Eine Woche ist es nun her, seit Shinohara zusammen mit Shibata und Iwamoto nach drei Jahren und 12 Toten den Serienmörder, Ken'ichi Yamamoto, endlich gestellt und verhaftet hat. Und das auch nur durch einen puren und unvorhergesehen Zufall.
Nun, alle Zufälle sind unvorhersehbar. Aber dieser war besonders. Denn das letzte Opfer des Mörders war Asano Katsuya. Und er hatte überlebt.
Es war knapp. Nur eine Sekunde später…
Er sitzt ihm gegenüber im abgeschirmten Raum des Polizeireviers. Es ist ein Wunder, wie gut er sich körperlich erholt hat. Bis auf die Narben auf seinem Rücken, ist da nichts mehr, woraus man eine tagelange, körperliche Tortur schließen kann. Aber Shinohara weiß, dass seelische Wunden viel, viel länger zum Heilen brauchen.
Asanos Blick ist auf die Tischplatte gerichtet; seine Hände sind auf der Tischoberfläche zusammengefaltet. Nur sehr selten hat er mal aufgesehen. Gesprochen haben sie beide fast kein Wort.
Die Luft fühlt sich seltsam an. So unwirklich. Am liebsten würde Shinohara seine Hand auf die Asanos legen. Nur um sicherzugehen, dass er tatsächlich echt ist und ihm kein Phantom gegenübersitzt.
Was für einen Anblick er abgibt…
Es ist so traurig, das Bild eines gebrochenen Mannes, mit dem er monatelang zusammengearbeitet, für ihn gekocht, sich stundenlang mit ihm unterhalten und das Bett geteilt hatte.
Kaum ist etwas von diesem Mann seit seiner Gefangenschaft übriggeblieben. Und dann musste er ein zweites Mal durch die Hölle gehen. Und dieses Mal musste Shinohara es ihm antun.
Auch wenn diese ganze Aktion einen Zweck hatte, und dieser sogar erfüllt werden konnte, so wird Shinohara seitdem von Schuldgefühlen geplagt.
Durch die Morde hatte er ihn kennenlernen dürfen.
Mit der Festnahme des Mörders ist nun alles geendet. Die Morde und alles, was Asano und Shinohara miteinander geteilt hatten.
Einfach vorbei. Zu gerne würde er Asano wieder zu seinem alten Ich verhelfen. Aber er lässt ihn nicht mehr an sich heran.
Oh Gott, niemand anderes als Shinohara selbst kann nachempfinden, wie er sich in seinem Innern fühlt. Nicht nur, weil er Asanos Tortur nachstellen musste, sondern weil es auch in seiner eigenen Vergangenheit ein dunkles Kapitel gibt, von dem niemand etwas weiß…
„Wie…fühlen Sie sich?"
Ist diese Frage taktlos?
Asano hebt den Kopf und sieht ihm direkt in die Augen. Er versucht seinen verletzten Stolz durch einen standhaften Blick und eine selbstsichere Stimme zu verbergen, aber Shinohara weiß genau, wie er sich fühlt.
„Es geht mir gut. Danke der Nachfrage."
So distanziert und kühl wie an dem Tag, als sie sich kennenlernten.
Vor einigen Tagen hatte Shinohara ihn zur Gegenüberstellung begleitet, um seinen Peiniger zu identifizieren. Er hatte Asanos Körpersprache genau beobachtet. Er hatte den Rücken durchgedrückt, die Hände zu Fäuste geballt und sie gleich wieder gelockert. Seine Brust hob und senkte sich im erhöhten Tempo. Die Beine zitterten. Trotzdem hielt er stolz den Kopf hocherhoben. Seine Stimme zitterte nicht, als er die Nummer nannte.
Shinohara weiß genau, wie viel Kraft es kostet, sich nichts anmerken zu lassen. Die Demütigungen und Schändung des eigenen Körpers zu verbergen. Aber wenn er alleine war, dann brach alles über ihm ein. Ob das auch bei Asano der Fall ist, wenn er sich dem Alleinsein widmet? Nachdem er sich an alles erinnert hatte, hatte er sich in seiner Wohnung verschanzt. Solange, bis Shinohara ihm die Nachricht brachte, dass sein Peiniger nun gefasst wurde.
Wie soll er nur je wieder ein normales Leben führen?
„Was soll ich noch hier? Die Polizei benötigt meine Dienste nicht mehr."
„Ich wollte mit Ihnen darüber sprechen, wie es nun weitergeht."
„Was genau meinen Sie?"
Wie es mit uns weitergeht…
„Sie haben eine furchtbare Zeit durchgemacht. Niemand kann so etwas alleine stemmen."
„Sie meinen, ich brauche einen Psychiater."
„Ich mache mir Sorgen um Sie."
Bitte lass dir helfen.
„Ich brauche keine professionelle Hilfe. Mir geht es gut. Ich muss nur etwas Zeit verstreichen lassen."
„Sie können nicht so tun, als ob gar nichts passiert wäre."
Jahrelang habe ich das auch versucht, aber die Zeit heilt nicht alle Wunden.
„Ich fühle mich geschmeichelt, dass Sie sich um mich sorgen. Aber das ist unnötig."
„Nur weil der Mörder jetzt geschnappt ist, bedeutet das nicht, dass es für Sie vorbei ist. Sie sollten sich wirklich Hilfe-"
„Ich denke, ich habe mich deutlich ausgedrückt, dass ich keine Hilfe in Anspruch nehme."
Asano verschränkt die Arme vor der Brust und schenkt Shinohara einen gleichgültigen Blick.
Oh ja… dieser Blick, der ihn so unnahbar wirken lässt. Oft hatte Shinohara ihn gesehen.
Es ist sinnlos deine Gefühle vor mir zu verbergen. Bitte lass mich dir helfen. Ich würde alles für dich tun! Ich hoffe, du weißt das. Sagen darf ich dir das nicht. Du willst so etwas ja nicht hören.
Ganz am Anfang, als sie sich kennengelernt hatten, mochte Shinohara diesen Charakter. Aber jetzt ist es nur noch anstrengend. Am liebsten würde er Asano packen und zu einem Spezialisten schleifen. Auch Psychiater brauchen Psychiater…
Und dann würde er ihn zu sich nach Hause holen, damit er ihn immer im Blick hatte. Aber das würde nie passieren. Er hatte seinen Job aufs Spiel gesetzt, weil er sich seinem Vorgesetzten widersetzt hatte, der ihn von dem Fall abgezogen hatte. Er hatte sich für ihn in Lebensgefahr gebracht, indem er sich ganz allein Yamamoto stellte. Seine Dienstwaffe hatte er von sich geschleudert. Dieser Kampf war etwas Persönliches.
Doch er hatte einen Fehler gemacht. Ob er nun sein Gegenüber unterschätzte oder sich selbst überschätzt hatte, kann er jetzt nicht mehr sagen. Doch wären Iwamoto und Shibata nicht gewesen, wäre er jetzt vielleicht nicht mehr am Leben…
Vielleicht kann er tatsächlich nicht mehr für ihn tun.
Es klopft an der Tür.
„Herein."
Shibata steckt seinen Kopf in den Raum. „I-ich wollte fragen, ob ich etwas für Sie tun kann. Möchten Sie einen Kaffee oder etwas zum Mittag?"
Shibata. Seit er Asano seine Ermordung vortäuschen musste, schafft der Junge es nicht mehr ihm in die Augen zu schauen. Er meidet jeden Blickkontakt. Er schämt sich. Was mit ihm passiert ist hat Shibata tief getroffen. Und Shinohara ist sich sicher, dass er genauso wie er selbst, wütend auf sich ist, dass er Asanos Schicksal nicht abwenden konnte.
Shinohara hat immer gewusst, dass Shibata Asano liebt. Er hat den Kleinen dafür immer bemitleidet. Vor allem dann, wenn er sich mit Asano im Bett vergnügt hatte.
Ahnungsloser, kleiner Shibata.
„Danke, Shibata. Aber das ist nicht nötig", antwortet Shinohara.
„Wir sind sowieso gerade fertig geworden", wirft Asano ein. Ihre Blicke treffen sich.
„Oh…o-okay."
Kaum ist Shibata wieder verschwunden, steht Asano von seinem Platz auf. Shinohara weiß, was er vorhat und versucht ihn aufzuhalten. Er steht ruckartig von seinem Stuhl auf, rauscht hinüber zur Tür und lässt sie ins Schloss fallen. Zur Sicherheit stützt er sich noch mit der Handfläche an ihr ab.
„Was soll das werden?"
„Wir sind noch nicht fertig."
„Oh, ich denke aber schon. Oder habe ich mich noch immer nicht klar genug ausgedrückt?"
Guilt|Pleasure
Shibata geht mit gesenktem Kopf durch die Gänge des Polizeireviers. Er konnte sofort die dicke Luft, die zwischen Asano und Shinohara lag, spüren. Er hatte sich vorgenommen Asano anzusehen, wenn er ihn fragt, ob er etwas braucht. Das sagt er sich jedes Mal. Aber er sieht ihn nur noch selten. Was ist, wenn dies das letzte Mal war? Dann würde er nie mehr die Chance bekommen seine Augen zu sehen.
Bevor Asano Opfer von Yamamoto wurde, hatte Shibata sich oft vorgestellt wie es wohl wäre, wenn er ihn berühren würde. Sicher hatte Asano schon viel Erfahrung in Sachen Sex gesammelt. Ganz anders als er, Shibata (eigentlich hatte er überhaupt keine Erfahrungen). Doch trotz des Gedanken, dass dieser gutaussehende Mann viel, viel reifer in diesen Dingen war, würde Shibata sehr vorsichtig mit ihm umgehen. Wie mit einer leicht zerbrechlichen Vase.
Es hatte ihn immer sehr glücklich gemacht, wenn Asano ihn anlächelte. Doch dann wurde ihm jedes Mal klar, dass es ein Lächeln war, was man Kindern schenkte.
Shibata ist noch ein halbes Kind. Er wohnt sogar noch bei seinen Eltern. Wie könnte da ein Mann wie Asano sich schon für ihn interessieren? Und nun ist sowieso alles hoffnungslos… Diese Gewissensbisse machen es sehr schwer Asano noch mit etwas erotischem in Verbindung zu bringen. Als Shinohara ihm das falsche Messer in den Körper gejagt und Asano Tränen wegen Shibata vergossen hatte, verspürt er nur noch Trauer und Mitleid für Asano.
Er hatte seinetwegen geweint. Es sind diese Tränen, die Shibata nicht schlafen lassen. Zu gerne würde er ihm immer und immer wieder sagen, wie leid es ihm doch tut. Doch Asano würde nur darauf antworten: Sie haben alles richtig gemacht, Shibata. Vergessen Sie nicht, dass das alles meine Idee war.
Plötzlich stößt Shibata mit jemanden zusammen. Überrascht schaut er auf. Als er merkt, in wen er da hineingelaufen ist, muss er seinen Kopf weit in den Nacken legen, um seinen Kollegen in die Augen blicken zu können. Ein grimmig aussehendes Gesicht schaut zu ihm hinunter, hinter dem sich aber ein guter Mensch verbirgt.
„V-verzeihen Sie, Iwamoto! Das war nicht meine Absicht."
Shibata verbeugt sich entschuldigend vor dem Riesen.
„Alles in Ordnung?", fragt die tiefe, rauchige Stimme seines Gegenübers.
„J-ja, mir geht es gut. Warum fragen Sie?"
„Ihr Gesicht."
„Hm?" Shibata tastet nach seinem Gesicht und spürt sofort, dass er feuchte Wangen hat. Hat er etwa geweint?
„Oh! Äh… ja, ich-ich war eben auf der Toilette und ich habe wohl vergessen mein Gesicht abzutrocknen." Shibata fummelt ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und trocknet sein Gesicht. Es muss ganz rot sein. „Alles bestens", lächelt er.
Iwamoto gibt ein Brummen von sich, das sehr nach Unglauben klingt.
„En-entschudigung?"
Shibata und Iwamoto drehen sich zu einem hochgewachsenen, fremden Mann um. Er ist kein Japaner, das sieht Shibata sofort.
„Entschuldigung. Sprechen Sie englisch?", fragt der Fremde sie auf Englisch. Dabei klingt er recht verzweifelt.
Shibata und Iwamoto sehen sich an.
„Nicht sehr gut", antwortet Shibata mit einem schuldbewussten Gesicht. Es ist noch gar nicht so lange her, seit er seine Schule abgeschlossen hatte, aber in Englisch ist er schon immer eine Niete gewesen.
Der Fremde überlegt, wie er sein Begehr ausdrücken soll. So wie Shibata englisch spricht, so scheint er japanisch zu sprechen.
Dann nennt er nur einen Namen.
„Katsuya Asano?"
„Asano? Sie wollen Asano sehen?"
Das ist eines der einfachen englischen Sätze. Der Fremde nickt und ein Lächeln erscheint auf seinem Gesicht.
„Wie lautet Ihr Name?", fragt Iwamoto plötzlich. Der Fremde schaut ihn für ein Sekunde überrascht an.
„Mein Name ist David Krause. Katsu-" Der Fremde stockt. „Herr Asano und ich kennen uns. Wir sind quasi alte Freunde."
„Verstehe. Mein Kollege Shibata wird Sie zu Herrn Asano bringen."
„Äh…" Das einzige, was Shibata verstanden hat, war sein Name und der von Asano. Seit wann kann Iwamoto so gutes Englisch?
„Bringen Sie den Besucher zu Herrn Asano, Shibata."
„O-okay!"
Also geht Shibata den ganzen Weg wieder zurück, als Führer eines Fremden, der Asano zu kennen scheint. „Alte Freunde" hatte er noch verstehen können. Wenn dieser David Krause kein japanisch sprechen kann, lebt er wohl nicht in Japan. Woher er auch zu kommen mag, er hat seine Reise nach Japan für Asano angetreten. Einfach so. Ohne vorher die japanische Sprache zu lernen. Und er macht auch den Anschein, als ob er es eilig hätte, oder vielleicht verwechselt Shibata es mit Nervosität?
Zu gerne würde er wissen, was er von Asano will. Aber das geht ihn natürlich nichts an.
Gestehe es dir endlich ein, Yuuta! Du wirst nie ein Teil von ihm sein… Du kannst ihn nicht einmal Freund nennen. Nicht so wie dieser Fremde.
Auf eine seltsame Art und Weise kann Shibata spüren, dass Krause und Asano etwas miteinander verbindet. Wer weiß schon, wie lange sie sich kennen. Schließlich hatte Asano auch ein Leben, bevor er zu ihnen gekommen ist. Ein Leben in Amerika zum Beispiel. Und dann fällt es Shibata wie Schuppen von den Augen. David Krause muss Amerikaner sein. Der Freund, von dem Asano einmal erzählt hatte. Bei dem er gewohnt hatte während seines Aufenthaltes in Amerika.
Asano will doch nicht etwa zurück in die Staaten? Für immer?
Shibata fühlt eine Übelkeit in sich aufkommen. Das kann doch nicht wahr sein!
Halt! Einen Moment… Dass er hier ist muss lange nicht heißen, dass Asano weggehen wird. Aber macht das eigentlich einen Unterschied? Ich werde ihn so oder so nie wiedersehen…
Seine Eltern, insbesondere seine Mutter, wissen immer Bescheid, wenn Shibata etwas bedrückt. Und seit ihre Aufgabe, Asanos Gedächtnis zurückzuholen, erfolgreich und er wieder nach Hause zurückgekehrt war, spürte seine Mutter sofort, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Vor Missionsantritt hatte er seinen Eltern erzählt, dass es sich um nichts Gefährliches handle, damit seine Mutter sich keine Sorgen machte. Immerhin kommt es selten vor, dass Shibata die Nacht über nicht zu Hause ist.
Doch schon als er die Schwelle seines Elternhauses betreten hatte, wussten sie, dass etwas mit ihren Sohn nicht stimmte. Natürlich hatte er ihnen nichts erzählt. Shibata als Polizist darf nichts von den Ermittlungen erzählen. Aber er hatte sich solche Mühe gegeben, um sich nichts anmerken zu lassen. Er hatte sich so angestrengt zu vergessen, was er dem Mann angetan hatte, zu dem er aufsieht.
Das schlimmste an der ganzen Sache ist, dass Asano der erste Mensch überhaupt ist, der diese Gefühle in Shibata aufleben lässt. Dieses Kribbeln und die innere Hitze, wenn er in seiner Nähe ist.
Hin und wieder verspürt Shibata den Drang es seinen Eltern zu sagen. Nicht das er in einen Mann verliebt ist, sondern das er Liebeskummer hat. Seine Mutter würde ihn in den Arm nehmen, wie sie es manchmal noch tut, und würde ihm sagen, dass die nächste Liebe sicher nicht lange auf sich warten lässt. Dass er noch so jung ist und sein ganzes Leben noch vor sich hat.
Das alles will er gar nicht hören. Er weiß, dass seine Eltern seit ihrer Schulzeit ineinander verliebt waren und nach ihrem Abschluss sofort geheiratet haben.
Sie wissen gar nichts davon, wie es ist, seine erste große Liebe zu verlieren.
Der Besucher läuft dicht hinter Shibata. Er ist recht groß. Vielleicht etwas größer als Shinohara, aber immer noch kleiner als Iwamoto.
Shibata erinnert sich an ein kleines Detail. Er hatte leichte Augenringe an dem Amerikaner bemerkt. Und wenn er jetzt so darüber nachdenkt, findet er, sieht er genauso erschöpft aus wie Asano.
Schließlich erreichen sie den Raum. Die Tür ist zu und Shibata ist sich nicht sicher, ob Shinohara und Asano noch drinnen sind. Er hebt bereits die Hand, um an die Tür zu klopfen, als plötzlich Shinoharas laut gewordene Stimme durch die Barriere zwischen sich und Shibata dringt.
Oh nein…
Das letzte Mal, als Shinohara und Asano laut geworden waren, war an dem Tag, als Asano ihnen seinen Plan erläutert hatte, wie er am sichersten und schnellsten sein Gedächtnis wiedererlangen kann. Shinohara war dagegen. Genauso wie Shibata und Iwamoto. Aber nur Shinohara hatte seinen Unmut Luft gemacht. Doch weil der Chef auf Asanos Seite war, war ihnen nichts anderes übrig geblieben…
Shibata schlägt seine Fingerknöchel fast zu zaghaft gegen die Aluminiumtür.
Guilt|Pleasure
„Ich finde das im höchsten Maße verantwortungslos!"
„Es ist nicht Ihre Angelegenheit-"
„Selbstverständlich ist es auch meine Angelegenheit!"
„Wirklich?" Asano tritt nahe an Shinohara heran. „Und warum sollte es Ihrer Meinung nach, auch Ihre Angelegenheit sein?" Ihre Blicke beginnen einen Kampf um Autorität. „Doch nicht etwa, weil wir Sex hatten? Nur weil ich Ihnen erlaubt habe mich ficken zu dürfen, sind Sie noch lange kein Teil meines Lebens. Ich glaube mich daran erinnern zu können, dass ich Ihnen das am ersten Abend deutlich gemacht habe."
Shinoharas Körpersprache spiegelt Asanos Worte wider. Sie sollen auch verletzen. Er ist Shinohara dankbar für alles, was er für ihn getan hat. Aber jetzt ist einfach die Zeit gekommen, um getrennte Wege zu gehen. Shinohara macht ihm das nicht einfach. Er zwingt ihn geradezu, so mit ihm zu reden.
Er will einfach nur alleine sein. Darum hatte er sich doch tagelang in seine Wohnung eingesperrt. Und selbst da hatte er ihn nicht in Ruhe gelassen.
Und jetzt steht er nur in diesem Zimmer mit Shinohara, weil er sich erhofft, ihm endlich klar machen zu können, dass es aus und vorbei ist.
„Treten Sie bitte von der Tür weg. Es gibt nichts mehr, was wir uns zu sagen haben."
Shinohara schweigt. Und er macht auch nicht keine Anstalten ihn durch die Tür gehen zu lassen.
Shinohara sieht ihn mit diesen durchdringenden Blick an. Diesen Blick setzt er immer auf, wenn er über etwas nicht sehr erfreut ist. Die wahre Stärke dieses Blickes sind aber Shinoharas Augen. Er besitzt ungewöhnliche Augen. Sie sind sehr ausdrucksstark. Und wenn er mit ihnen durch eben diesen durchdringenden Blick seinen Unmut sprechen lässt, könnte man fast Angst bekommen.
Am Anfang fand Asano das sehr sympathisch. Doch heute muss er sich eingestehen, dass er sich vor diesem Blick fürchtet. Ganz unweigerlich muss er dann an seinen Peiniger denken.
Das ist ein weiterer Grund, warum er und Shinohara nicht länger in Kontakt stehen können. Doch soll er ihm das so direkt ins Gesicht sagen? Dass er ihn an den Mörder und Vergewaltiger erinnert? Und das ganze macht es nicht besser, seit Asano den Plan gefasst hatte, Shinohara als seinen Peiniger fungieren zu lassen, damit er auf eine furchtbare Art und Weise seine Erinnerung wiedererlangen konnte.
Er konnte sich an alles erinnern. Doch warum nur musste er ausgerechnet das Gesicht vergessen?
Er hatte Shinohara, Shibata und Iwamoto keinen Gefallen damit getan. Mit diesem Wissen kann und will Asano ihnen nicht mehr in die Augen schauen.
„Warum wollen Sie keine Hilfe annehmen?"
Asano ist fühlt sich plötzlich so müde. „Bitte lassen Sie uns das nicht noch einmal durchkauen. Ich gehe Sie nichts mehr an. Also braucht es Sie auch nicht zu interessieren, was ich tue oder nicht tue. Und jetzt lassen Sie mich durch. Ich bin es langsam leid."
„Nachdem, was Ihnen passiert ist, wäre es verantwortungslos von mir nicht sicherzugehen, dass Sie sich professionelle Hilfe holen. Wie wollen Sie Ihren Alltag bewerkstelligen? Wie wollen Sie die Nächte mit Alpträumen überstehen? Und wenn Sie eine Agoraphobie entwickeln?"
„Ach? Sind Sie jetzt der Psychiater?"
Lass mich einfach gehen. Es hat keinen Zweck mehr.
„Du weißt nicht, was gut für dich ist…"
Asano verkrampft sich. „Wagen Sie es noch einmal mich zu duzen!"
Shinohara sieht ihn erschrocken an. Vermutlich hatte er es gar nicht bemerkt. Shinohara hatte sich immer an ihre Abmachung gehalten. Außerhalb des Schlafzimmers wird sich nicht geduzt. Das ist das erste Mal, dass die Regel gebrochen wurde.
Ein weiterer Grund so schnell wie möglich den Kontakt abzubrechen.
„Shinohara, ich danke Ihnen für alles, was Sie für mich getan haben. Aber mehr können Sie nicht mehr tun."
„…"
„Sehen Sie mich bitte nicht so an. Ich brauche Ihr Mitleid nicht."
„Nein, vermutlich nicht…"
Ein weiteres Mal klopft es an die Tür. Es ist ein recht zaghaftes Klopfen. Sie beide wissen sofort, dass es wieder Shibata ist.
Doch anstatt wie vorher „Herein" zu sagen, sagt Shinohara in einem genervten Tonfall: „Ja?"
„Ich bin es nochmal, Shibata. Es tut mir leid, dass ich wieder störe, aber hier ist ein David Krause, der Herrn Asano sprechen möchte."
Asanos Herz stößt wie eine Dampframme gegen das Innere seiner Brust, als er diesen Namen hört.
David Krause? Das kann unmöglich sein.
Shinohara öffnet die Tür. In diesem Moment wünscht sich Asano, er würde sie weiterhin stur geschlossen halten.
Und dann steht er da. Asano hatte versucht in den wenigen Sekunden, in denen er eben erfahren hatte, dass David hier ist, sich auf ihn vorzubereiten. Aber als ihre Blicke sich treffen, stürzt alles über ihn ein.
Er fühlt sich einer Ohnmacht nahe. Auch David scheint sich fangen zu müssen. Doch dann taucht ein zurückhaltendes Lächeln auf seinem Gesicht auf.
„Hallo, Asano. Lange nicht gesehen."
Ganz egal wie sehr Asano es auch versucht, aber es kommt einfach kein Laut aus seinem Mund. Wann war er das letzte Mal so sprachlos? Er kann sich nicht erinnern.
„Und Sie sind genau?", fragt Shinohara im fehlerfreien Englisch.
„Mein Name ist David Krause. Herr Asano und ich kennen uns schon recht lange. In Amerika hat er eine Zeit lang bei mir gewohnt." David hält Shinohara seine Hand hin.
Asano schaut zu Shinohara hinauf, um seine Reaktion zu beobachten. Aber was für eine Reaktion er zu sehen vermutet weiß er selbst nicht genau. Schließlich geht ihn seine Privatangelegenheit nichts an.
Aber dann tut er etwas, was Asano empören lässt.
„Wir sind hier in Japan", erklärt Shinohara mit kalter Stimme. „Wir verbeugen uns zur Begrüßung."
„Oh… Das-das tut mir leid." Also verbeugt sich David vor ihm, obwohl das gar nicht nötig ist.
Noch während David in der Beugehaltung ist, knurrt Shinohara: „Zu tief."
Er versucht es ein weiteres Mal, doch auch das stimmt Shinohara nicht zufrieden. „Nicht tief genug."
Und endlich findet Asano seine Stimme wieder.
„Herrgott nochmal, geben Sie ihm die Hand, Shinohara!"
„Hmpf!" Er hält ihm schließlich seine Hand hin und David ergreift sie zögerlich.
Normalerweise ging David immer ganz locker mit Schikanen um, aber heute scheint er anders zu sein…
„Lassen Sie uns bitte allein, Shibata", bittet Asano.
„J-ja."
Der Junge geht mit eiligen Schritten davon.
„Und Sie auch, Shinohara."
„Bitte was?", erkundigt er sich empört.
„Ich möchte mit Herrn Krause alleine sprechen. Das verstehen Sie sicher."
„Nein. Aber ich werde Ihren Wunsch respektieren. Doch ich bleibe vor der Tür."
„Sie müssen nicht misstrauisch sein. Ich kenne ihn sehr gut."
„Weil Sie ihm ebenfalls erlaubt haben Sie ficken zu dürfen?"
Ein Ruck durchfährt Asanos Körper und sein Kopf dreht sich ruckartig zu David. Nur eine Sekunde danach durchlebt er Erleichterung, als ihm einfällt, dass sie beide japanisch sprechen und David kein einziges Wort verstanden haben kann, soweit er die letzten 7 Jahre nicht damit verbracht hatte die japanische Sprache zu lernen.
Asano kann das Zittern in seiner Stimme nur mit Mühe zügeln. „Gehen Sie."
Ein letzter Blick für David und Asano und Shinohara verlässt den Raum und schließt die Tür hinter sich.
„Ist alles in Ordnung?"
„Ja, mach dir keine Gedanken um Shinohara."
„Ich habe das Gefühl, als ob er mich nicht hier haben will."
Ich schätze, er ist eifersüchtig. Das kann ich nicht haben.
„Setz dich bitte."
David kommt Asanos Bitte nach und setzt sich auf den nächstgelegenen Stuhl, an der senkrechten Seite des Tisches. Asano setzt sich ihm gegenüber und für einen Augenblick schauen sie sich nur an.
„Ähm…tja. Du fragst dich sicherlich, warum ich hier bin."
David verhält sich wie ein schüchterner Junge. Er kann Asano kaum in die Augen schauen und seine Stimme ist im Verhältnis zu damals nicht so stark.
Nun, Asano kann es ihm nicht übelnehmen. Nach all den Jahren steht er plötzlich wieder vor ihm, und er selbst war für einen Moment wie versteinert.
„Nun, wenn du mich überraschen wolltest, dann ist dir das gelungen. Aber warum jetzt erst? Oder sollte ich fragen, warum überhaupt?"
„Katsuya, ich brauche dich. Nachdem du damals zurück nach Japan gegangen bist, ist mein Leben ein wenig aus den Bahnen geraten."
„Du weißt, dass ich meine Nummer löschen musste."
„Ja… Ich war auch damit einverstanden. Aber… ich konnte einfach nicht mehr. Ich habe es wirklich versucht. Ich habe versucht mein Leben zu leben. Aber irgendwie… Ich habe versucht mich an das Leben zurückzuerinnern, bevor ich dich kennenlernte. Aber diese Erinnerung ist so verschwommen. Keine Nummer, keine E-Mail-Adresse… Mir blieb nichts anderes übrig, als hierherzufliegen und dich zu bitten, mit mir nach Amerika zurückzukehren. Ich liebe dich noch immer."
„…und das fällt dir nach 7 Jahren wieder ein?"
„So ist das nicht…" David beugt sich mit dem Oberkörper über die Tischplatte und schiebt seine Hand zu Asano hinüber. Er weiß, dass er will, dass er sie annimmt. Aber in Asano tobt ein Gefühlschaos, das er kaum bändigen kann.
Er fühlt sich so hilflos. Genauso wie in den Fängen vom Yamamoto. Doch plötzlich erkennt er eine kleine, rundliche Narbe auf seinem Handrücken. Sie ist sehr ausgeprägt. Die Wunde muss sehr tief gewesen sein.
„Ich ähm… Mir ist da was passiert. Ich war in…schlechter Gesellschaft, könnte man sagen." David lacht nervös. „Seitdem bin ich zu keiner neuen Beziehung fähig. Ich bin zu dir gekommen, weil ich dich liebe und du der einzige bist, dem ich vertraue."
„…"
„Ich weiß, ich habe nicht das Recht dich aus deiner gewohnten Umgebung zu reißen. Du hast hier deine Wohnung, Arbeit und…" David wirft einen kurzen Blick hinter sich zur Tür. „Und ein Liebesleben. Haha… Du stehst wohl wirklich auf Polizisten, was?"
Ist es für dich so offensichtlich, dass ich mit ihm geschlafen habe? Dann nützt wohl auch kein Abstreiten.
„Es ist nur Sex. Nicht mehr und nicht weniger."
„Hast du dich nach unserer Trennung nie mehr verliebt?"
Asano schweigt.
„Soll das bedeuten, du liebst mich auch immer noch?" Davids Stimme wird von Mal zu Mal heller und hoffnungsvoller.
Liebe ich ihn wirklich noch immer?
David scheint eine Antwort zu erwarten, und das setzt Asano stark unter Druck, daher wechselt er das Thema.
„Wie lange bist du schon hier?"
„Seit gestern."
„Und in welchem Hotel wohnst du?"
„In gar keines. Ich hatte nur Geld für den Aufenthalt für gestern. Und das restliche Geld brauche ich für den Rückflug."
„Du hattest darauf spekuliert, dass ich dich bei mir aufnehme?"
„Wenn es dir nichts ausmacht."
„Was ist mit deiner Arbeit bei der Polizei?"
„…ich habe mich freistellen lassen. Für eine unbefristete Zeit."
„…"
„Wenn du willst, dass ich wieder gehe, tue ich das."
Setz mich nicht so unter Druck! Ich habe selber eine schwere Zeit hinter mir. Aber vielleicht sollte ich ihn einige Tage bei mir wohnen lassen. Nur um wieder das Gefühl von damals zu bekommen. Und dann werde ich sehen, ob ich ihn noch liebe…
„Nein, es macht mir nichts aus…"
Nun beugt sich David weit vor und ergreift Asanos Hand. Fest hält er sie in seiner. „Ich danke dir."
Asano fragt sich, wofür er sich wohl bedankt. Dafür, dass er ihn nicht auf der Straßen schlafen lässt, oder dafür, dass er ihnen beiden noch eine Chance gibt?
David erhebt sich von seinem Platz, geht um den Tisch herum zu Asano stehen. Dieser schaut zu ihm hoch.
David hält ihm seine Hand entgegen. Zuerst zögert Asano, doch dann nimmt er sie an, erhebt sich von seinem Stuhl und wird von seinem Gegenüber in eine Umarmung gezogen. Abermals zögert er, erwidert dann aber die Umarmung.
„Ich habe dich so sehr vermisst. Ich liebe dich…", flüstert David ihm ins Ohr.
„Das sagtest du bereits."
„Ich kann dir das nicht oft genug sagen. Ich glaube, ich habe dir das damals nicht oft genug gesagt."
Auf Asanos Gesicht erscheint ein trauriges Lächeln. „Doch, hast du. Sooft, dass es mich manchmal genervt hat."
David lacht leise. Ein aufrichtiges Lachen. Seine Umarmung wird enger. „Ich werde dich nie wieder gehenlassen."
Guilt|Pleasure
Shinohara hatte draußen vor dem Zimmer auf einer kleinen Bank Platz genommen und wartet nun angespannt darauf, dass Asano und dieser Amerikaner endlich fertig werden. Er hat kein gutes Gefühl. Die Anwesenheit dieses David Krause spannt ihn an. Was macht der nur hier? Und wie hat er Asano gefunden?
Mit vor der Brust verschränkten Armen sitzt er dort allein auf dem Flur, den Rücken durchgedrückt und fixiert die Tür vor ihm mit den Augen. Shinohara kann es nicht leugnen, aber die Eifersucht in ihm macht ihn verrückt. Zum Glück ist er ein Mensch, der sich unter Kontrolle hat. Sonst würde er jetzt dort hineinstürmen, den Amerikaner am Kragen packen und ihn hochkant aus dem Polizeirevier, aus SEINEM Polizeirevier, rauswerfen. Wenn er die Macht dazu hätte, würde er ihn gar aus Japan rausschmeißen. Und Asano würde er in seine Wohnung, in sein Schlafzimmer schleppen und nochmals kräftig durchnehmen, bevor er ihm anschließend seine Liebe gesteht.
Was denk ich da bloß… Katsuya hat so eine furchtbare Zeit durchgemacht und ich denke an so etwas? Ich muss ihn mit Samthandschuhen anfassen. Aber er macht es mir nicht leicht!
Geschlagen beugt sich Shinohara vor und vergräbt sein Gesicht in seinen Händen.
Was soll ich nur tun?
Plötzlich geht die Tür auf. Sofort richtet Shinohara sich auf. Sein Herz rast. Er hat wirklich kein gutes Gefühl. David Krauses Gesichtszüge haben sich erhellt, das sieht Shinohara deutlich.
Er sucht den Blickkontakt mit Asano. Dieser sagt etwas zu dem Amerikaner, was Shinohara in „Geh schon mal vor. Ich komme gleich nach" übersetzt. Als Krause geht, wendet sich Asano endlich ihm zu.
„Tja", seufzt er aus. „Ich werde jetzt gehen. Und ich werde nicht wiederkommen."
Obwohl Shinohara wusste, dass er das sagen würde, rutscht ihm das Herz vor Schreck in die Hose. Er versucht es sich nicht anmerken zulassen.
„Shinohara… Ich danke Ihnen für alles, was Sie für mich getan haben. Wirklich. Das werde ich Ihnen niemals vergessen. Aber jetzt weitermachen wie bisher ist einfach unmöglich."
„Hmh…"
„Suchen Sie sich eine nette Frau und gründen Sie eine Familie. Sorgen Sie sich nicht um mich. Ich komme schon zurecht. Auf Wiedersehen, Shinohara."
„…"
Ein letztes Mal legt Asano ihm seine Hand auf seinen Oberarm. Shinohara schaut ihm nach, als er den Gang hinuntergeht, an dessen Ende der Amerikaner wartet. Er hofft so sehr, dass er sich noch einmal zu ihm umdreht, aber das tut er nicht. Er verliert ihn aus seinen Augen, als sie beide um eine Ecke biegen.
Das war's dann wohl…
Shinohara hatte sich oft vorgestellt, wie sie beide sich trennen würden. Genau so. Nur aus einem anderen Grund.
Er sinkt zurück auf die Bank. Er schließt die Augen und versucht sich klar zu machen, dass er das alles nicht bloß träumt, obwohl er sich schon längst im Klaren darüber ist, dass das die schmerzhafte und traurige Realität ist. Wäre dem nicht so, würde er sofort in seinem Bett aufwachen und Asano neben sich liegen sehen.
Du hast deinen Amerikaner. Und ich habe niemanden.
