Meine Lieben,
nach einer langen Textehexen-Sommerpause kommt hier also der Auftakt zur neuen Story. Keine leichte Kost diesmal, aber vielleicht habt Ihr ja trotzdem Lust, Euch darauf einzulassen. Und weil die Frage vermutlich aufkommen wird: ja, wir sind im Emilia-Universum, und ja, es passt alles zu meinen bisherigen Texten, und wenn Euch nach der Lektüre ein paar Fragen durch den Kopf schwirren, seid ein bisschen geduldig. Es wird sich alles klären.
Soundtrack: „Like a Rolling Stone", die Bob-Marley-Version, und „Wild thing" vom unvergessenen Jimi Hendrix.
Disclaimer: Ich habe keine Rechte am Potterversum. Hätte ich welche, sähe dort manches anders aus.
Besonderer Dank geht an Chromoxid und Slytherene, meine beiden Test-Leserinnen und mein kritischstes Publikum. Ich liebe Euch, Mädels.
So, ein Tässchen Kaffee für jeden, und los geht es.
Eins: Gleiten
Warum kann ich nicht nach Hause gehen?
Padfoot ist müde und verloren. Er hat einen langen Weg hinter sich. Seine Pfoten schmerzen, er hinkt. Bleierne Gewichte hängen in seinem Fell und ziehen ihn nach unten. Sein Kopf pendelt. Er ist so lange schon unterwegs, dass sein kurzes Hundegedächtnis vergessen hat, woher er kommt, er könnte sich vielleicht erinnern, wenn er sich bemühte. Wenn er nicht so müde wäre. Wenn nicht tausend fremde Gerüche in seine Nase strömten, die ihn verwirren, weil der eine nicht dabei ist. Der, den er sucht. Der eine Geruch, der ihm zeigt, dass er ankommt. Diese Hände, die ihn in Empfang nehmen und ihm die Müdigkeit vom Fell streichen wie Tautropfen.
Es sind zu viele hier. Zu viele Beine. Ein Wald aus Beinen, zwischen denen er herum irrt, den Schwanz zwischen die Hinterläufe geklemmt, Kopf gesenkt, Demutsgeste. Die Beine bilden ein Labyrinth, verschlungene Wege, gesäumt von Jeans und Bundfalten und Robenrascheln, die sich ständig verschieben und ihn mit neuen, fremden Gerüchen überschütten, er könnte nicht einmal mehr sagen, ob er im Kreis ginge, und wie lange. Er hebt die Augen zum Himmel, es könnte doch ein Mond dort oben sein, der ihm den Weg weist, aber er sieht nichts als leere, weiße, rätselhafte Gesichter, die über ihm schweben wie merkwürdige Lampions und ihm den Blick zum Mond versperren.
Er fürchtet die Gesichter. Er versteht ihre Sprache nicht.
Ich bin müde. Ich möchte nach Hause gehen.
Und dann sind die Beine plötzlich weg, und alles ist weiß. Padfoot setzt sich auf die Hinterläufe. Licht dringt von allen Seiten zu ihm, es hat keine Farbe oder alle, und dann löst sich ein schwarzer Umriss aus der Helligkeit.
Der Schattenmann.
Seine Schattenroben umspülen seine hohe, magere Gestalt. Er hat die Hände in Schattenfalten verborgen, und Schatten schmiegen sich um sein weißes Gesicht, in dem die schwarzen Augen glühen wie Kohlestückchen.
Ein Knurren geht aus Padfoots Brust, durch seine Kehle und Zähne hinaus ins Licht.
„Komm" sagt der Schattenmann. „Ich bringe dich nach Hause."
oooOOOooo
„Nein! Geh weg. Ich will nicht…"
„Sirius."
„Nein! Mmmmh…"
„Sirius. Wach auf."
„Moony! Moony!"
„Ich bin hier, Pads. Wach auf."
Hände. Hände auf seinen Wangen. Sirius reißt die Augen auf, und das Gesicht über ihm ist lesbar und verständlich und so vertraut, dass er für einen Augenblick zwischen Lachen und Weinen hängt vor lauter Erleichterung. Es sagt ich hatte eine kurze Nacht und ich werde vielleicht bald Kopfschmerzen haben, und es sagt ich bin hier, und du bist hier, und hier ist zu Hause.
„Geträumt?" sagt Remus, und seine Finger verlassen Sirius' Wangen. Sirius blinzelt. Es ist hell, und die Bettlaken sind unangenehm feucht unter seinem Rücken. Der Rand der Matratze ist ein wenig abschüssig, dort, wo Remus sitzt, und von draußen hört er Stimmen: Emilia, die Jerôme zum Frühstück ruft, und Jerôme, der lieber im Garten Dreirad fahren will.
Eine Frage hängt noch im Raum, und Sirius nickt und wischt sich Haarsträhnen aus dem Gesicht.
„Schlimm?" sagt Remus.
„Geht" sagt Sirius und kommt mühsam auf den Ellenbogen, ihm ist unwohl in seiner verschwitzten, klammen Haut, und sein Nacken schmerzt. „Das übliche. Typen, die mich mit nach Hause nehmen wollen und so." Er versucht ein Grinsen, aber es bleibt stecken. Zu früh am Morgen.
„Wie spät ist es?" fragt er.
„Halb acht" sagt Remus. „Wir müssen langsam los. Kannst du Jerôme Frühstück geben?"
„Oh" sagt Sirius, der froh ist, dass die Orientierung zurückkommt, auch wenn sie mehr Wachsein und Aktivität von ihm fordert, als er willens ist zu leisten, zu so unzumutbar früher Stunde. „Heute ist Paddy-Tag."
„Richtig" sagt Remus.
„Hab ich noch Zeit zu duschen?" sagt Sirius.
„Zehn Minuten" sagt Remus, aber er lächelt.
Der Weg unter die Dusche ist nebulös, wie jeden Morgen, eher von Instinkt geleitet als von wacher Intelligenz (mal ehrlich, wer ist schon wach, kurz nach Morgengrauen). Er ist nicht sparsam mit dem heißen Wasser, es spült ihm Schlaf und Schatten fort und löst das Schaudern zwischen seinen Schulterblättern. Er bedient sich großzügig an Emilias Rosenshampoo und seift sich die Nacht aus den Haaren, und lässt wieder Wasser laufen, bis der Schaum zu einem fernen Duft vergangen ist. Er steigt aus der Dusche und trocknet sich ab. Sein Körper ist immer noch auf seiner Seite und verrät nichts über sein tatsächliches Alter, er ist schön anzusehen, mit schlanken, soliden Muskeln und dunklem Flaum auf alabasterweißer Haut. Es ist ihm ein Trost, zu wissen, dass wenigstens das Gefäß keine Sprünge hat.
Er verbringt eine Weile vor dem Spiegel und kämmt sich: er hat eine kleine Obsession entwickelt mit seinen Haaren, die ihm schwer und dunkel über die Schultern fallen –
- aber nicht mehr so lang, wie sie einmal gewesen sind, über den ganzen Rücken gingen sie hinunter wie samtige Flügel, bevor Männer kamen in blauer Anstaltskleidung und ihm den Schädel rasiert haben, drei Millimeter, nach Vorschrift, wegen der Läuse, und er sitzt und starrt auf die Handschellen, die sich um seine Gelenke spannen, und um ihn fallen seine Flügel zu Boden –
Sirius geht in den Hund.
Moony ist in der Küche und trinkt Tee im Stehen. Vogelgezwitscher und der Duft von gemähtem Gras kommen durch die offene Gartentür, und Moony ist umgeben von einer Aura der leisen Ungeduld. Padfoot winselt und wedelt mit eingeklemmtem Schwanz, und Moonys Körpersprache ruft ihn näher, und er geht und presst den Kopf gegen Moonys Bein und lässt sich hinter den Ohren kraulen. Moony riecht gut, und unter seinen Händen kann Padfoot nicht ängstlich oder verwirrt sein. Alles löst sich und wird ruhig, und Padfoot schließt die Augen und lässt sich fallen.
Dann kommen Schritte und Stimmen von draußen und ein anderer Geruch. Moony nimmt die Hände weg und bewegt sich, und Padfoot öffnet die Augen und winselt auffordernd, während seine Nase automatisch Moonys Hand hinterher geht.
„Können wir los?" fragt Emilia, die Jerôme auf seinem Dreirad vor sich her treibt. „Guten Morgen, Sirius. Warum bist du im Hund? Du weißt doch… nein, Jerôme! Das Dreirad bleibt im Garten!"
„Aber ich bin doch ganz vor-sich-tig!" begehrt Jerôme auf.
„Trotzdem will ich nicht Sand und Erde in der Küche haben!" bestimmt Emilia, und Jerôme zieht einen Flunsch.
„Es wäre gut, du kämest jetzt aus dem Hund" sagt Moony, und Sirius hat sich so tief in den Hund fallen lassen, dass er kaum weiß, was gemeint ist. Moony sieht ihn an, und Padfoot spürt die Aufforderung, sich zu konzentrieren, diese Aufgabe jetzt zu bewältigen, und dann kommt Sirius nach vorne und schickt Padfoot schlafen.
„Morgen, meine Rosenblüte" sagt er, und das zweite Grinsen des Tages gerät ihm besser, als Emilias Blick an ihm hinunter geht und an dem Handtuch hängen bleibt, das er lose um die Hüften geschlungen hat.
„Na, immerhin bist du schon aufgestanden" sagt sie. „Mach ihm Frühstück, ja?"
„Ja" sagt Sirius brav und zwinkert Jerôme zu, der hinter Emilias Rücken versucht, das Dreirad über die Schwelle zu heben.
„Und zieh ihm eine Kappe auf, wenn ihr raus geht, gegen die Sonne. Es ist ziemlich warm heute."
„Okay" sagt Sirius.
„Mittagsschlaf ist spätestens um halb zwei…"
„Ja" sagt Sirius. „Wie immer."
„Essen steht im Kühlschrank, und wenn was ist…"
„…ruf ich dich auf dem Handy an. Ist klar."
„Ja" sagt Emilia und bläst sich eine krause Strähne aus der Stirn. „Genau."
„Noch was?" sagt Sirius.
„Zieh dir was an" sagt Emilia.
„Wieso?" sagt Sirius und verschränkt die Arme vor der nackten Brust. „Findest du mein Handtuch etwa unpassend, oder was?"
„Jerôme!" sagt sie. „Raus mit dem Dreirad!"
„Aber ich will" fängt Jerôme an, und Sirius geht schnell und klaubt ihn von der Stufe, ehe er seinen streitlustigen Kampfgeist aktivieren kann, von dem Remus immer behauptet, von ihm hätte er den nicht. Er stellt ihn vor sich auf den Tisch und zieht ihm das Shirt gerade.
„Okay, Großer" sagt er. „Nur du und ich also. Was willst du frühstücken?"
„Schokolade" sagt Jerôme.
„Was anderes" sagt Sirius. „Was Gesundes."
„Aber der Papa hat auch Schokolade zum Früh-Strück ge-essen!"
„Hat er?" sagt Sirius mit einem Blick über die Schulter, und Remus räuspert sich und wischt sich mit dem Daumen eine winzige Spur aus dem Mundwinkel.
„Ich muss dann dringend los" sagt er. „Emilia? Bist du fertig?"
„Ja" sagt sie und klaubt ihren Schlüssel von der Eckbank. „Wiedersehen, Zwerg" sagt sie zu Jerôme und küsst seine zarte Wange, und dann noch die unrasierte von Sirius, weil er sie direkt daneben hält. „Ich komme um sieben" fügt sie hinzu.
„Das heißt, falls du gehst" sagt Sirius.
„Keine Sorge" sagt Emilia. „Bis heute abend dann."
„Wiedersehen" sagt Remus, nimmt seine Frau bei der Hand, und beide disapparieren.
„Wiedersehen" sagt Jerôme und winkt ein bisschen. „Ist heute Paddy-Tag?" fragt er, während Sirius ihn vom Tisch hebt.
„Ja" sagt Sirius. „Was willst du machen?"
„Mit Schnuffel Fußball spielen" sagt Jerôme glücklich. „Schnuffel soll kommen!"
„Schnuffel kommt nach dem Frühstück" verspricht Sirius. „Das nicht aus Schokolade besteht, übrigens."
Eine längere und ermüdende Diskussion später einigt man sich auf Schokoladenbrot und Kakao, und Sirius lässt sich einen Kaffee aus der High-Tech-Muggelmaschine und sieht zu, wie Jerôme klebrige Sachen mit dem Schoko-Aufstrich auf seinem Brot macht. Er hätte jetzt wirklich gerne eine Zigarette, aber auch das ungestillte Bedürfnis danach ist gut, es ist klar und wirklich und hält ihn hier fest, und er trinkt seinen Kaffee schwarz und süß und in kleinen Schlucken, und beinahe fühlt seine Haut sich an, als gehörte sie ihm.
Die Zigarette kommt später, draußen im Garten, im klaren, goldenen Licht des Morgens. Nebel steigt in dicken Schwaden aus dem Wald, Tau glitzert im Gras, und unten im Dorf kräht ein verspäteter Hahn. Die Obstbäume auf dem Feld nebenan haben gerade ihre Blüte beendet und schmücken sich mit kräftigem, hellem Grün.
Ihm, dem Stadtkind, ist das Haus mehr als nur ans Herz gewachsen. Es schmiegt sich an den Hang, umgeben von weichen Wiesen und hohen, alten Bäumen, die aussehen, als benützten sie das Dach als Stütze. Das obere Stockwerk ist mit dunklem Holz verschalt, von dem die Farbe blättert, und wenn der Wind geht, rascheln die Zweige gegen die Fenster. Das Grundstück ist groß und verwildert und trägt doch schon Spuren der neuen Bewohner: ein Teil der kniehohen Wiese ist gemäht, damit Jerôme mit seinem Dreirad fahren kann, und Emilia hat ein Beet angelegt, in dem sie Gemüse zieht, und die alten, wild wuchernden Rosenstöcke frei gelegt und beschnitten, so dass sie prächtige gelbe und rote Blüten tragen wie kleine Kronen. Es gibt eine hölzerne Veranda, die teilweise zum Sandkasten umfunktioniert wurde, und Sirius sitzt auf der Balustrade und lässt die Beine baumeln, während der Rauch durch ihn strömt und ihn glättet, und im Wolfswald auf der anderen Straßenseite singen die Vögel. Es ist ein einfaches Leben und ein gutes, auch wenn er noch nicht entschieden hat, was er damit machen will, oder mit dem, was noch davon übrig ist. Im Augenblick genügen ihm die kleinen Aufgaben: das Wölfchen versorgen, seit Remus wieder Arbeit hat, drei Tage in der Woche, leben, atmen, und versuchen, nicht den Faden zu verlieren.
„Paddy?" sagt eine glockenhelle Stimme, und ein kleines Händchen zupft an seiner Jeans. „Paddy? Schnuffel soll kommen! Wollen wir Fußball spielen?"
„Klar doch" sagt Sirius, atmet letzten Rauch aus und löscht die Glut am alten Holz. „Hast du den Ball?" Er schwingt sich von der Balustrade und geht in den Hund, und Jerôme jauchzt und schlingt seine Ärmchen um Padfoots zottigen Nacken.
Bis zum Mittag wird eine Menge Fußball gespielt und mit Plastikbaggern der Spielsand umgegraben. Der Briefträger kommt und bringt Remus' Daily Telegraph (der einzige Luxus, den er sich hier in Deutschland leistet) und eine Postkarte von Emilias Eltern, die einen Urlaub auf Gran Canaria verbringen. Jerôme entdeckt einen Ameisenhaufen und löst eine insektoide Massenpanik aus, und später füttert er den Toaster mit der Plastikabdeckung von der Kaffeemaschine, macht ein Tomatensoßenbild auf dem kostbaren Daily Telegraph und veranlasst eine längere Suchaktion im Garten, weil er dort, irgendwo im hohen Gras, sein Lieblingsauto verloren hat. Glücklicher Weise macht all das ihn müde, und er lässt sich zu einem Schläfchen auf dem Sofa überreden, den Kopf zwischen Padfoots Vorderpfoten gebettet und schön wie ein Engel mit langen, geschwungenen Wimpern und Locken von dunklem Gold.
Nachmittags beschließt Sirius, dass er genug Bäume und Ameisen hatte für diesen Tag und Menschen braucht stattdessen, genauer: einen Menschen, nur ein Lächeln und ein paar Worte, um über den Tag zu kommen, um eine Unruhe zu überwinden, die er kennt und nicht haben will.
„Weißt du was?" sagt er zu Jerôme, während er ihm in der Küche einen Apfel schält. „Lass uns in die Stadt fahren und Papa besuchen, ja?"
„Okay" sagt Jerôme nach kritischer Abwägung. „Kann ich mein Dreirad mitnehmen?"
„Ja" sagt Sirius. „Aber nicht im Laden fahren. Du weißt, dass Papa das nicht mag."
„Ich will paparieren" sagt Jerôme.
„Nein" sagt Sirius. „Wir nehmen das Auto."
„Aber ich will!" sagt Jerôme mit Leidenschaft.
„Nein" sagt Sirius, der es nicht mehr erträgt, zu apparieren, seit er –
- den Halt verloren hat und die Substanz und aufgelöst wurde wie Rauch über dem Berg, und nichts blieb als körperlose Panik –
- seit er Woanders war. „Du kannst ein andermal mit Papa apparieren. Na komm. Autofahren ist auch ganz cool."
„Warum hast du den Apfel runter geworfen?" fragt Jerôme.
„Er ist mir runter gefallen" sagt Sirius. „Kein Grund zur Panik. Kein Grund zur Panik…"
Der alte Landrover ist nicht gerade ein Luxusschlitten, aber er tut unbeirrt seinen Dienst und bringt sie beide mitsamt dem Dreirad über kurvige Straßen zur Autobahn, und dann, ein bisschen schneller als erlaubt, in die Stadt, aber das Radio spielt Wild Thing und Sirius muss die Scheiben runter kurbeln und laut mitsingen und kann einfach nicht hundert fahren, während Jerôme in seinem Kindersitz rockt.
Das Antiquariat liegt in der Altstadt, an der Rathausbrücke, und vor der Tür hört man das Rauschen des Flusses, der sich am Wehr bricht. Sirius ist zuletzt ein bisschen ungeduldig geworden. Es ist harte Arbeit, Jerôme einigermaßen zügig an den Wunderbarkeiten des Innenstadtlebens vorbei zu schleusen, und er will auch später gerne am Wehr stehen bleiben und bei den Enten und an dem Schaufenster mit dem Blechspielzeug, aber jetzt will er Moony, dringender als Kaffee und Zigaretten.
Schon das Läuten des Glockenspiels über der Tür bringt eine Flut der Erleichterung (gleich, gleich geschafft). Der Laden besteht aus einer Flucht von alten, schiefen Räumen, die Remus' Aufenthaltsort nicht auf den ersten Blick preisgeben. Ein kluger, scheuer Wolf könnte die Kochbücher und regionalen Bildbände rasch durchqueren und sich vielleicht bei den Kinder- und Jugendbüchern verbergen, oder gegenüber, hinter der langen Regalreihe mit Lyrik, er könnte links bei der Belletristik untertauchen oder geradeaus bei Architektur, Geschichte und Literaturwissenschaften, oder, höhlengleich, sich ganz hinten in das enge, fensterlose Räumchen zurück ziehen, das Atlanten und Astronomisches beherbergt.
Vorne neben der Tür blättert eine junge Frau in einem Bildband. Sirius nimmt den wohlgefälligen Blick gerne zur Kenntnis, den sie ihm, der in der einen Hand das Dreirad hat und an der anderen Jerôme, über den Rand des Buches zuwirft. Er hat schnell herausgefunden, dass die Aura des treu sorgenden Vaters seinen Charme komplettiert.
Die Glöckchen an der Tür sind kaum verklungen, als Jerôme sich schon von Sirius' Hand gelöst hat und voran stürmt.
„Papa!" trompetet er, und Sirius hat zumindest noch das Dreirad. „Papa! Wo bist du! Wir kommen dich besuuuchen!"
Sirius parkt das Dreirad neben dem Verkaufstresen und folgt dem Kleinen, der im Laufschritt zur Belletristik abbiegt, gleich darauf wieder auftaucht und erneut die Sirene anwirft.
„Paaapaaa!"
„Ich komme" hört Sirius Remus' Stimme aus dem Architekturzimmer, und dann erscheint er auf der schiefen Türschwelle, und die Erleichterung bildet einen dicken Kloß in Sirius' Hals.
„Heeh" sagt er und macht sich lässig. „Moony. Wir waren gerade in der Gegend."
„So" sagt Remus, „tatsächlich", und schickt ihm einen kritischen Lächelblick über den Rand seiner Brille, während er sich zu Jerôme beugt, der sich an seine Beine klammert. Er hat ein paar Bücher im Arm, und manchmal erschrickt Sirius noch über diesen neuen Remus, dessen Entstehung er verpasst hat: Er hat sich noch nicht gewöhnt an die kleine, goldene Brille, ein komplexes Stück Magie, das die goldenen Wolfsaugen in das ursprüngliche Braun umfärbt und ihm seine menschliche Sehkraft zurück gibt. Die weichen welligen Haare, die Sirius grau, aber nicht silbrig weiß hat werden sehen. Die verstümmelte linke Hand, die gerade so liebevoll Jerômes Locken glättet, die Sirius nehmen und küssen und an seine Brust legen möchte, obwohl er weiß, dass Finger davon nicht nachwachsen, und obwohl er weiß, dass Remus seine Methoden hat, darüber hinweg zu gehen: „Ich wollte sowieso nie ein Klavierspieler werden" sagt er, oder: „Sieben hat einen besseren arkanen Faktor als zehn", und einmal: „Ich habe im Leben schon Wertvolleres verloren als ein paar Finger."
„Wir haben Ameisen gesehen, und die sind sooooo gelaufen" ruft Jerôme und wedelt mit den Ärmchen, „und dann bin ich soooo mit dem Auto gefahren, und dann sind die soooo da drüber gelaufen!"
„Aha" sagt Remus und sieht amüsiert aus.
„Kannst du morgen in der Zeitung nachlesen" sagt Sirius. „Ameisen-Elitetruppe kapert feindliches Spielzeugauto, oder so ähnlich."
„Na, dann" sagt Remus. „Hauptsache, ihr hattet euren Spaß."
„Hatten wir Spaß?" fragt Sirius Jerôme, und der sagt „Jaaa" und strahlt übers ganze Gesicht.
Die Ladenglocke klingelt, und Remus befreit sich vorsichtig aus der Umklammerung seines Sohnes und geht nach vorne, Jerôme an der Hand. Sirius vagabundiert hinterher, Hände in den Hosentaschen, den Impuls bekämpfend, bei Fuß zu gehen.
Es ist unentschlossene Kundschaft heute, die sich „nur mal umsehen" will, und Remus hält sich mit der unauffälligen Präsenz bereit, die ihm so eigen ist. Jerôme lässt sein kleines Auto auf dem Verkaufstresen fahren, und Sirius schleicht sich vorsichtig an Remus heran. Der hat seinen Bücherstapel abgelegt und untersucht den übel zerrissenen Schutzumschlag einer Böll-Doppelausgabe.
„Seid ihr mit dem Auto gekommen?" fragt er.
„Ist das eine Fangfrage?" sagt Sirius und grinst.
„Fangfrage?" sagt Remus.
„Ich setz' ihn nicht auf die Lady" sagt Sirius. „Ich hab's versprochen. Auch wenn es harte Arbeit ist. Dein Sohn hat Geschmack. Er findet die Lady toll."
„Alle dreijährigen Jungs finden Motorräder toll" sagt Remus. „Trotzdem würde Emilia uns in Stücke reißen, wo wir stehen."
„Mich, einverstanden. Aber dich?"
„Ich bin immer irgendwie mit schuld, wenn es um dich geht."
Flüchtiges Moonylächeln, wie eine glättende Hand auf zerwühltem Fell. Sirius, der schon ganz nah dran ist, schließt die Lücke zwischen ihnen mit einem Schritt.
„Wild thing…" singt er und lässt seine Stimme an Remus' Wange vibrieren. „…you make my heart sing…"
„Pads" sagt Remus und zieht den Kopf zwischen die Schultern, aber sein Rücken kommt ihm mit leichtem Druck entgegen und lädt ihn ein, diese Grenze zu überschreiten.
„You make everything…" singt Sirius, „…moooooony…" und schlingt seine Arme um Remus, der sich an die Doppelausgabe klammert.
„Ich bin sicher, der Text war anders" sagt er, ein wenig erstickt, was vielleicht daran liegt, dass Sirius ihm in den sauber geknöpften Hemdkragen atmet und keine Anstalten macht, seinen Griff zu lockern, noch nicht. Sirius kennt das komplizierte System aus Grenzen, das Remus um sich etabliert hat, wie kein zweiter. Noch ist er nicht zur Umkehr gezwungen, und er ist bereit, zu gehen, bis er sich die Finger verbrennt.
Küsse auf den Hals, in Gegenwart zweier Kundinnen, sind jedenfalls ein Spiel mit dem Feuer.
„Mh" macht Remus und bewegt sich nach vorne, aber Sirius hält ihn fest, er spürt den Schauder, der Remus' Rücken hinunter läuft wie eine triumphierende Ameisenarmee, und weiß, dass er den richtigen, den empfindlichen Punkt erwischt hat. Er wüsste gerne, ob Emilia diesen Punkt kennt.
„Du kannst es nicht lassen" sagt Remus, und Sirius schmiegt sein Grinsen in den silbrigen Haarschopf und spürt, dass er sich dieser Grenze nähert, die er nicht überqueren darf, aber ein paar Schritte kann er sich noch erlauben.
„Was sollen die Leute denken" sagt Remus gedämpft und versucht, sich Sirius' Zugriff zu entziehen, noch nicht mit letzter Entschlossenheit.
„Diese Mädels?" sagt Sirius und zeigt mit dem Kinn. „Na, was schon. Sie werden uns für das heißeste Schwulenpärchen der Welt halten und ihre sehnsüchtigen Träume mit uns füllen."
„Ich würde bevorzugen, wenn dem nicht so wäre" sagt Remus, und jetzt ist die Grenze erreicht und Sirius entlässt ihn aus seinen Armen mit dem Gefühl, sich so weit wie irgend möglich genähert zu haben.
Sirius ist immer schon ein Grenzgänger gewesen.
„Nicht viel los heute, oder?" sagt er und kehrt in seine lässige Pose zurück, er ist ruhiger jetzt, ruhig genug, um den Nachmittag damit zu füllen.
„Geht so" sagt Remus und wendet seine Aufmerksamkeit wieder dem ramponierten Böll zu. „Viele Reisegruppen. Die machen Durcheinander und kaufen nichts." Er wirft einen prüfenden Blick hinüber zu den beiden Kundinnen, dann dreht er ihnen den Rücken zu und streicht vorsichtig über den zerknickten Schutzumschlag. Ein kleines, rotgoldenes Leuchten tropft von seinen Fingerspitzen, selbst für Sirius' raschen Blick kaum wahrnehmbar, und als er die Hand wegnimmt, sieht das Buch beinahe aus wie neu.
„Furchtbar, wie manche Leute mit ihren Büchern umgehen" sagt er kopfschüttelnd und legt es zur Seite, auf einen Stapel, der darauf wartet, ins Regal sortiert zu werden.
„Ich will zu den Enten" sagt Jerôme und packt sein Auto ein.
„Später" sagt Sirius. „Lass uns noch ein bisschen hier blieben. Papa langweilt sich sonst."
„Papa hat hier einen Bestand von knapp zehntausend Büchern" sagt Remus. „Davon etwa neuntausend, die er noch nicht gelesen hat. Papa langweilt sich nicht."
„Du hast tausend Bücher gelesen?" sagt Sirius erstaunt.
„Grob geschätzt" sagt Remus. „Vielleicht auch mehr. Lass mal sehen, ich bin seit vierzig Jahren militanter Leser, tausend durch vierzig macht fünfundzwanzig, das sind grob gemittelt etwa zwei im Monat. Klingt plausibel, oder nicht?"
„Du bist ein Freak" sagt Sirius und starrt Remus groß an, während die Zahlen in seinem mit Zahlen völlig inkompatiblen Gehirn durcheinander schwirren.
„Tatsache" sagt Remus und grinst.
„Ich will zu den Enten gehen!" sagt Jerôme und hängt sich an Sirius' Bein.
Die Glocke klingelt erneut, als die beiden Kundinnen hintereinander den Laden verlassen, ohne etwas gekauft zu haben. Die Tür lässt weißes Sonnenlicht herein und das Rauschen vom Wehr und einen flüchtigen Blick auf Passanten, dann klingelt sie sich wieder ins Schloss und es wird still. Remus legt ein weiteres Buch auf den Stapel und nimmt ihn auf den Arm, und dann, obwohl doch alles gut und ruhig war und Sirius sich so sicher gefühlt hat, passiert es doch.
Ein Gefühl, als verschöbe sich die Welt um ihn, als würde er einen Blick durch eine Brille werfen, die ihm nicht passt. Die Bücherregale um ihn schlagen Wellen, und dann verliert er den Halt und gleitet.
Es dauert nur einen winzigen Augenblick.
„Rate, wer vorhin angerufen hat" sagt er.
„Wer?" sagt Remus und wendet sich mit dem Bücherstapel im Arm zur Belletristik.
„James" sagt Sirius.
Remus bleibt stehen.
„James" sagt er mit etwas Merkwürdigem in der Stimme.
„Du weißt schon" sagt Sirius grinsend. „James Potter. Der Freak mit der Brille und den komischen Haaren. Prongs."
„Sirius" sagt Remus und dreht sich zu ihm um, sein Gesicht ist überzogen von einer unerträglichen Mischung aus Kummer und Sorge.
„Ich meine, wie viel kann man zu tun haben, dass man drei Wochen lang nicht anruft, nicht floot und nicht vorbei kommt?" sagt Sirius schnell. Es ist unklar, warum Moony plötzlich traurig ist, aber er muss ihn aufheitern, sofort, trauriger Moony ist kein akzeptabler Zustand. „Lass du dich nie zu irgend etwas befördern, ja? Ich würde sterben vor Langeweile. Sie kommen aber heute abend vorbei. Lilly hat irgendeinen Thailänder, von dem sie begeistert ist. Bei Covent Garden. Um acht. Passt dir das? Moony?"
„Sirius" sagt Remus, und seine Traurigkeit schneidet in Sirius' Inneres wie eine glitzernde Rasierklinge, „du kannst nicht mit James telefoniert haben. James und Lilly sind tot."
„Was redest du da" sagt Sirius, während zwischen seinen Füßen sich ein Spalt auftut. „Natürlich hab ich mit ihm telefoniert."
„He, Padfoot."
„Prongs? Bist du das? Prongs!"
„Äh… ja?"
„Oh, Merlin! Du bist es wirklich! Ich dachte schon, das Ministerium hätte dich für immer verschlungen!"
„Idiot."
„Wer ist hier der Idiot, der drei Wochen lang nicht anruft?"
„Ich weiß. Tut mir leid. Diese Beförderung macht mich fertig. Ich weiß gar nicht, warum die Leute einem zu so etwas gratulieren."
„Mein Beileid zur Beförderung, Prongsie."
„Genau. Und? Was machst du? Neuer Job?"
„Ich hab mich noch nicht entschieden."
„Aha."
„Wie geht's Frau und Kind?"
„Prima. Harry ist Teamkapitän geworden, hab ich das schon erzählt?"
„Nur ungefähr zehn Millionen Mal, aber ich hör's immer wieder gern."
„Oh."
„Nein, wirklich. Stört mich nicht. Sehen wir uns mal? Ich meine, nur damit ich daran glauben kann, dass es dich wirklich noch gibt und ich nicht vielleicht nur mit deinem Geist telefoniere."
„James Potter, von Aktenbergen erschlagen, aber sein Geist ist auf der stofflichen Ebene gebunden, weil er seinen Freund nicht oft genug angerufen hat."
„Und muss so lange ruhelos umher irren, bis er mit ihm essen war. Auf seine Rechnung. Um die Beförderung zu feiern, die ihn umgebracht hat."
„Heute abend? Lilly hat ein thailändisches Restaurant entdeckt, irgendwo bei Covent Garden. Ich kenn's noch nicht, aber sie ist des Lobes voll."
„Cool. Ihr könnt vorbei flooen, so um acht."
„Geht klar. Was ist mit Moony?"
„Moony? Du meinst den Moony, der mich nicht mal eben drei Wochen lang behandelt wie Luft?"
„Er wohnt bei dir. Er könnte dich nicht wie Luft behandeln, selbst wenn er wollte."
„Das ist kein Argument."
„Ist es doch."
„Wir machen dir das Sofa frei."
„Herzlichen Dank. Ich denk drüber nach. Ich muss jetzt wieder, Padfoot. Weitergeistern."
„Dann geister schön, Prongsie. Bis dann."
„Bis dann, Padfoot."
„Natürlich hab ich" sagt Sirius schwach, und Remus schüttelt den Kopf, unendlich bekümmert, und der Spalt zwischen Sirius' Füßen springt klaffend auf und reißt ihn auseinander, und für qualvolle Momente gibt es zwei Wirklichkeiten in seinem Kopf: James lebt und ist tot, Lilly lebt und ist tot, es gibt eine Londoner Stadtwohnung mit hohen Fenstern und blauem Sofa und es gibt ein altes, schiefes Haus unter Bäumen. Es gibt Jerôme und es gibt ihn nicht.
Sirius geht in den Hund.
oooOOOooo
„Das ist es, oder?" sagt er später, als er sich wieder aus dem Hund traut. Remus sitzt auf dem Barhocker hinter dem Verkaufstresen, Jerôme auf den Knien, und sieht mit ihm ein Buch an. Es ist immer noch ruhig im Laden. „Der Grund, warum Emilia mich nicht gerne mit dem Kleinen alleine lässt. Sie denkt, ich bin nicht ganz richtig im Kopf."
„Das stimmt nicht" sagt Remus, aber er sagt es mit dieser überzeugenden Souveränität, die Sirius verrät, dass es sehr wohl stimmt. „Sie hält dich für vollständig zuverlässig. Sie würde Jerôme sonst nicht bei dir lassen."
„Sie hat keine Wahl" sagt Sirius. „Das Geld reicht nicht, wenn du nicht auch arbeiten gehst."
„Sie würde sich eine andere Lösung einfallen lassen" sagt Remus. „Etwas mit den Großeltern."
„Die beide berufstätig sind" sagt Sirius düster.
„Sie vertraut dir" sagt Remus. „Lass es gut sein."
„Papa" sagt Jerôme und zieht an Remus' Hemd, „Buch anschauen!"
„Warte einen Augenblick" sagt Remus und küsst den Scheitel des Kindes, das ungeduldig auf seinem Schoß herum zappelt.
„Es stimmt wirklich nicht, weißt du" sagt Sirius. „Mein Kopf ist perfekt in Ordnung. Ich verwechsle nur manchmal Sachen."
„Ich weiß" sagt Remus und hat plötzlich einen müden Schatten im Gesicht. „Es ist alles in perfekter Ordnung, so wie es ist."
„Sag das deiner Frau" sagt Sirius.
„Ja" sagt Remus.
„Buuuch an-schau-en!" begehrt Jerôme auf.
„Ist gut" sagt Remus. „Willst du mal umblättern?"
Sirius setzt sich auf den Verkaufstresen und baumelt mit den Beinen. Das seltsame Gefühl der Unwirklichkeit schwindet langsam. Sein Blick hält sich an den kleinen, belanglosen Gegenständen, die den hölzernen Tresen bedecken: ein Radiergummi, ein Kugelschreiber, ein Quittungsblock, Notizzettel. Ein paar Blätter mit Tabellen, aus denen Sirius nicht schlau wird. Die alte, mechanische Kasse, ein antiquierter Koloss mit seitlicher Kurbel. Sirius, der kürzlich von Emilia mit dem Internet-Virus infiziert wurde, fragt sich, wie es sein kann, dass es einen Flecken Muggelland gibt, an dem das Computerzeitalter so vollständig vorbei gegangen ist.
Dann ist die Raupe endlich ein Schmetterling, und Jerôme klettert von Remus' Schoß.
„Kannst du es zurück tragen?" fragt Remus und legt das Bilderbuch in die kleinen Kinderhände. „Weißt du noch, wo es gelegen hat?"
„Klar, Papa" sagt Jerôme sehr wichtig und marschiert davon. Sirius beobachtet, wie Remus ein wenig in sich zusammen sinkt. Er nimmt die Brille ab und reibt sich die Nasenwurzel.
„Kopfweh?" sagt Sirius.
„Nein" sagt Remus, „aber bald."
„Wo bin ich gewesen?" sagt Sirius, und Remus hebt den Kopf und sieht ihn aus goldenen Wolfsaugen an.
„Ich verstehe nicht" sagt er.
„Als ich Woanders war" sagt Sirius. „Wo bin ich gewesen?"
„Aber das weißt du doch" sagt Remus. „Wir haben dir das oft erzählt."
„Erzähl es mir noch mal" sagt Sirius.
„Wir hatten einen Zusammenstoß mit einer Gruppe von Todessern" sagt Remus mit der gleichen sanften Geduld, die ihn auch durch die hundertste Raupengeschichte trägt. „Es war ein Hinterhalt. Wir gerieten in ein Gefecht, und du wurdest gleichzeitig von mehreren Betäubungszaubern getroffen. Es gab eine arkane Kaskade. Du hast überlebt, aber du warst nicht mehr ansprechbar. Der Fachbegriff ist apallisches Syndrom, oder Koma."
„Wie lange?" sagt Sirius.
„Zweieinhalb Jahre" sagt Remus.
„Und dann?" sagt Sirius. „Habe ich eines Tages die Augen aufgemacht und war wieder da?"
„So ungefähr" sagt Remus mit einem traurigen Lächeln. „Es war nicht ganz so einfach."
„Merkwürdig" sagt Sirius.
„Die meisten Prozesse im menschlichen Gehirn sind wissenschaftlich nicht erschlossen" sagt Remus. „Niemand weiß, warum manche Komapatienten wieder aufwachen, und manche nicht, und was der Auslöser für das Aufwachen ist."
„Das meine ich nicht" sagt Sirius. „Ich meine diese Geschichte. Ich kenne sie, natürlich. Aber sie fühlt sich fremd an. Als sei das nicht ich, dem das passiert ist."
„Weil du dich an nichts erinnerst" sagt Remus. „Das ist nur natürlich. Dein Gehirn kann die Gedächtnislücke, die ihm entstanden ist, nicht füllen. Das erzeugt ein Gefühl von Fremdheit."
„Aber ich erinnere mich" sagt Sirius. „Nicht an den Überfall, aber an die Zeit danach. Ich kann nur nicht drauf zugreifen. Aber da ist etwas. Bilder. Wie Träume, die man fast vergessen hat."
„Man hat kürzlich heraus gefunden, dass Komapatienten mehr von ihrer Umgebung aufnehmen können, als man für möglich gehalten hätte" sagt Remus. „Nur die Reizverarbeitung läuft nicht ordnungsgemäß. Ich kann dir Bücher geben zu dem Thema. Ich habe welche zu Hause, und ein paar Artikel aus der Medical Tribune."
„Das ist deine Antwort auf alles, oder?" faucht Sirius und ist froh, dass Wut die Angst vertreibt. „Lies ein Buch. Dein Leben ist im Arsch? Lies ein Buch. Zwölf Jahre in der Hölle? Lies ein Buch. Zweieinhalb Jahre Koma? Hier, lies ein verdammtes Buch! Ich will aber deine blöden Bücher nicht!"
„Mehr kann ich dir nicht anbieten" sagt Remus, der nicht wütend aussieht, nur traurig, und Sirius' Wut mit weichen Händen auffängt. „Ich wollte, ich könnte es."
„Ja" sagt Sirius und streicht sich mit beiden Händen Haare aus dem Gesicht. Er widersteht dem Drang, eine Strähne um den Finger zu wickeln und hart dran zu zupfen, er hat sich kürzlich in einer spiegelnden Fensterscheibe selbst dabei beobachtet und fest gestellt, dass er wie ein Verrückter aussieht, wenn er das macht.
Alles, nur keine Sprünge ins Gefäß.
Sirius rutscht vom Verkaufstresen und sieht sich nach Jerôme um, der zwischen den Auslagetischen mit den Bildbänden steht und konzentriert sein Auto fahren lässt, äußerlich unbeeindruckt, aber Sirius weiß, dass es seine Art ist, Beängstigendes in seiner Umgebung auszublenden. Sirius hat ein Gespür für Ängste.
„Jerôme" sagt er. „He, Großer. Wir haben noch einen Deal mit den Enten abzuwickeln, oder?"
„Was?" sagt Jerôme und schaut von seinem Auto auf.
„Willst du noch zu den Enten?" sagt Sirius.
„Ja" sagt Jerôme. „Der Papa soll mitgehen!"
„Das geht nicht, Jerôme" sagt Remus mit einem Lächeln, das er nur für seinen Sohn hat. „Ich muss hier im Laden bleiben, falls jemand ein Buch kaufen möchte."
„Was für ein Buch?" sagt Jerôme und faltet die kleine Stirn.
„Ich weiß nicht" sagt Remus. „Eines von den vielen."
„Komm" sagt Sirius. „Wir gehen zu den Enten, und dann gehen wir noch ein Eis essen, und dann kommen wir wieder her und nehmen Papa mit nach Hause."
„Essen die Enten auch Eis?" fragt Jerôme.
„Halb sieben" sagt Remus. „Früher bin ich nicht fertig."
„Prima" sagt Sirius. „Ein Geschäft mit den Enten wickelt man auch nicht in fünf Minuten ab."
„Paddy, essen die Enten auch Eis?"
„Wollen wir's ausprobieren?"
„Jaaa" sagt Jerôme und strahlt.
„Viel Spaß, ihr zwei" sagt Remus und sieht müde aus.
Erst als er längst draußen im warmen Licht des frühen Sommerabends ist, fällt Sirius ein, dass er sich nicht für seinen Ausbruch entschuldigt hat.
