Volterra, 1430:

Es schneite.

Die sanften Flocken bewegten sich so langsam gen Boden, als wären sie vorsichtig, nicht dabei erwischt zu werden. Sie wehten um Mauritius´ Nase, die dieselbe blasse Farbe trug. Das tiefe Grau seines Mantels schuf einen starken Kontrast zu dem hellen Schnee und die Ruhe, die in der Luft lag, wurde durch sein plötzliches Erscheinen unangenehm zerstört. Wenn er einen Blick nach hinten warf, konnte er die Mauern des Schlosses sehen. Die gotischen Fenster und Zinnen.

Er befand sich auf einer kleinen, mit Bäumen gesäumten Lichtung und war eigentlich hergekommen, um den seltenen Winter zu bestaunen. Die dunklen, kahlen Bäume waren von Schnee bedeckt und griffen mit ihren leeren, toten Händen nach ihm, als wollten sie ihn packen und zerquetschen. Der Boden war knöchelhoch in Weiß getaucht und jeder einzelne Schritt knirschte unter seinem Gewicht. Der leichte Nebel, der in der Luft schwebte schuf verschwommenes Licht und die Sonne des späten Nachmittages erstrahlte in einem zarten Orange – Rot, das zwischen den verschneiten, kargen Bäumen eine besondere Stimmung zauberte. Die Reihe von Bäumen wurden von ihr durchtränkt und öffneten am Ende, um den heißen Feuerball bei sich zu begrüßen. Hinter ihnen ging es einen Hügel hinab.

Mauritius verwob seine Finger miteinander, während er langsam einen Schritt vor den anderen setzte. Er zog seinen Mantel enger um sich, sodass man nicht einmal seine Augen erblicken konnte. Nur den Mund, der in vollkommener Emotionslosigkeit verharrte. Er sah aus wie der Tod in Schwarz auf der Suche nach einem schwachen Opfer.

Die Frau, die er suchte, war so viel mehr als ein wehrloses Opfer. Sie war seine Herrin und es war seine Aufgabe, auf sie zu achten und seine Schuld, wenn ihr etwas passieren würde. Nur deswegen war er hergekommen, weil er wusste, dass sie den Schnee wie er genießen würde, wenn auch auf ihre eigene Art … Er hatte von niemandem erfahren, wo sie sich befand, sondern es selbst herausgefunden. Es war ein ganz bestimmtes Mittel gewesen, das es ihm ermöglicht hatte.

Er hörte, wie die fallenden Schneeflocken von einer Melodie begleitet wurden, die so traurig war, dass es im Herzen brannte. Die Klänge einer Violine hallten durch die kühle, neblige Luft und die Flocken tanzten, als er näherkam. Bereits von fern hatte er sie durch die Bäume links von ihm sehen können, die dem Klang entgegen strebten wie Durstige dem Wasser. Genau wie Mauritius, saß sie allein und in mitten eines Waldes neben dem höchsten Punkt des Hügels und spielte ihr Instrument.

Die Meisterin saß auf einem großen Stein, die Geige in einer anmutigen, tiefen Haltung. Sie war von einem dunklen, fast schwarzen Holz. Zuvor hatte er noch nie eine so seltsame Violine gesehen. Seit er denken konnte, besaßen Meister Aro und sie eine dieser schwarzen Violinen. Die Klänge waren so schön, dass Mauritius kein Wort von den Lippen kam und er keinen klaren Gedanke formen konnte. Die Töne waren nicht schnell und nichts Besonderes., dennoch waren sie von solch vollkommener Schönheit, dass es schmerzte.

Die Bäume um sie herum verschwammen wie eine schwarze Mauer und nur ein kleiner Eingang ließ andere zu ihr auf die winzige Lichtung gelangen. Er konnte ihre kleinen Fußspuren im Schnee ausmachen und bemerkte, dass sie bisher die einzige gewesen war, die den jungfräulichen Schnee an diesem Ort entweiht hatte. Das hatte sie immer am besten gekonnt: Zerstören. Sich und andere.

Der Schnee hatte sich bereits auf ihrem Körper, der Geige und dem Stein unter ihr abgesetzt, doch es schien sie nicht zu stören. Didyme hatte Mauritius die rechte Seite zugewandt und die Augen genüsslich geschlossen. In diesem einen Moment erinnerte sie ihn an ihren Bruder, seinen Meister, der ebenfalls sehr oft auf diese Weise spielte, wenn auch nicht an einem Ort wie diesem. Mauritius war es gewohnt, dass sie spielte und sehr oft sah er ihr dabei zu. In ihren eigenen Räumlichkeiten. Sie spielte immer, oft und hervorragend, aber niemals zuvor hatte sie draußen gespielt, wo jeder sie sehen könnte. Jeder Unwürdige und jeder Mensch …

Er musste zweimal blinzeln, ehe er erkannte, dass es ein Grabstein war, auf dem sie verweilte. Er war von grünem Efeu bedeckt und die Inschriften auf ihm waren kaum mehr zu lesen. Er wusste, dass es sie nicht interessierte. Er wusste, dass diese Frau grausam war und keinen Hehl daraus machte, dass sie auf einem Grabstein saß und spielt. Sie war verrückt, einsam und traurig - jeder wusste das. So wie sie gütig sein konnte, war sie im nächsten Moment wieder die grausamste Frau auf Erden …

Die kleine Lichtung, die eigentlich eine Art Familiengruft war, war umsäumt von ein paar einsamen Kerzen, die wohl die Angehörigen der Toten aufgestellt hatten. Manche auf dem Boden, manche auf dem Stein selbst. Sieben, zählte er … Diese Menschen mussten reich gewesen sein oder der Tote ein sehr wichtiger oder geliebter Mann. Die Meisterin schien aber lediglich die Stimmung für sich zu nutzen, die der Ort zauberte. Sie beachtete die vielen anderen Grabsteine außen herum nicht, die wie Zähne aus der Erde ragten und sie zu beschimpfen schienen. Die Toten fühlten sich provoziert und hassten sie.

Ganz langsame und einsame Melodien spielte sie, die sich manchmal auch wiederholten. Wie ihr Bruder war sie eine wahre Meisterin dieses Instrumentes. Sie trug ein weißes, bodenlanges Kleid, das auf dem Schnee auflag. Nebel wirbelte darum herum, sodass niemand sehen konnte, wo genau das Kleid endete. Es hatte wenige Verzierungen am unteren Saum und an den Ärmeln. Die Meisterin glitzerte in dem Licht der roten Sonne, das sich im weißen Schnee brach … Wie der Engel, der ebenfalls vom Schnee bedeckt war und gegenüber von ihr vorwurfsvoll aus den großen, grauen und starren Augen starrte.

Sie hatte die Beine überschlagen und beachtete Mauritius nicht. Er überlegte sehr lange, ehe er einen vorsichtigen Schritt auf die Lichtung setzte und näherkam. Man konnte kaum sehen, wie er seine Füße bewegte, denn er schien zu schweben. Sie musste ihn sicherlich schon sehr lange bemerkt haben, denn Mauritius bemerkte das kleine Zucken um ihre blutroten Lippen.

Sie sah nicht auf und hörte nicht auf zu spielen, auch dann nicht, als er in dem kreisrunden, klitzekleinen Platz, umsäumt von Bäumen, Gräbern und Kerzen zum Stehen kam. Sie war so wunderschön … Er ließ ein leises Seufzen verlauten.

Plötzlich öffnete sie ihre Augen; wie ein kleines Mädchen, das aus einem Traum gerissen worden war. Nun war er sich nicht mehr so sicher, ob sie ihn denn wirklich gehört hatte. Trotzdem spielte sie weiter, nur lagen ihre tiefschwarzen, durstigen Augen nun auf ihm und sie schenkte ihm ein seltsames, leeres Lächeln. Die ganze Zeit über. Wie eine erzwungene, jedoch warme Begrüßung. Es kam ihm so bekannt vor und doch so fern. Wie ihr Bruder. Diese krankhafte Ähnlichkeit mit Meister Aro … Es schmerzte. Man konnte es immer und immer wieder betonen, wie ähnlich sie sich sahen, ohne Zwillinge zu sein.

»Mauritius …«, hauchte sie in den Nebel hinein und beendete ihr Spiel. Stille trat ein und nur das Wispern des Windes war zu hören, der mit seinen Kindern, den Kerzen, spielte. Didyme legte ihre Violine auf den weißgewandeten Schoß, drehte den Kopf leicht zur Seite und legte ihn dann schräg, ebenfalls eine Geste, die ihr Bruder oft machte. Dort war noch immer das merkwürdige Lächeln, das immer grausam aussah.

Mauritius starrte nur emotionslos zu ihr hinab, ohne es zu erwidern. Er hatte sich Sorgen gemacht. Der Meister, ihr Gatte, würde ihn stundenlang, auf jede erdenkliche und grausame Weise sein Leben lang foltern, wenn ihr etwas geschehen würde und es seine Schuld wäre. Es war nur Glück gewesen, dass er sie gefunden hatte.

»Herrin … «, war seine leise Antwort. Doch sie lächelte nur. Nun aber anders. Gütiger und wärmer.

Der Rabe tat etwas, womit er nicht gerechnet hätte. Sie erhob sich und kam auf ihn zu. Sie strich sich ihr schwarzes, langes Haar aus dem Gesicht und sah dabei aus wie ein Gespenst. Ein seelenloses Gespenst. Als sie sie sich bückte, um die eben weggelegte Violine zu nehmen, wirkten ihre Bewegungen zeitlupenartig. Langsam griff sie mit ihren zarten, schönen Fingern nach dem Instrument - den Bogen zwischen Ring – und kleinem Finger.

Mauritius wollte gerade etwas sagen, als sie einfach an ihm vorbeiging, wie ein Geist im Nebel. Als wäre sie nicht real … als gäbe es ihn nicht. Ihr Körper wirkte durchscheinend und nicht real. Nur sein Name, den sie wie eine Frage ausgesprochen hatte, war der einzige Beweis, dass er in ihrer Welt existierte

Immer noch lächelnd wandte sie sich schließlich doch um, als er sie verwirrt ansah und sie sich gegenüber standen. Sie hob eine Hand. »Er macht sich zu oft Sorgen, Mauritius. Zu oft … «, seufzte sie leise und strich ihrem Wächter einmal über die Wange. Sie war eiskalt und weißer als das Weiß um sie herum… Er sah dabei zu, wie sie von den kristallenen Schneeflocken in der Ferne verschluck wurde. Man wäre nur noch fähig, das kohlrabenschwarze Haar im Nebel auszumachen.

- Fin -