Weihnachten im Himmel
von
JoNiTo
Viele Jahre waren vergangen, das wussten sie, obwohl Zeit, dort wo sie waren, keine wirkliche Bedeutung hatte. Sie war nicht fassbar und so etwas wie Zeitmessung einfach nicht möglich. Hatte man zum Zeitpunkt seines Todes eine Uhr dabei, so nahm man sie zwar mit, wie alles was man in diesem Augenblick am Körper trug, aber sie war nutzlos. Egal was man tat, die Zeiger bewegten sich nicht, nicht einmal für eine Sekunde.
Manchmal vergingen Jahre wie Minuten, manchmal Sekunden wie Stunden, zumindest kam es einem so vor, aber genau wusste man es nicht.
Nur die seltenen Augenblicke, in denen man einen Blick hinunter werfen konnte, gaben einen vagen Anhaltspunkt. Aber auch diese Momente unterwarfen sich nicht der Zeit, es schien keine Regelmäßigkeit zu geben, bis auf eine Ausnahme:
an Heilig Abend.
Wie immer an diesem Tag saßen sie zu zweit auf einer Wolke und sahen hinunter auf die Erde. Andere Wolken zogen an ihnen vorbei und durchbrachen den dunklen Himmel, an dem unendlich viele Sterne leuchteten.
„Es wird schneien", sagte der Eine.
„Na und?", brummte der Andere. Er würde ohnehin nie wieder sehen, wie sich eine einzelne Flocke auf der warmen Haut seiner Hand in Wasser verwandelte, nie wieder dieses Geräusch hören, wenn der Schnee unter dem Gewicht seiner Schritte knirschte. Es war physikalisch einfach nicht möglich, dass Schnee nach oben fiel und auf einer Wolke liegen blieb.
„Es sieht doch schön aus, wenn Häuser, Wälder und Wiesen aussehen, als wären sie mit Puderzucker bestäubt. Die Konturen werden weicher und alles sieht so rein und unschuldig aus. Die Bäume, deren blattloses Geäst in weiß getaucht, gleich weniger trist aussehen."
„Pathos lässt grüßen", kommentierte der Jüngere die Sentimentalitäten seines Freundes.
„Ach! Und warum sitzt du dann hier und schaust auf Hogwarts hinunter?"
„Reine Neugier. Ich will wissen, ob sie wieder kommt, oder ob sie es endlich aufgegeben hat."
„Sie wird kommen, Severus."
„Woher willst du das wissen? Oh, ich vergaß. Der allwissende Dumbledore. Selbst im Himmel bleibt man davon nicht verschont", erwiderte er ätzend.
„Kein Grund ärgerlich zu werden", sagte Albus vergnügt.
„Wie machst du das? Auf der Erde konnte ich es mir ja noch erklären, wieso du fast immer alles schon vorher wusstest, durch irgendwelche Zauber oder Spitzel, aber hier... Erklär es mir!"
„Ich bin eine alte Seele, Severus. Mein Wissen bringt die Erfahrung mit sich. Und Offenheit... Wenn du dich ein Stück weit öffnen könntest, würdest auch du Dinge wahrnehmen."
„Wozu sollte ich das tun? Ich habe fast mein ganzes Leben lang mein Wesen und meinen Geist vor anderen verschlossen. Du selbst hast es mir bis zur Perfektion beigebracht."
„Es ist nicht wie Okklumentik oder Legilimentik. Es ist auch kein Gedankenlesen. Es ist eher mit Empathie vergleichbar. Du könntest Gefühle empfangen, die nicht die deinen sind, besonders wenn deine Seele die andere kennt", versuchte Dumbledore zu erklären. „Du würdest es einfach wissen, Severus, dass sie kommt."
Entsetzt drehte Snape den Kopf, um seinen ehemaligen Mentor direkt anzusehen. Er erwartete ein vergnügtes Gesicht, eines, indem die Augen nur so funkelten, doch Albus blickte ernst.
„Also kennt meine Seele die ihre?", fragte er ungläubig. Doch nur einen Moment später fand er eine für sich logische Erklärung. „Sie war meine Schülerin, natürlich kennen wir uns."
Der ehemalige Schuldirektor schüttelte den Kopf. „So funktioniert das nicht. Ihr kennt euch mehr als nur ein Leben. Eure Seelen haben sich wieder erkannt, als ihr Lehrer und Schülerin wart, was nicht heißt, dass ihr es bewusst wahrgenommen habt. Sie wäre vielleicht auch so in die Hütte zurückgekommen und sie wäre bestimmt auch zu deinem Grab gegangen, aber nicht über Jahre und Jahrzehnte, immer wieder.
Das musste Snape erst einmal verdauen. Es sollte eine Verbindung geben zwischen ihm und der besserwisserischen Göre, die ihm in der Schule den letzten Nerv geraubt hat? Er konnte es kaum fassen. „Wieso sollte ich dir glauben, Albus?"
Dumbledore seufzte. Der Junge war wirklich ein schwieriger Schüler. „Auch wir kennen uns mehr als ein Leben lang."
Seine dunklen Brauen zogen sich eng zusammen und er musterte sein Gegenüber, horchte in sich hinein.
„Da kommt sie" sagte Dumbledore und holte ihn so aus seinen Grübeleien.
Beide schauten sie hinab auf die Ländereien Hogwarts. Es hatte wirklich geschneit in der Zwischenzeit und alles wurde von einer dünnen Schicht Schnee bedeckt. Einige Fenster des alten Schlosses waren erleuchtet und warfen helle Flecken auf den weißen Boden.
Hermine ging langsam auf die beiden Gräber zu und kniete sich dann vorsichtig vor den dunkleren der zwei Grabsteine nieder. Sie entzündete eine Kerze und verharrte dann in ihrer knienden Haltung.
„Es geht ihr nicht gut", stellte Snape fest. Er hatte plötzlich das Bild einer Flamme vor Augen, die immer schwächer wurde. Und je schwächer sie wurde, desto kühler wurde es, ohne dass er selbst tatsächlich fror.
Dumbledore lächelte. „Sie ist alt geworden."
„Sie wird sterben", sagte Snape. Er wusste es einfach.
„Ja, ihre Zeit ist bald gekommen, schon sehr bald."
„Wir werden sie als alte Frau wiedersehen." Es war eine Feststellung und völlig wertfrei.
„Nein, Severus. Du wirst sie hier nicht sehen, denn auch deine Zeit ist nah."
Er würde wieder zur Erde zurückkehren, nichts anderes konnte das bedeuten, doch es war ihm in diesem Moment egal. „Werde ich sie denn jemals wieder sehen?" Er wusste nicht warum, er wusste nur, dass er es wissen musste.
„Es ist sehr selten, dass Seelen sich finden und dann auch erkennen. Es muss in einem früheren Leben schon eine starke Bindung gegeben haben, die stärkste Bindung ist die Liebe." Dumbledore machte eine kurze aber bedeutungsvolle Pause. „Ich bin sicher, du wirst Hermine erkennen."
Snape war nicht dazu in der Lage auch nur ein Wort dazu zu sagen. Er würde sie erkennen? Das hieß, sie hatten sich geliebt, - irgendwann einmal? Unvorstellbar dieser Gedanke, aber nicht unangenehm, wie er überrascht feststellte.
Dumbledore sah, das sein junger Freund begann zu verstehen. Doch er war auch zu sehr Kopfmensch, zumindest in seinem letzten Leben, als dass er es jetzt einfach so hinnehmen konnte. „Du wirst auf der Erde keine Erinnerung mehr an dies alles hier haben und wenn du nach deinem Tod wieder herkommst wirst du diesen Prozess von neuem durchlaufen. Es wird aber mit jedem Mal leichter und schneller gehen, sich zu erinnern und zu begreifen. Du kannst mir glauben, ich spreche da aus Erfahrung."
„Du kennst mich also auch schon…lange", folgerte Snape.
Dumbledore nickte.
„Was waren wir füreinander?"
„Das, mein Sohn….wirst du irgendwann selbst herausfinden."
Albus Bild verschwamm vor seinen Augen. Alles wurde unscharf und durchscheinend. Er versuchte einen letzten Blick auf die Erde zu werfen.
Auf Hogwarts.
Auf sein Grab.
Und auf Hermine.
Sie war noch immer dort, nur noch als undeutlicher Schatten wahrnehmbar.
Dann wurde es dunkel.
Es war, wie ein Erwachen aus einem tiefen Schlaf. Er konnte die Augen nicht öffnen, da er einfach noch zu müde war, aber es war auch nicht weiter schlimm. Er hörte leise Stimmen, die sich flüsternd unterhielten. Stimmen, die so voller Wärme waren. Sanft strich jemand über seinen Kopf und sein Gesicht. Er spürte Arme, die ihn umschlossen hielten, geborgen an einem weichen Körper. So war es also, er war wiedergeboren. Für einen Moment erschienen einige Erinnerungen vor seinem geistigen Auge. Ein Paar leuchtend blauer Augen, die ihn gütig ansahen. Dann eine gebeugte Gestalt an einem Grab. Seinem Grab. Hermine!
Die Bilder verblassten und mit ihr auch die Erinnerungen. Mit einem Gefühl, dass alles gut werden würde, ließ er sich erschöpft in einen wohligen Schlaf sinken.
ENDE
