ach ja, das hier ist Ihr Schlüssel", mischte sich nun der Wirt Chagal in das Gespräch ein, worüber Lily eigentlich ganz froh war. Er übergab ihr den Zimmerschlüssel.
„Okay, ich danke Ihnen", bedankte sich Lily bei ihm, nahm ihren Koffer und ging dann ohne James noch eines Blickes zu würdigen an ihm vorbei nach oben.
„Ich bringe Ihnen beiden Ihr Frühstück in Kürze", rief der Wirt noch zu Lily und James, bevor er wieder durch die Hintertüre verschwand.
„Danke", antwortete James und ging Lily folgend ebenfalls die Treppen nach oben.
Lily war inzwischen oben angekommen und schloss mit dem eben bekommenen Schlüssel ihre Zimmertüre auf, als sie abermals Potters Stimme dicht hinter sich hörte.
„Kann ich dir irgendwie helfen?", fragte er zur Abwechslung mal wie ein Gentleman.
„Nein, danke", erwiderte sie leicht trotzig und drehte sich mit verschränkten Armen zu James um. Dieser sah sie nun leicht fragend an.
„Hey, schlechte Laune?"
„Nein, ich bin eigentlich hergekommen um meinen Urlaub zu genießen und nicht..." Sie beendete den Satz nicht und fügte nur noch hinzu: „Ach, vergiss es!"
James war nach ihren Worten jetzt leicht geknickt.
„Bin ich etwa so schlimm?", murmelte er zerknirscht.
Lily konnte bei seinem Anblick nicht so stur bleiben, wie sie eigentlich gewollt hatte.
„Hab ich das gesagt?"
„Na ja, so hört es sich jedenfalls an." James zuckte mit den Schultern.
„Ach, vergiss es einfach, okay?" Lily verdrehte abermals die Augen. Jetzt hätte er es doch beinahe geschafft, dass sie Mitleid mit ihm hatte.
„Ok, ok", meinte James und musterte sie mit einem leicht verträumten Blick, was Lily sagte, dass er wohl wieder mit den Gedanken in seiner Traumwelt war und dabei sicher nichts Gutes herauskommen würde.
„Hast du nicht noch etwas zu tun?", unterbrach Lily die Stille, denn James' Blick war ihr doch leicht unangenehm.
„Doch, ich wollte spazieren gehen, aber alleine ist es so langweilig. Hättest du vielleicht Lust mich zu begleiten?", fragte er erwartungsvoll und man konnte erkennen, dass er auf diese Frage gebrannt hatte.
„Das würde ich wirklich gern, aber... wie du siehst, bin ich eben erst angekommen und fast die halbe Nacht unterwegs gewesen. Ich bin echt kaputt, entschuldige... vielleicht heute Nachmittag, ja?", antwortete Lily prompt und konnte nicht fassen, dass sie wirklich angeboten hatte, mit ihm spazieren zu gehen. Aber irgendwie war seine Anfrage heute doch recht niedlich gewesen und ein Unmensch wollte sie ja nun auch nicht sein. Aus der Situation sollte man wohl das Beste machen.
James nickte und lächelte wieder.
„Gut, ich will ja nicht, dass du umkippst. Wir sehen uns dann später. Erhol dich gut." Mit diesen Worten ging James mit einem letzten Zuzwinkern den Gang entlang und auf sein Zimmer.
Als er die Türe hinter sich geschlossen hatte, betrat auch Lily endlich ihr eigenes Zimmer. Es sah recht gemütlich aus. Zwar wirkten Möbel und Textilien schon ziemlich alt wie, aber sie waren noch immer in gutem Zustand und so begann sie sich sofort wohl zufühlen. Sie legte ihren Koffer auf das Bett, öffnete ihn, packte gemütlich ihre Klamotten in den dafür vorgesehen Schrank und ein paar persönliche Sachen in ihre Nachttischschublade. Als alles verstaut war, legte sie den Koffer unter das Bett und ließ sich nachdenklich auf die Kissen fallen. Auf wundersame Weise schweiften ihre Gedanken zu Potter und sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Er war es doch nicht Wert, dass sie über ihn nachdachte, schließlich hatte er ihr soeben ihren Urlaub vermurkst.
Auf einmal klopfte es und sie sah verwundert auf. Wer konnte das jetzt denn schon wieder sein? Wenn es Potter war, würde sie ihn auf jeden Fall energischer wegschicken, so schwor sie sich.
Lily erhob sich wieder und öffnete die Türe. Draußen stand zu ihrer Verwunderung aber nicht James, sondern der Wirt und überreichte ihr ein Frühstückstablett.
„Guten Appetit, wünsche ich", sagte er so freundlich wie noch wenige Minuten zuvor.
„Vielen Dank, das ist sehr nett", erwiderte Lily lächelnd und schloss die Türe erleichtert wieder. Sie stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch, der von einer kleinen Couch und zwei Sesseln umrundet war und ging, ohne dem noch eines weiteren Blickes zu würdigen, dann wieder zurück zum Bett. Jetzt ließ sie sich einfach rücklings darauf fallen und starrte an die Decke. Endlich alleine und kein Stress war für die nächsten drei Wochen vorauszusehen. So ließ es sich leben. Sie versuchte einfach mal James Potter zu vergessen und sich völlig zu entspannen. Nach einer Weile schloss sie die Augen und kaum fünf Minuten später fiel sie vor Müdigkeit in einen sanften Schlaf.
Währenddessen hatte die Wirtstochter Sarah, nachdem sie Lilys Zimmer hergerichtet hatte, das Gästehaus zur Hintertüre wieder verlassen und war in ihr eigenes kleines Wohnhaus nebenan gegangen, wo sie wieder ihrem Hobby nachging. Sarah setzte sich in ihren roten Lieblingssessel und nahm den ziemlich schweren Ordner mit den vielen Unterlagen, welcher auf dem Tisch vor ihr lag, zur Hand.
Wie lange suchte sie jetzt schon nach einem Mittel? Wie viele geliebte Menschen von ihr waren inzwischen dieser Rasse verfallen? Sie wollte nicht daran denken: und wie üblich, drängte es sie mehr heraus zu finden. Seit sie entdeckt hatte hatte, dass es sie gab, war sie fasziniert, doch als sie ihr ihre Mutter und ihren über alles geliebten Onkel genommen haben, wollte sie nur noch eines: Rache.
Tatsächlich hatte Sarah einige Beweismittel, dass es hier in der Nähe Vampire geben musste. Sie hatte schon von den unzähligen Geschichten gehört, welche von dem sagenumwobenen Schloss im tiefen Wald erzählten. Schon beim Ergründen dieser Legenden war ihr klar, dass nicht alles erfunden sein konnte und nachdem nicht nur sie um jemanden trauerte, war sie sie sogar mehr als sicher, dass sie existieren mussten. Nach der Auskunft ihres Vaters, die er ihr nur widerwillig gegeben hatte, sollte dort ein sehr zurückgezogener Graf von Krolock mit seinem Sohn leben. Er sei laut seines Wissens verwitwet und zudem sei noch nie wieder einer zurückgekehrt, der ihn je zu Gesicht bekommen hatte.
Des Öfteren wurden auch im Wald tote Körper gefunden, erfroren und mit Bissstellen an Hals-, Bauch-, Bein- und Fußschlagader, was Sarah wieder vermuten ließ, dass dieser Graf etwas mit Vampiren zu tun haben musste. Er war gar nicht anders möglich. Nun suchte sie nach einem sicheren Mittel, welches die Vampire tötete oder wieder zu Menschen werden ließ.
Seufzend legte sie ihren Ordner wieder weg und schlug in einem schweren alten Buch nach. Wenn sie dieses Mittel nicht bald finden würde, wäre es vielleicht irgendwann für alle zu spät und dann können die Vampire nach der Weltherrschaft greifen.
Zumindest war das ihre Vermutung, was die Vampirausbreitung anging. Mit dem Finger fuhr sie über die Seiten in der Hoffnung, etwas hilfsreiches zu finden, als sie plötzlich einen Freudenschrei ausstieß. Sie hatte es gefunden, die letzte Zutat für ihren Trank! Das einzige, was ihr noch fehlte!
Sarah legte das Buch zur Seite und verließ das Wohnzimmer in Richtung Schlafzimmer. Dort kramte sie in einer Holztruhe nach dem Lieblingskleid ihrer verstorbenen Mutter und zog es sich an. Als sie fertig war, betrachtete sie ihre Gestalt in dem großen Spiegel an der Schranktüre. Inzwischen stand es ihr wie angegossen. Ihre hellbraunen langen gelockten Haare fielen elegant auf ihre Schultern und rahmten ihr Gesicht schön ein. Doch im Augenblick gab es Wichtigeres zu tun, als sein Aussehen zu bewundern, denn sie musste das Kraut finden und das am Besten noch heute. Vielleicht würde sie es dann sogar bis zum Schloss des Grafen vor der Dunkelheit schaffen und endlich dem Spuk ein Ende setzen können. Zwar hatte es ihr der Vater verboten den Wald zu betreten oder sich vom Haus zu entfernen, aber sie konnte nicht anders.
Sie lief hastig wieder ins Wohnzimmer zurück, packte ihre Sachen in ein kleines Täschchen zusammen, zog sich einen warmen Wintermantel gegen die Kälte draußen über und verließ schnurstracks das Haus in Richtung Wald. Während sie durch den Schnee zum Wald tappte, sah sie sich immer wieder vorsichtig um, doch niemand war zu ihrer Erleichterung weit und breit zu sehen. Als Sarah den Waldrand erreicht hatte, atmete sie noch einmal tief durch und betrat die Finsternis von Bäumen und Gebüschen, um die Silbergänseblümchen, die letzte Zutat für ihren Plan gegen den Vampirismus, welche leider nur unter besonders vom Schnee geschützten Büschen wuchsen, zu finden.
