Aus dem Leben gerissen

Chakotay rannte in Höchstgeschwindigkeit durch die Gänge der Voyager bis er endlich vor der Krankenstation angekommen war. Die Besatzungsmitglieder, denen er unterwegs begegnete, waren so klug ihm schnellstens auszuweichen. Wenn ihr erster Offizier es so eilig hatte, mußte wirklich etwas schlimmes passiert sein und in dem Falle wollte keiner im Weg stehen.

Die Türen der Krankenstation öffneten sich fast nicht schnell genug und Chakotay drehte sich ein wenig seitlich, um nicht gegen die Kanten zu stoßen. Noch im Laufen rief er dem MHN zu: "Bericht!", und kam dann ein wenig außer Atem schließlich beim hinteren Biobett an.

Das MHN drehte sich nicht einmal zu ihm um, erklärte aber während er konzentriert arbeitete: "Mr. Paris und mir ist es gelungen, sie wiederzubeleben. Ich wage zu behaupten, dass wir sie noch rechtzeitig herbringen konnten und sie mit großer Wahrscheinlichkeit keine Hirnschäden zurückbehalten wird. Allerdings befindet sie sich immer noch in einem kritischen Zustand. Bitte gehen Sie jetzt, Commander, ich informiere Sie sofort, wenn sie außer Lebensgefahr ist."

Chakotay war jegliches Blut aus dem Gesicht gewichen.

Sie war tot gewesen? Er konnte den Inhalt der Worte nur schwer erfassen, das Ganze kam ihm fast wie ein Traum vor. Nur dass er sich nach ein paar Sekunden aus der Schockstarre löste und realisierte, dass das hier alles andere als ein Traum war.

Jemand berührte seinen Arm und er sah in das mitfühlende und äußerst ernst blickende Gesicht von seinem Steuermann.

"Chakotay, gehen Sie wieder auf die Brücke. Der Doktor tut alles, was in seiner Macht steht", sagte er sanft und übte leichten Druck auf ihn aus, damit er auch wirklich ging.

Chakotay nickte unmerklich, warf einen letzten Blick auf Kathryn, um deren Leben das MHN gerade kämpfte und wurde sich dann gewahr, dass sie nicht allein in dem Shuttle gewesen war.

Er schaute sich um, doch er sah niemand anderen auf einem Biobett liegen.

"Was ist mit den anderen?", fragte er leise.

Tom schaute ihn fest an und schüttelte dann ebenso unmerklich wie Chakotay vorher den Kopf.

"Es tut mir leid", meinte er nur noch, dann bugsierte er den Commander aus der Krankenstation hinaus und eilte wieder zum MHN um zu helfen.

Die Türen hatten sich geschlossen und Chakotay starrte an die Korridorwand.

Sie sind tot, sagte eine Stimme in ihm, doch er schüttelte nur den Kopf.

Nein, das kann nicht sein, dachte er und seine Augen bewegten sich schnell hin und her, als er versuchte, den Inhalt der Nachricht zu erfassen. Dann erinnerte er sich, dass er keine Leichen gesehen hatte und überlegte, ob er Tom mißverstanden hatte.

Ja, so wird es sein. Sie sind nicht tot, aber irgendetwas ist passiert. Aber es geht ihnen sicher gut.

Chakotay klammerte sich an diese Gedanken wie an einen Rettungsanker. Es wäre eine Katastrophe, wenn die Voyager ihren Captain und auch noch 3 weitere Crewmitglieder verlieren würde. Zumal zwei davon auch noch Brückenoffiziere waren.

Chakotay wurde bewußt, dass er immer noch vor der Krankenstation stand und zwang sich dann, wieder Richtung Brücke zu gehen. Er musste versuchen herauszufinden, was mit den anderen geschehen war. Kathryn konnte er vorerst nicht helfen, aber bei allen Göttern, die ihm heilig waren - er würde nicht zulassen, dass sie starb.

Immer noch mit Zweifeln angefüllt, was die restliche Shuttle-Crew betraf und Sorgen um Kathryn kam er auf der Brücke an. Mehrere Augenpaare blickten ihn an, als er unschlüssig am Geländer stehenblieb und auf das große Sichtfenster starrte, auf dem gerade ein Nebel zu sehen war. Doch er nahm nichts von der Schönheit des schillernen Gases wahr, das der Voyager Crew einen wahrhaft traumhaften Anblick bot. Vor seinem inneren Auge sah er Kathryn, die auf der Krankenstation lag und um ihr Leben kämpfte.

"Commander?", holte ihn eine Stimme ins Hier und Jetzt zurück. Seine Augen wanderten zur Conn, an der Ensign Culhane saß, Tom vertrat und ihn soeben angesprochen hatte.

"Ja, Mr. Culhane?"

"Sir, geht es dem Captain gut?"

Chakotay konnte keinem diese Frage verübeln und doch wünschte er sich, dass sie niemand gestellt hätte. Eine Antwort auf diese Frage zu geben bedeutete, sich der Realität zu stellen. Er seufzte leise und sagte dann an alle auf der Brücke gerichtet: "Sie lebt, aber sie ist schwer verletzt. Der Doktor und Mr. Paris tun aber alles, was in ihrer Macht steht, damit sie wieder auf die Beine kommt."

In dem Moment betrat B'Elanna die Brücke, sie kam gerade aus dem Shuttlehangar, in den der schwer mitgenommene Delta-Flyer zurückgeholt worden war.

"Commander, können wir unter vier Augen reden?", fragte sie ihn, kaum dass sie die Brücke betreten hatte.

Chakotay musterte sie kurz und wußte, dass ihm nicht gefallen würde, was sie zu sagen hatte. Er nickte jedoch und ging zum Bereitschaftsraum des Captains, B'Elanna dicht hinter ihm.

Als sich die Türen hinter den beiden geschlossen hatte, drehte sich Chakotay zu seiner Chefingenieurin und langjährigen Freundin um. Er vermied es sich auf Kathryns Stuhl zu setzen und benutzte den Bereitschaftsraum in der festen Überzeugung, dass sie selber bald wieder hier sitzen würde und er nur hier war, weil er B'Elanna sonst hätte in sein Quartier bitten müssen.

Die Halb-Klingonin verstand offenbar seine Beweggründe und blieb ebenfalls stehen.

Ihre Lippen waren leicht geöffnet und er sah, dass sie mit sich rang um die folgenden Worte aussprechen zu können.

"Lebt sie noch?", fragte sie dann schlicht.

Chakotay nickte. "Sie wurde reanimiert und ihr Zustand ist kritisch. Was... ist mit der übrigen Besatzung des Flyers?", wagte er dann zu fragen.

Hier schaute B'Elanna jetzt betroffen erst nach unten, dann schien sie sich soweit gesammelt zu haben um ihm Auskunft geben zu können. Mit einem mitfühlenden Blick sagte sie dann leise: "Wir haben nur Tuvok gefunden. Neelix und Harry waren nicht im Flyer. Allerdings haben wir aus den Sensorlogbüchern entnehmen können, dass es durch den Beschuß zu einem Bruch der Außenhülle im hinteren Teil gekommen ist und so wie es aussieht..." Sie schluckte kurz und fügte dann fast unhörbar hinzu: "Harry war einfach am falschen Ort zur falschen Zeit."

Chakotays Hoffnungen platzten wie eine Seifenblase. Tuvok und Kim tot, wie konnte er jetzt davon ausgehen, dass Neelix noch leben würde? Dennoch fragte er nach.

"Was ist mit Neelix?"

Die Chefingenieurin zuckte mit den Schultern. "Das wissen wir nicht. Fakt ist aber, dass der Captain, Tuvok und Harry ohne Neelix an Bord kamen und wegflogen. Vielleicht wurde er gefangen genommen?"

Chakotay überdachte die Möglichkeit einen Moment und schüttelte dann leicht den Kopf.

"Hoffen wir, dass Sie Recht haben. Aber um ehrlich zu sein kann ich daran schon gar nicht mehr glauben. Die Gatlurer haben den Flyer erst aufgegeben, als alle an Bord tot waren, ich glaube nicht, dass sie Gefangene machen wollten. Trotzdem werden wir nachsehen was mit Mr. Neelix geschehen ist. Aber bevor ich die Voyager vielleicht unnötig in Gefahr bringe möchte ich gerne wissen, was überhaupt auf dem Planeten passiert ist."

Die Halb-Klingonin nickte zustimmend, legte dann eine Hand auf seine Schulter und meinte: "Der Captain wird bald wieder aufwachen, da bin ich sicher."

Chakotay legte seine Hand auf ihre und drückte sie kurz. Er war dankbar für die Geste des Trostes und auch, wenn er sich selber bei dem Gedanken sehr schuldig fühlte - Kathryn lebte noch, das war das Wichtigste.

"Danke, B'Elanna. Gehen wir wieder an die Arbeit."

Sie nickte und beide verließen den Bereitschaftsraum. Während Chakotay auf der Brücke blieb machte sich B'Elanna auf den Weg zum Maschinenraum. Sie würde von dort die Logbücher des Flyers auswerten und die Aufräumarbeiten ihrem Team überlassen.

Tuvoks Leichnam hatten sie in eine Stasiseinheit gelegt und diese dann auf die Krankenstation gebeamt, es gab also dort für sie nichts mehr zu tun.

Seit der Bergung des Captains, Tuvoks und des Delta-Flyers waren inzwischen sechs Stunden vergangen und auf der Voyager war Ruhe eingekehrt. Die Nachtschicht war auf der Brücke und lediglich Chakotay war von der Tagschicht noch da. Er konnte einfach nicht in sein Quartier gehen, die Sorgen um Kathryn nagten an ihm, das MHN hatte sich immer noch nicht gemeldet und er war lieber auf der Brücke um etwas Ablenkung zu haben.

"Ensign Culhane, reduzieren Sie die Geschwindigkeit auf Warp 2 und fliegen Sie nicht in den gatlurianischen Raum ohne meine Genehmigung ein", wandte er sich schließlich an den Steuermann.

"Aye Sir", antwortete Culhane und brachte die Voyager auf Warp 2.

"Wann erreichen wir mit dieser Geschwindigkeit die Grenze?", wandte er sich jetzt an Lt. Baxter, der die OPS bediente.

Der Angesprochene tippte kurz auf einige Buttons, schaute dann den Commander an und antwortete: "In 15 Stunden und 37 Minuten, Sir."

Chakotay nickte und wandte seinen Blick wieder auf den Hauptschirm.

Was ist dort nur geschehen, überlegte er zum hundertsten Male wohl und sein Blick wanderte wieder aus reiner Gewohnheit nach rechts, zum Sessel des Captains. Doch er war noch immer leer.

Komm schon Kathryn, laß mich ja nicht allein. Du mußt wieder gesund werden.

"Krankenstation an die Brücke", kam endlich die Stimme des MHNs.

Chakotay schreckte hoch und ließ für den Bruchteil einer Sekunde die stimmlichen Nuancen des Doktors Revue passieren. Doch er konnte keinen Hinweis finden, wie es um den Captain stand. Das Hologramm klang wie immer professionell und neutral.

"Chakotay hier, was ist mit dem Captain?", antwortete er sofort.

"Würden Sie bitte zur Krankenstation kommen?", fragte das MHN höflich.

"Ich bin unterwegs. Chakotay Ende."

Er hastete zum Turbolift und rief noch im Laufen: "Lt. Baxter, Sie haben die Brücke."

Dann war er schon verschwunden. Die Crew der Nachtschicht sah sich mit gemischten Gefühlen an.

"Hätte der Doktor nicht sagen können, wie es um den Captain steht?", schimpfte Crewman White leise vor sich hin, die an der Technikstation saß.

"Lt. Paris wäre sicher zur Schicht gekommen, wenn er nicht dem Dok helfen müßte. Und er müßte ihm nicht helfen, wenn es nichts zu helfen gäbe", kombinierte Ensign Culhane, der trotzdem ihre Worte gehört hatte aber genauso wie sie empfand.

"Gutes Argument, hoffentlich haben Sie damit auch Recht", erwiderte Crewman White und fühlte sich tatsächlich ein klein wenig besser.

Nach kurzer Zeit kam Chakotay auf der Krankenstation an. Sein Blick glitt sofort zum Biobett, auf dem Kathryn lag und er realisierte zwei Dinge - erstens: Kathryn lag noch auf dem Bett und zweitens zeigten die Überwachungsmonitore stetige Daten.

Sie lebt, den Göttern sei Dank, ging es ihm durch den Kopf und ihm wurde noch einmal leichter ums Herz, als er in das Gesicht des Doktors blickte. Er lächelte nämlich leicht.

"Wir haben es geschafft, Commander. Sie wird durchkommen und wieder völlig gesund werden", bestätigte das MHN auch noch einmal.

Chakotay unterdrückte den aufkommenden Wunsch, das MHN zu umarmen, aber ein glückliches Lächeln erlaubte er sich dafür.

"Das ist die beste Nachricht, die ich je bekommen habe, Doktor."

Er trat an Kathryns Bett heran und betrachtete sie.

Sie sieht noch schrecklich blaß aus, ging es ihm durch den Kopf.

"Wann kann ich mit ihr sprechen?", fragte er.

"Im Moment ist sie noch sediert und braucht Ruhe. Aber wenn Sie morgen gegen Mittag noch einmal vorbeikommen, kann ich sie kurz aufwecken."

Der Commander nickte. "Das ist gut, ich muß wissen was auf Gatlur passiert ist und was mit Neelix ist."

Als Chakotay das Thema Neelix anschnitt, blickte das MHN betroffen nach unten und sagte dann: "B'Elanna ließ Lt. Tuvok herbeamen, aber ich konnte noch keine Autopsie durchführen. Ich werde jedoch gleich damit beginnen. Der Captain ist stabil und Mr. Paris habe ich in sein Quartier geschickt. Und wenn ich mir erlauben darf, das zu sagen - Sie sehen ebenfalls aus, als könnten Sie Schlaf gebrauchen, Commander."

Chakotay nickte. "Ich wollte nur abwarten was mit dem Captain ist. Wir sehen uns dann morgen, Doktor. Und danke, dass Sie sie gerettet haben."

Das MHN lächelte leicht. "Das ist meine Funktion. Schlafen Sie gut, Commander, gute Nacht."

"Gute Nacht, Doktor." Damit verließ Chakotay die Krankenstation und ging in sein Quartier. Vorher informierte er allerdings noch Lt. Baxter.

"Chakotay an Lt. Baxter, halten Sie weiterhin Kurs und Geschwindigkeit. Der Captain ist außer Lebensgefahr und ich bin in meinem Quartier, falls etwas sein sollte."

"Ja Sir. Wir freuen uns, dass es dem Captain besser geht, danke für die Information", erwiderte der Lieutenant.

"Ach und Baxter", meinte Chakotay noch.

"Ja Sir?"

Der erste Offizier überlegte einen Moment, wie er sein Anliegen am besten formulieren sollte und sagte dann: "Scannen Sie unterwegs nach menschlicher DNA und informieren Sie mich umgehend, falls Sie etwas gefunden haben."

Ein kurzer Augenblick verging, dann kam Baxters Stimme: "Ich habe verstanden, Commander."

"Chakotay Ende."

Baxter warf einen unbehaglichen Blick zu Crewman White, die ihn genauso betreten ansah.

Wir suchen nach Harry Kims Leichnam, hingen die Worte unausgesprochen im Raum und es schien die kurze Hochstimmung, dass ihr Captain noch lebte, wieder in Schatten zu tauchen.

Hoffentlich finden wir ihn nicht, schoß es Baxter durch den Kopf. Er hatte den jungen Ensign sehr gerne gemocht und fand die Vorstellung unerträglich, ihn auf einmal leblos im All schwebend auf dem Hauptschirm zu sehen. Seufzend programmierte er die Scanner um und ließ seine Gedanken treiben.